Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 29.08.1997, Az.: L 1 An 192/96
Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit bei einer Friseuse mit Krampfaderbildung im Bereich des rechten Beines; Zulässigkeit der Verweisungstätigkeit der Rezeptionistin bei Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit einer Friseuse mit Krampfaderbildung im Bereich des Beines
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 29.08.1997
- Aktenzeichen
- L 1 An 192/96
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1997, 14638
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:1997:0829.L1AN192.96.0A
In dem Rechtsstreit hat
der 1. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 29. August 1997
durch
den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht L.,
den Richter am Landessozialgericht W.
den Richter am Landessozialgericht H. sowie
die ehrenamtlichen Richter N. und W.
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Unter den Beteiligten ist die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit streitig.
Die am 17. März 1940 geborene Klägerin hat nach eigenen Angaben den Beruf der Friseuse erlernt und bis 1966 in diesem Beruf gearbeitet. Wegen einer Krampfaderbildung im Bereich des rechten Beines mußte sie den Beruf angeblich aufgeben. Von 1966 bis 1970 war sie als Sachbearbeiterin (Datentypistin) im öffentlichen Dienst und von 1975 bis Juni 1991 als Sekretärin/Bürohilfe im Betrieb ihres Ehemannes tätig. Vom 1. Juli 1991 bis zum 7. Juli 1991 arbeitete sie angestelltenversicherungspflichtig als Kassiererin in der Gastronomie einer BAB-Gaststätte.
Im April 1992 (Eingang bei der Beklagten) beantragte die Klägerin die Gewährung einer Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit wegen Wirbelsäulenbeschwerden. Die Beklagte veranlaßte das Gutachten des Orthopäden Dr. O., H. vom 10. Dezember 1993. Der Gutachter diagnostizierte:
- 1.
Osteoporose,
- 2.
Sacroileitis rechts,
- 3.
Wirbelsäulenfehlstellung bei Beckenschiefstand,
- 4.
cervicale Gefügestörung mit Spondylosen und HWS-Syndrom,
- 5.
chronifizierte Epicondylitis radialis bds. und
- 6.
Patelladysplasie mit Chondropathia patellae bds.
Er hielt die Klägerin als Kassiererin nicht mehr für einsetzbar. Leichte körperliche Arbeiten ohne Zwangshaltung, vorwiegend im Sitzen, mit der Möglichkeit zwischenzeitlich aufzustehen, ohne volle Belastbarkeit der oberen Extremitäten erachtete der Gutachter noch vollschichtig für möglich. Nach Anhörung ihres berufskundlichen Beraters S. (Stellungnahme vom 17.02.1994) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. Februar 1994 die Gewährung einer Rente mit der Begründung ab, die Klägerin könne noch vollschichtig als Telefonistin arbeiten. Auf den Widerspruch der Klägerin gegen diesen Bescheid holte die Beklagte den Befundbericht des HNO-Arztes Dr. L. vom 8. Juli 1994 ein. Der Arzt bestätigte einen leichten bis mittelgradigen Hörverlust von 30 dB rechts und 50 dB links. Mit Widerspruchsbescheid vom 7. November 1994 wies die Widerspruchsstelle der Beklagten sodann den Widerspruch zurück, weil die Klägerin noch nicht berufsunfähig sei.
Im anschließenden auf die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit beschränkten Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) H. den weiteren Befundbericht des Dr. L. vom 7. August 1995 und das HNO-ärztliche Gutachten des Ltd. Arztes Dr. W., H., vom 30. Januar 1996 eingeholt. Der Sachverständige hat eine geringgradige sensoneurale Hörstörung rechts sowie eine ebensolche kombinierte Hörstörung links festgestellt und ausgeführt, auf hno-ärztlichem Fachgebiet ergebe sich keine die Leistungsfähigkeit einschränkende Gesundheitsstörung. Tätigkeiten als Telefonistin und kaufmännische Angestellte seien hierdurch nicht beeinflußt. Das SG hat zusätzlich noch den Befundbericht des Dr. O. vom 13. Mai 1996 und das orthopädische Gutachten des Dr. S., S., vom 19. Juli 1996 eingeholt. Der Sachverständige Dr. Seehausen hat die folgenden Gesundheitsstörungen festgestellt:
- 1.
