Finanzgericht Niedersachsen
Beschl. v. 20.07.2015, Az.: 16 V 132/15

Bestehen ernsthafter Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 19 UStG im Hinblick auf Umsatzsteuer für die Erbringung von Bauleistungen

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
20.07.2015
Aktenzeichen
16 V 132/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 27871
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2015:0720.16V132.15.0A

Fundstellen

  • GStB 2016, 17
  • MwStR 2016, 54

Amtlicher Leitsatz

Es bestehen ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 19 UStG.

Gründe

I.

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Antragstellerin nach dem Erlass des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22. August 2013 V R 37/10, BStBl. II 2014, 128 für die Streitjahre 2011 und 2012 Umsatzsteuer für die Erbringung von Bauleistungen an die S KG in S (KG) schuldet, obwohl Antragstellerin und KG bei Abrechnung dieser Leistungen übereinstimmend davon ausgegangen waren, dass die KG als Leistungsempfängerin die Umsatzsteuer nach § 13 b Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 und Abs. 5 Umsatzsteuergesetz (UStG) i. V. m. Abschn. 13 b. 1. Satz 1, Abs. 3 und 11 des Umsatzsteueranwendungserlasses 2010 (UStAE) schulde.

Die Antragstellerin betreibt einen Betrieb der Planung, Errichtung und Betreuung von Heizungs-, Lüftungs- und sanitären Anlagen aller Art in S. In den Streitjahren 2011 und 2012 erbrachte sie u. a. drei Bauleistungen gegenüber der KG. Mit Rechnungen wurde über netto 2.118,91 € für 2011 und 588,70 € für 2012 abgerechnet. Die von der Antragstellerin erteilten Rechnungen enthielten mit Hinweis auf die Steuerschuldnerschaft der KG als Leistungsempfängerin nach § 13 b UStG keine offen ausgewiesene Umsatzsteuer. Die KG erklärte die auf die Umsätze entfallende Umsatzsteuer bei ihrem zuständigen Finanzamt und führte die Beträge ab.

Mit Schreiben vom xx. März 2014 beantragte die KG bei dem für sie zuständigen Finanzamt unter Berufung auf das Urteil des BFH vom 22. August 2013 V R 37/10, nicht mehr Steuerschuldnerin für diesen Umsatz zu sein, die Umsatzsteuerfestsetzungen für 2010 und 2011 zu ändern und die entrichteten Steuerbeträge zu erstatten. Nachdem das für die KG zuständige Finanzamt diesen Sachverhalt mit Schreiben vom xx. Oktober 2014 dem Antragsgegner mitgeteilt hatte, wurde die Antragstellerin mit Schreiben vom xx. November 2014 darauf hingewiesen, dass sie nunmehr diesen Umsatz als leistender Unternehmer zu versteuern habe. Weiterhin habe die Antragstellerin nach Auffassung des Antragsgegners Rechnungen nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG mit gesondertem Ausweis der gesetzlichen Umsatzsteuer zu erstellen. Die Antragstellerin wurde ferner darauf hingewiesen, dass sie die sich aus den berichtigten Rechnungen gegenüber der KG entstehenden Ansprüche auf Zahlung der Umsatzsteuer an den Antragsgegner abtreten könne.

Da in der Folgezeit die Antragstellerin auf dieses Schreiben nicht reagierte, erließ der Antragsgegner am xx. April 2015 für die beiden Streitjahre nach § 164 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) geänderte Umsatzsteuerbescheide, wobei er die steuerbaren und steuerpflichtigen Umsätze zum allgemeinen Steuersatz um 2.118,91 € bzw. 588,70 € erhöhte. Mit den beiden Änderungsbescheiden wurden die Umsatzsteuererklärungen der Antragstellerin geändert, die beim Antragsgegner am xx. Juli 2012 und xx. Januar 2014 eingegangen waren.

Gegen diese Bescheide erhob die Antragstellerin Einspruch. Zur Begründung wies sie darauf hin, dass sie sich auf die Vertrauensschutzregelung in § 176 Abs. 2 AO berufen könne. Die Regelung des § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG n. F. stelle eine verfassungsrechtlich unzulässige Regelung mit Rückwirkung dar. Hätte der Antragsgegner zeitnah nach der Veröffentlichung über die Frage der Inanspruchnahme der Subunternehmer aufgrund der neuen Rechtsprechung des BFH entschieden, so wäre der in § 176 Abs. 2 AO geregelte Vertrauensschutz unstreitig einschlägig gewesen. Es sei nicht zumutbar, dass dem Unternehmer durch die Neuregelung das wirtschaftliche Risiko aufgebürdet werde, wenn sein Leistungsempfänger entweder zahlungsunfähig geworden sei oder aber die Einrede der Verjährung erhebe. Über den Rechtsbehelf hat der Antragsgegner noch nicht entschieden.

