Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 03.02.1982, Az.: 3 Ws 378/81 (StrVollz)

Gewährung der Einsicht in Gefangenenpersonalakten

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
03.02.1982
Aktenzeichen
3 Ws 378/81 (StrVollz)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1982, 17771
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1982:0203.3WS378.81STRVOLLZ.0A

Fundstelle

  • NJW 1982, 2083 (Volltext mit amtl. LS)

Verfahrensgegenstand

Einsicht in die Gefangenenpersonalakten

In der Strafvollzugssache
...
hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin
gegen den Beschluß der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ... bei dem Amtsgericht ... vom 22. Oktober 1981
nach Anhörung des Präsidenten des Justizvollzugsamts
durch
den Richter am Oberlandesgericht ...
den Richter am Oberlandesgericht ... und
den Richter am Amtsgericht ...
am 3. Februar 1982
beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluß wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.

Der Geschäftswert beträgt für beide Instanzen 1.000 DM.

Gründe

1

Der Anstaltsleiter hat es abgelehnt, dem Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin Einsicht in ihre Gefangenenpersonalakten zu gewähren, weil es sich um verwaltungsinterne Akten handele, in die Einsicht nicht gewährt werde. Der Präsident des Justizvollzugsamts hat den Widerspruch mit der Begründung zurückgewiesen, Einsicht könne nur in diejenigen Teile der Gefangenenpersonalakten gewährt werden, die sich auf einen abgelehnten Antrag bezögen oder sonst zur Geltendmachung rechtlicher Interessen eingesehen werden müßten; unbeschränkte Einsicht könne nicht gewährt werden. Mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat die Antragstellerin die Verpflichtung des Anstaltsleiters begehrt, ihr über ihren Anwalt Einsicht in die Aktenteile zu gewähren, die die Freigangsregelung, den Vollzugsplan und die Voraussetzungen für ein Gnadengesuch betreffen. Daraufhin hat der Anstaltsleiter ihrem Verfahrensbevollmächtigten "eine Reihe" von Ablichtungen aus den Gefangenenpersonalakten zukommen lassen. Gleichwohl hat die Antragstellerin weiterhin begehrt, ihrem Verfahrensbevollmächtigten die dem Gericht vorgelegten Akten zu übersenden. Die Strafvollstreckungskammer hat den Antrag zurückgewiesen. Die Rechtsbeschwerde rügt die Verletzung des Art. 103 GG und des § 147 StPO durch die Weigerung, die dem Gericht vorgelegten Gefangenenpersonalakten dem Verfahrensbevollmächtigten zugänglich zu machen. Mit dieser Verfahrensrüge greift das Rechtsmittel durch.

2

Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil sie dem Senat die Möglichkeit gibt, zur Fortbildung des Rechts zu der Frage der Abgrenzung der Voraussetzungen auf Einsicht in die Gefangenenpersonalakten von dem Anspruch nach §§ 120 Abs. 1 StVollzG, 147 StPO auf Einsicht in die dem Gericht vorliegenden Akten durch den Verfahrensbevollmächtigten Stellung zu nehmen. Darüber hat, soweit ersichtlich, bisher noch kein Oberlandesgericht entschieden.

3

Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Verfahren der Strafvollstreckungskammer verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG und §§ 120 StVollzG, 147 StPO.

4

1.

Dem Verfahrensbevollmächtigten des Strafgefangenen steht in dem gerichtlichen Verfahren nach §§ 109 ff StVollzG ein Akteneinsichtsrecht zu, das demjenigen entspricht, welches dem Verteidiger im Strafverfahren nach § 147 StPO eingeräumt ist. Der Senat, der diese Frage in seiner Entscheidung vom 8.5.1980 - 3 Ws 142/80 (StrVollz) - (abgedruckt in ZfStrVo 1981, 63) offengelassen hat, schließt sich insoweit dem OLG Koblenz (ZfStrVo 1981, 61 und Strafverteidiger 1981, 286) an (siehe auch LG Augsburg in NJW 1980, 465 mit Anm. Haß). Die entsprechende Anwendbarkeit des § 147 StPO folgt aus § 120 Abs. 1 StVollzG. Das Strafverfahren und das gerichtliche Strafvollzugsverfahren sind jedenfalls im Hinblick auf das Akteneinsichtsrecht des bevollmächtigten Anwalts miteinander vergleichbar. Schon deshalb kommt eine nach dem Strafvollzugsgesetz nicht vorgesehene entsprechende Anwendung der §§ 28, 29 VwVfG oder §§ 99, 100 VwGO nicht in Betracht, wie sie Joester (Strafverteidiger 1981, 80) vorschlägt.

5

2.