Osteoporose,
- 2.
Pseudoradikuläres Cervikobrachialsyndrom bei beginnender HWS-Degeneration,
- 3.
belastungsabhängige Reizzustände rechts, Kniegelenk ohne strukturelle Befunde,
- 4.
wiederkehrendes LWS-Syndrom bei Bandscheibendegeneration L4/L5.
Zum Leistungsvermögen hat der Sachverständige ausgeführt: Die vom ihm erhobenen klinischen und röntgenologischen Befunde hätten keine Abweichungen gegenüber den von Dr. O. erhobenen ergeben. Die Leistungsfähigkeit sei insoweit dauerhaft eingeschränkt, als nur noch leichte Arbeiten regelmäßig und vollschichtig verrichtet werden könnten. Mit Heben und Tragen von Lasten über 10 kg und mit häufigem Bücken oder häufigen körperlichen Zwangshaltungen verbundene Tätigkeiten sowie solche in ausschließlich einer Körperhaltung seien nicht mehr zumutbar. Tätigkeiten als Telefonistin und kaufmännische Angestellte seien bei Beachtung der genannten qualitativen Einschränkungen zumutbar.
Mit Urteil vom 23. Oktober 1996 hat das SG H. die Klage abgewiesen und ausgeführt: Die Klägerin könne den erlernten Beruf der Friseurin aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben. Obwohl sie in diesem Beruf Berufsschutz genieße, sei sie nicht berufsunfähig, weil sie noch medizinisch und sozial auf Tätigkeiten einer Kassiererin an einer Sammelkasse in einem Kaufhaus verwiesen werden könne.
Gegen dieses ihr am 18. November 1996 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 18. Dezember 1996 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Sie meint, die Tätigkeit als Kassiererin an einer Sammelkasse eines Kaufhauses scheide aus, weil es ihr insoweit an der erforderlichen Umstellungsfähigkeit mangele. Die Beklagte hat im Verlauf des Berufungsverfahrens den weiteren Rentenantrag der Klägerin (wegen Erwerbsunfähigkeit) mit Bescheid vom 15. Mai 1997 ablehnend beschieden. - Die Klägerin hat einen Befundbericht des Orthopäden Dr. O. vom 8. April 1997 vorgelegt.
Die Klägerin beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts H. vom 23. Oktober 1996 und den Bescheid der Beklagten vom 24. Februar 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. November 1994 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Dauer ab 1. Mai 1992, hilfsweise auf Zeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat die berufskundliche Stellungnahme des Sachverständigen K. vom 9. Mai 1997, die dieser in einem anderen im Senat anhängigen Rechtsstreit (Az.: L 1 Ran 19/97) abgegeben hat, und die Auskunft der Firma K. AG vom 18. September 1996 und des Organisationsleiters bei der K. AG D.W. vom 28. November 1991 in diesen Rechtsstreit eingeführt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozeßakten und die Rentenakten der Beklagten, die dem Senat vorgelegen haben, Bezug genommen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß den §§ 143 f SGG statthafte Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 24. Februar 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. November 1994 erweist sich nicht als rechtswidrig. Das SG hat zutreffend entschieden, daß der Klägerin ein Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit noch nicht zusteht.
Nach § 43 Abs. 2 SGB VI sind berufsunfähig Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Bei der Beurteilung, ob diese gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der der Senat folgt, in der Regel vom bisherigen Beruf des Rentenbewerbers, d. h. von seiner letzten versicherungspflichtigen und versicherten Beschäftigung oder Tätigkeit auszugehen. Von dieser letzten versicherungspflichtigen Tätigkeit ist auch bei nur kurzfristiger Ausübung auszugehen, wenn sie zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten gewesen ist. Eine Lösung von der bisherigen Berufstätigkeit ist grundsätzlich rechtlich unerheblich und führt nicht zum Verlust des Berufsschutzes, wenn der Versicherte diese Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann, weil dann gerade solche Gründe zur Lösung geführt haben, für die die gesetzliche Rentenversicherung einzustehen hat (BSG SozR 3-2200, § 1246 Nr. 38).
Bisheriger Beruf der Klägerin im vorgenannten Sinne ist - zwischen den Beteiligten auch unstreitig - der der Friseurin, den sie erlernt und bis 1966 ausgeübt hat, aber nach eigenen allerdings unbewiesenen Angaben aus gesundheitlichen Gründen aufgeben mußte. Der Senat geht von der Richtigkeit dieser Angaben aus. Diesen Beruf kann die Klägerin nicht mehr verrichten, wovon auch die Beklagte und das SG ausgegangen sind. Die Gesundheitsstörungen der Klägerin im Bereich des Skelettsystems, wie sie zuletzt von Dr. S. in seinem Gutachten vom 19. Juli 1996 festgestellt worden sind, verbieten Arbeiten in ständigem Stehen und in Zwangshaltung und lassen eine Tätigkeit als Friseur in nicht mehr zu.
Da die Klägerin ihren bisherigen Beruf nicht mehr vollwertig ausführen kann, ist zu prüfen, ob für sie eine zumutbare Verweisungstätigkeit in Betracht kommt. Das ist vorliegend der Fall. Die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit bestimmt sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Zu deren Beurteilung hat die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ein Mehrstufenschema entwickelt, das von der Bedeutung, der Dauer und dem Umfang der Ausbildung Schlüsse auf die Qualität eines Berufs zieht. Unterschieden werden danach folgende Leitberufe: Angestellte mit hoher beruflicher Qualität, die regelmäßig eine akademische oder eine vergleichbare Qualifikation voraussetzt und mit einem Bruttoarbeitsentgelt oberhalb, an oder in der Nähe unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze, Angestellte mit einer längeren als zweijährigen (regelmäßig dreijährigen) Ausbildung, Angestellte mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren und unausgebildete Angestellte. Zumutbar ist Versicherten dabei grundsätzlich eine Verweisung auf Berufe derselben Stufe und der im Vergleich zum bisherigen Beruf nächst niedrigeren Stufe. Ausgehend von der überzeugenden Leistungsbeurteilung des Sachverständigen Dr. S. nach der die Klägerin noch vollschichtig leichte Arbeiten verrichten kann, die nicht mit Heben und Tragen von Lasten über 10 kg, mit häufigem Bücken oder häufigen Zwangshaltungen sowie einseitiger Körperhaltung verbunden sind, kann die Klägerin zumutbar auf die Verweisungstätigkeit der Rezeptionist in verwiesen werden. Letzteres schließt der Senat aus der berufskundlichen Stellungnahme des Sachverständigen K vom 9. Mai 1997, die in dieses Verfahren eingeführt worden ist. Danach gehört zu den wichtigen Aufgaben der Rezeptionistin die Absprache von Terminen mit Kunden, d. h. die Absprache, wer die Kunden und wann bedienen soll. Zu den weiteren Aufgaben gehört der Empfang und die Betreuung der Kunden, der Telefondienst, die Kassierertätigkeit, die Betreuung der Kundenkartei, der Verkauf von Kosmetikartikeln und die Beratung und Entgegennahme von Reklamationen. Arbeitsplätze für Rezeption ist innen gibt es nach Angaben des Sachverständigen in Großunternehmen und Friseurketten, in Hotels und Krankenhäusern. Die Rezeptionistin wird zufolge des Sachverständigen wie eine gelernte Friseurin bezahlt und muß nicht Meisterin sein. Der Senat folgt dem berufskundlichen Sachverständigen. Die Klägerin kann sich nicht darauf berufen, sie habe nach über 20 Jahren nicht mehr die Kenntnisse und Fähigkeiten der Frisörin, um den Verweisungsberuf der Rezeptionistin auszuüben (BSG in SozR 3-2200 § 1246 Nr. 35 RVO).
Ist die Klägerin nach alledem auf einen Beruf derselben Stufe zu verweisen, so kann die Berufung keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Es bestand kein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).