Den am xx. Mai 2015 gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der beiden angefochtenen Verwaltungsakte lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom xx. Juni 2015 ab. Nach § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG n. F. seien die ursprünglichen Steuerfestsetzungen für die beiden Streitjahre zwingend zu ändern. Ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung bestünden nicht. Im Streitfall seien überdies individuelle Belange der Antragstellerin (Vermeidung irreparabler persönlicher oder wirtschaftlicher Nachteile infolge der Steuerzahlung), die fiskalischen Erwägungen (Interesse an einer geordneten Haushaltsführung) vorgingen, nicht erkennbar. Von der Möglichkeit der Abtretung habe die Antragstellerin keinen Gebrauch gemacht.

Mit ihrem bei Gericht gestellten Eilantrag verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren weiter. Das Finanzgericht Berlin-Brandenburg habe mittlerweile erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Neuregelung in § 27 Abs. 19 UStG geltend gemacht (Beschluss vom 3. Juni 2015 5 V 5026/15, Rdnr. 11 ff.). Selbst wenn man diese Zweifel nicht teilte, müsse die Finanzverwaltung den von ihr erstellten Entwurf einer Abtretungsvereinbarung so ausgestalten, dass das wirtschaftliche Risiko einer Uneinbringlichkeit der abgetretenen Forderung auf sie übergehe.

Die Antragstellerin beantragt,

die Vollziehung der Umsatzsteuerbescheide 2011 und 2012 vom xx. April 2015 ohne Sicherheitsleistung bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens auszusetzen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Trotz des mittlerweile vorliegenden Beschlusses des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg bestünden keine ernsthaften Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 19 UStG n. F. Im Übrigen stelle sich die Frage, ob ein Bauleistender sich auf den in § 176 Abs. 2 AO geregelten Vertrauensschutz berufen könne, wenn er die Möglichkeit habe, den damaligen Leistungsempfänger nachzubelasten. Eine Einrede der Verjährung sei unbeachtlich, weil die dreijährige Verjährungsfrist nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) erst dann beginne, wenn er von seinem Finanzamt davon Kenntnis erlange, dass die Regelung des § 13 b UStG nicht anwendbar sei.

II.

Der Antrag ist für das Streitjahr 2011 begründet, für das Streitjahr 2012 dagegen nicht.

Die Aussetzung der Vollziehung soll gemäß § 69 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 3 Satz 1 zweiter Halbsatz FGO erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes bestehen, wenn bei summarischer Prüfung neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung; vgl. BFH, Beschlüsse vom 19. März 2014 V B 14/14, BFH/NV 2014, 999 und vom 19. März 2014 III S 22/13, BFH/NV 2014, 856 jeweils mit weiteren Nachweisen).

Nach summarischer Prüfung des derzeitigen Sach- und Streitstandes bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheids für 2011, weil dieser ohne Beachtung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes nach § 176 Abs. 2 AO erlassen worden ist. In diesem Zusammenhang ist fraglich, ob die Suspendierung des § 176 AO durch § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG n. F. verfassungsgemäß ist. Die Prüfung dieser Frage bleibt einem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Nach § 176 Abs. 2 AO darf bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift einer obersten Bundesbehörde von einem obersten Gerichtshof des Bundes als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist. Unstreitig unterfällt der UStAE als Verwaltungsvorschrift des Bundesfinanzministeriums dem sachlichen Anwendungsbereich, durch das Urteil des BFH vom 22. August 2013 V R 37/10 wurden für den Streitfall entscheidende Regelungen als mit dem geltenden Recht unvereinbar bezeichnet. Mit dem angefochtenen Umsatzsteuerbescheid 2011 wurde die Umsatzsteuerjahreserklärung 2011 vom xx. Juli 2012 nach § 164 Abs. 2 AO geändert. Die Einschränkung der Änderungsbefugnis nach § 176 Abs. 2 AO ist auch bei der Änderung einer Steuerfestsetzung zu beachten, die auf einer Steueranmeldung beruht (BFH, Urteile vom 28. September 1987 VIII R 154/86, BStBl. II 1988, 40 und vom 2. November 1989 V R 56/84, BStBl. II 1990, 253).