Zu den Aktenbestandteilen, in die der Verteidiger im Strafverfahren nach S 147 StPO umfassend Einsicht nehmen kann, gehören - außer den mit der Anklageschrift vorgelegten Akten alle vom Gericht und der Staatsanwaltschaft herangezogenen oder nachgereichten Beiakten (vgl. BGHSt 30, 131; RGSt 42, 291). Ausgenommen sind aber die Beiakten, welche die Behörde, der das Verfügungsrecht über sie zusteht, etwa unter Hinweis auf § 96 StPO oder aus sonstigen Gründen nur mit dem Vorbehalt überlassen hat, sie vertraulich zu behandeln und dem Verteidiger nicht zugänglich zu machen (vgl. RG a.a.O. und RGSt 72, 268; Dünnebier in LR 23. Aufl., § 147 Rdnr. 5; a.A. ohne nähere Begründung Müller in KMR 7. Aufl., § 147 Rdnr. 3). Einen solchen Vorbehalt muß das Gericht beachten. Es darf von den Akten keinen dem Vorbehalt zuwiderlaufenden Gebrauch machen (RGSt 42, 291, 292). Aus dem Verfügungsrecht der Behörde, die mit derselben Begründung die Übersendung der angeforderten Akten überhaupt verweigern könnte, folgt die Befugnis, Bestimmungen über die Verwendung der übersandten Akten zu treffen (RGSt 72, 268, 271). Diese bereits im Jahre 1909 festgelegten Grundsätze gelten noch heute; sie entsprechen dem Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung. Im Strafprozeß hat das Gericht selbst keine Möglichkeit, sich gegen die Verweigerung der Aktenübersendung oder den Vorbehalt der Nichtweitergabe überlassener Akten zu wehren außer der Gegenvorstellung oder, der Anregung zur Überprüfung durch den Dienstvorgesetzen. Die Prozeßbeteiligten hingegen können im Verwaltungsrechtsweg oder im Verfahren nach §§ 23 ff EGGVG die unbeschränkte Herausgabe der Akten geltend machen (vgl. Kleinknecht StPO, § 96 Rdnr. 5). Sollte ein Verfahrensbeteiligter diesen Rechtsweg beschreiten, so wird gegebenenfalls das Strafverfahren bis zu einer dort ergehenden Entscheidung auszusetzen sein.

6

Die Weigerung der Behörde, die dem Gericht übersandten Akten dem Verteidiger zugänglich zu machen, führt dazu, daß auch das Gericht sie nicht verwenden darf. Das gebietet die Verpflichtung, dem Angeklagten rechtliches Gehör zu gewähren (Art. 103 Abs. 1 GG). Verwertet das Gericht dennoch die Akten, ohne dem Verteidiger die beantragte Einsicht gewährt zu haben, so liegt darin gleichzeitig ein Verstoß gegen § 147 StPO (vgl. RGSt 72, 268, 273).

7

3.

Diese Grundsätze gelten entsprechend für das gerichtliche Verfahren nach §§ 109 ff StVollzG, in dem - wie hier - die Gefangenenpersonalakten des Antragstellers zu Beweiszwecken (hier zur Nachprüfung der Vollständigkeit der bereits in Ablichtung übergebenen Aktenteile) herangezogen worden sind, die Vollzugsbehörde aber die Weitergabe an den Verfahrensbevollmächtigten verweigert. Der Vorbehalt wird durch das verfügungsrecht der Vollzugsbehörden gedeckt. Wie im Strafverfahren kann sich auch hier das Gericht nicht eigenmächtig über ihn hinwegsetzen. Nur der Strafgefangene kann die Berechtigung der Weigerung, die Gefangenenpersonalakten seinem Verfahrensbevollmächtigten zukommen zu lassen, in einem - gesonderten - Verfahren überprüfen lassen. Für dieses Verfahren ist allerdings nicht der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten oder nach §§ 23 ff EGGVG sondern derjenige nach §§ 109 ff StVollzG gegeben. Denn die Weigerung der Vollzugsbehörde ist ebenso eine Vollzugsmaßnahme wie die Ablehnung der Einsicht in die eigenen Gefangenenpersonalakten in sonstigen Fällen. Die Vollzugsbehörden werden bei der ihnen obliegenden Ermessensentscheidung in besonderem Maße das Interesse des Antragstellers, ihm und dem Gericht Beweismittel für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der im Streit befindlichen Maßnahme an die Hand zu geben, zu berücksichtigen und gegenüber etwaigen Geheimhaltungsbedürfnissen abzuwägen haben. Der Umstand, daß in diesem (Zwischen-) Verfahren ebenfalls die Strafvollstreckungskammer, möglicherweise derselbe Richter, zu entscheiden hat, macht es nicht entbehrlich; denn für die Anfechtung der Entscheidung der Vollzugsbehörde muß der volle Rechtsweg einschließlich der Rechtsbeschwerde gegeben sein.

8

In dem (Zwischen-) Verfahren kann nun erneut ein Widerstreit auftreten zwischen dem Bedürfnis, bestimmte Vorgänge in den Gefangenenpersonalakten vor dem Antragsteller geheim zu halten, und dem Interesse des Antragstellers und des Gerichts an der Aufklärung gerade dieser Vorgänge. Die gerichtliche Aufklärungspflicht kann es gebieten, im Rahmen der Überprüfung der tatsächlichen Grundlagen für die Ermessensentscheidung der Vollzugsbehörde darüber Beweis zu erheben, ob es überhaupt Geheimhaltungsgründe gibt, die die Behörde geltend macht. Eine Beweisaufnahme durch Beiziehung der Akten kommt nicht in Betracht, weil dann deren Inhalt auch dem Antragsteller und seinem Verfahrensbevollmächtigten zur Kenntnis gegeben werden müßte (siehe oben) und damit bereits das vom Antragsteller erstrebte Ziel, über das in dem Verfahren erst entschieden werden soll, vorweggenommen werden würde. Die Behörde kann nicht auf diese Weise gezwungen werden, vor einer rechtskräftigen Entscheidung das preiszugeben, was sie für geheimhaltungsbedürftig halt. § 99 Abs. 2 VwGO, nach dem die in einem besonderen Verfahren überprüfbare Glaubhaftmachung der Voraussetzungen für die Verweigerung der Aktenvorlage durch die oberste Aufsichtsbehörde ausreicht, kommt hier nicht zur Anwendung. Sie ist im Strafvollzugsgesetz nicht vorgesehen. Eine Notwendigkeit zur entsprechenden Anwendung des § 99 VwGO im Strafvollzugsverfahren besteht nicht. Das Gericht kann sich auf andere Weise als durch Einsicht in die Gefangenenpersonalakten davon überzeugen, ob die geltend gemachten Geheimhaltungsgründe vorliegen, z.B. durch Einholung dienstlicher Äußerungen oder Zeugenvernehmung des Anstaltsleiters oder anderer informierter Personen.

9

4.

Hier hat die Strafvollstreckungskammer gegen Art. 103 Abs. 1 GG und §§ 120 Abs. 1 StVollzG, 147 StPO verstoßen, weil sie, ohne dem Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin zuvor die beantragte Einsicht gegeben zu haben, die Gefangenenpersonalakten verwertet und aus ihnen festgestellt hat, daß die Antragstellerin von sämtlichen interessierenden Aktenteilen Ablichtungen erhalten hat. Auf diesem Verstoß kann die Entscheidung beruhen, weil nicht auszuschließen ist, daß die Antragstellerin nach Einsichtnahme weitere Aktenteile bezeichnet hätte, an denen ihr gelegen ist.

10

5.

Für die neue Entscheidung seien folgende Hinweise gegeben:

11

a)

Die Gefangenenpersonalakten befinden sich nicht mehr bei den Gerichtsakten. Ein Anspruch der Antragstellerin, sie einzusehen, kann deshalb nicht mehr auf §§ 120 Abs. 1 StVollzG, 147 StPO oder Art. 103 Abs. 1 GG gestützt werden (vgl. BGHSt 30, 131, 141).

12

b)

Die Aufklärungspflicht des Gerichts oder ein Beweisantrag der Antragstellerin können es allerdings notwendig machen, die Vollzugsbehörde um erneute Übersendung der Gefangenenpersonalakten oder von Teilen aus ihnen zu ersuchen. Sollte die Überlassung an den Verfahrensbevollmächtigten weiterhin verweigert werden, so wird die Strafvollstreckungskammer prüfen müssen, ob zur Klärung der Frage, ob sich bei den Akten außer den bereits in Ablichtung übergebenen Aktenteilen weitere zur ordnungsgemäßen Durchsetzung der Vorhaben der Antragstellerin (Freigangsregelung, Vollzugsplan, Gnadengesuch) erforderliche Unterlagen befinden, eine dienstliche Äußerung des Anstaltsleiters oder seine Vernehmung als Zeuge genügen. Diese alternative Beweisführung könnte eine sonst etwa notwendige Aussetzung des Verfahrens bis zur gerichtlichen Klärung der Frage entbehrlich machen, ob die Weigerung, dem Verfahrensbevollmächtigten Akteneinsicht zu gewähren, berechtigt ist.