Nach Auffassung des Senats ist ernstlich zweifelhaft, ob die rückwirkende Änderung der Steuerfestsetzung beim leistenden Unternehmer unter Suspendierung des Vertrauensschutzes nicht gegen das Verbot der Rückwirkung von Gesetzen verstößt, welches aus dem in Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) abgeleitet wird. Dies hätte zur Folge, dass zumindest § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG n. F. unwirksam wäre. Zur weiteren Begründung dieser ernsthaften Zweifel verweist das Gericht an dieser Stelle auf die Ausführungen in dem Beschluss des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 3. Juni 2015 5 V 5026/15, Rdnr. 11 ff. und die Ausführungen in seinen Beschlüssen vom 3. Juli 2015 16 V 95/15 und vom 13. Juli 2015 16 V 128/15, beide n. v.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass durch die Anwendung der Neuregelung im Streitfall es hinsichtlich der Umsatzsteuer 2011 mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu einem unverhältnismäßigen Vermögensschaden kommen dürfte, weil die KG sich zulässigerweise auf die Einrede der Verjährung berufen könnte und der Antragsgegner nach der ermessenslenkenden Verwaltungsvorschrift im BMF-Schreiben vom 31. Juli 2014 IV D 3 - S 7279/11/10002 (BStBl. I 2014, 1073, Tz. 8) zu § 27 Abs. 19 Satz 4 UStG n. F. eine von der Antragstellerin angebotene Abtretung mangels Durchsetzbarkeit der Forderung mit großer Wahrscheinlichkeit nicht annehmen dürfte. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners beginnt die zivilrechtliche Verjährungsfrist von drei Jahren nicht erst in dem Moment, wenn die Antragstellerin erfährt, dass die bislang vorgenommene Besteuerung ihrer Bauleistungen durch die KG rechtlich unzulässig ist. Nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB beginnt die Verjährungsfrist zwar erst dann, wenn der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste. Unter derartige Umstände fallen aber nur die für die Anspruchsbegründung erforderlichen Tatsachen. Rechtsirrtümer, wie im Streitfall hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs des § 13 b UStG, hindern den Verjährungsbeginn nicht (vgl. Ellenberger, in: Palandt, BGB, 73. Aufl. 2014, § 199 Rdnr. 27 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs). Ob durch die Änderung der Rechtsprechung des BFH und die Neuregelung in § 27 Abs. 19 UStG n. F. eine Störung der Geschäftsgrundlage i. S. d. § 313 Abs. 1 BGB eingetreten ist, ist ebenfalls zweifelhaft, weil nur wesentliche Erhöhungen der Aufwendungen des einen Vertragspartners zum Überschreiten der einvernehmlich geregelten Risikobereiche führen können (vgl. Grüneberg, in: Palandt, BGB, § 313 Rdnr. 34, 27, 31 m. w. N.).

Die Aussetzung der Vollziehung ist ohne Sicherheitsleistung zu gewähren, weil der Antragsgegner keine Gesichtspunkte vorgetragen hat, aus denen sich ergeben würde, dass die geltend gemachten Steueransprüche gefährdet seien.

Für das Streitjahr 2012 ergeben sich dagegen keine erheblichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Umsatzsteuerbescheids, weil § 176 Abs. 2 AO der Antragstellerin keinen Vertrauensschutz zukommen lassen kann.

"Bei einer Änderung eines Steuerbescheids" kann eine höchstrichterliche Rechtsprechung, die eine allgemeine Verwaltungsvorschrift einer obersten Bundesbehörde als mit dem geltenden Recht nicht vereinbar bezeichnet, nur berücksichtigt werden, wenn sie zum Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsbescheids bereits besteht und in der Zeit zwischen dem Erlass des ursprünglichen Bescheids und dem Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsbescheids ergangen ist (so ausdrücklich BFH, Urteil vom 20. Dezember 2000 I R 50/95, BStBl. II 2001, 409; vom 11. Oktober 1988 VIII R 419/83, BStBl. II 1989, 283; FG Düsseldorf, Urteil vom 12. Dezember 2011 9 K 1165/11 F, IStR 2012, 186 = Rdnr. 34). Die Umsatzsteuerjahreserklärung 2012 der Antragstellerin ist erst am xx. Januar 2014 beim Antragsgegner eingegangen und als Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung wirksam geworden, während das Urteil des BFH vom 22. August 2013 V R 37/10 noch Ende 2013 in diversen Fachzeitschriften veröffentlich worden ist (u. a. DStR 2013, 2560; DB 2013, 2778[BFH 22.08.2013 - V R 37/10]; MwStR 2013, 777; StEW 2013, 8).

Eine unbillige und nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte liegt vor, wenn der Antragstellerin durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheides wirtschaftliche Nachteile drohen, die durch eine etwaige spätere Rückzahlung der eingezogenen Beträge nicht ausgeglichen werden oder nur schwer gutzumachen sind, oder wenn die Vollziehung zu einer Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz der Antragstellerin führen würde (BFH, Beschluss vom 26. Oktober 2011 I S 7/11, BFH/NV 2012, 583). Es ist insoweit erforderlich, dass die Antragstellerin ihre wirtschaftliche Lage im Einzelnen vorträgt oder glaubhaft macht (BFH, Beschluss vom 9. März 2012 VII B 185/11, BFH/NV 2012,999). Diesem Erfordernis ist die Antragstellerin nicht nachgekommen, auch nach Aktenlage sind entsprechende Hinweise nicht erkennbar.

Die Aussetzung der Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 2011 ist ohne Sicherheitsleistung zu gewähren, weil der Antragsgegner keine Gesichtspunkte vorgetragen hat, aus denen sich ergeben würde, dass die geltend gemachten Steueransprüche gefährdet seien.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO.