Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 21.12.1998, Az.: 2 B 2440/98

Anspruch auf uneingeschränkte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz; Keine Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache durch die Regelungsanordnung; Umfang der Grundleistungen für Asylbewerber; Kein Besitz jugoslawischer Reisepässe ist nicht für Nichtvollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen entscheidend

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
21.12.1998
Aktenzeichen
2 B 2440/98
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1998, 17631
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:1998:1221.2B2440.98.0A

Verfahrensgegenstand

Streitigkeiten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

Prozessführer

1. Herr ...

2. Frau ...

3. ...

4. ...

5. ...

6. ...

Prozessgegner

...

In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Göttingen - 2. Kammer - am 21. Dezember 1998
beschlossen:

Tenor:

Der Antragsgegner wird durch einstweilige Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für den Monat Dezember 1998 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in voller Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe bewilligt. Ihnen wird Rechtsanwalt ... aus ... beigeordnet.

Gründe

1

Die Antragsteller sind jugoslawische Staatsangehörige mit albanischer Volkszugehörigkeit und stammen aus dem Kosovo. Von dort kommend sind sie am 2. September 1998 ohne Aufenthaltsgenehmigungen und ohne im Besitz von Reisepässen zu sein in das Bundesgebiet eingereist. Inzwischen sind ihnen von dem Antragsgegner (als zuständiger Ausländerbehörde) Duldungen bis zum 31. Dezember 1998 erteilt worden.

2

Auf ihren Antrag vom 7. September 1998 stellte ihnen die namens und im Auftrag des Antragsgegners handelnde Stadt Einbeck neben Kostengarantiescheinen für Möbel, Hausrat usw. In Anwendung von § 1 a des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylblG) Wertgutscheine für Ernährung, Gebrauchsgüter und Körperpflege über insgesamt 997,50 DM aus; Barleistungen wurden nicht bewilligt. Während die Antragsteller vorangegangene Bescheide unanfechtbar werden ließen, erhoben sie gegen den (entsprechende Leistungen für den Monat November 1998 gewährenden) Bescheid vom 19. Oktober 1998 Widerspruch mit dem Ziel, uneingeschränkte Leistungen nach dem AsylblG zu erhalten, der noch nicht beschieden ist.

3

Am 11. November 1998 haben die Antragsteller um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht. Sie tragen vor: Prägend für ihre Ausreise aus dem Kosovo sei nicht der Wunsch gewesen, Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz zu erhalten, sondern die dort vorherrschende Bürgerkriegsgefahr; sie seien auch nicht dafür verantwortlich, dass ihnen gegenüber keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen durchgeführt werden könnten; zum einen hätten sie eine ausländerbehördliche Duldung erhalten, zum anderen würde derzeit die Fluggesellschaft JAT keine jugoslawischen Flughäfen bedienen; ihre Pässe hätten sie zu Hause liegenlassen, weil sie nach einem Granateneinschlag Hals über Kopf geflohen seien, zufällig habe sich in der Tasche der Antragstellerin zu 2 deren Heiratsurkunde befunden, die sie folglich mitgebracht habe; in ländlich geprägten Bereichen des Zentral- und Westkosovo würde zur Zeit eine asylrelvante gruppengerichtete Verfolgung albanischer Volkszugehöriger stattfinden; im Übrigen seien 75 bis 80 % des sozialhilferechtlichen Regelsatzes unerlässlich, um in Deutschland ein menschenwürdiges Leben führen zu können.

4

Die Antragsteller beantragen,

den Antragsgegner durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, ihnen vorläufig Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in voller Höhe zu gewähren

und ihnen Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt ... aus ... zu bewilligen.

5

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

6

Er trägt vor: Im Falle der Antragsteller sei der Wunsch, in Deutschland Sozialleistungen zu erhalten, prägendes Motiv für ihre Einreise gewesen; auch das Vernichten von Ausweispapieren sei eine typische Erscheinungsform ost- und südosteuropäischer Sozialflüchtlinge; durch die Verschleuderung von 3.000,00 DM (bei der Antragstellung ist in den Akten vermerkt worden, diesen Betrag hätten sie einer Schlepperorganisation bezahlt) hätten die Antragsteller bewusst ihre Hilfebedürftigkeit herbeigeführt; dieses Geld hätte ihnen ein relativ angenehmes Leben in einem Nachbarstaat Jugoslawiens ermöglicht.

7

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze und auf die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen. Die Unterlagen waren Gegenstand der Beratung.

8

II.

Der Antrag hat Erfolg.

9

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn diese Regelung, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Da nach Wesen und Zweck dieses Verfahrens eine vorläufige Regelung grundsätzlich nicht die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen darf, kann eine Verpflichtung zur Erbringung von Geldleistungen - wie sie im vorliegenden Fall begehrt wird - in diesem Verfahren nur ausgesprochen werden, wenn der Antragsteller die tatsächlichen Voraussetzungen für den entsprechenden Anspruch (sog. Anordnungsanspruch) sowie weiterhin glaubhaft macht, er befinde sich in einer existentiellen Notlage und sei deswegen - mit gerichtlicher Hilfe - auf die sofortige Befriedigung des Anspruchs dringend angewiesen (sog. Anordnungsgrund). Beide Voraussetzungen haben die Antragsteller glaubhaft gemacht.

10

Durch das 2. Gesetz zur Änderung des AsylblG vom 25.08.1998 (BGBl I Seite 2505) wurde mit Wirkung vom 1. September 1998 u.a. § 1 a in das Gesetz eingefügt. Danach erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 (das sind Ausländer, die eine Duldung nach § 55 des Ausländergesetzes besitzen bzw. solche, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist) und ihre Familienangehörigen nach § 1 Abs. 1 Nr. 6 (Ehegatten oder minderjährige Kinder), die sich 1.) in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen, oder 2.) bei denen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, Leistungen nach diesem Gesetz nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist. Die Grundleistungen nach § 3 AsylblG - die dem erwähnten Personenkreis mithin anteilig vorenthalten werden sollen - umfassen den notwendigen Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts (für diesen gesamten Bedarf sollen Wertgutscheine oder vergleichbare unbare Abrechnungen gewährt werden) sowie einen Barbetrag von 40,00 DM (bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres) bzw. 80,00 DM monatlich. Bereits diese Grundleistungen machen nur etwa 75 bis 80 % der Regelsätze für Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG aus; sie sind so bemessen, dass der von ihnen erfasste Personenkreis noch ein - verfassungsrechtlich garantiertes - menschenwürdiges Leben führen kann (Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 29.09.1998 - 5 B 82.97 -) Das Sozialstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 1 GG) verlangt, das weitere Leistungseinschränkungen nur nach Prüfung des Einzelfalles erfolgen dürfen, wobei der Anspruch auf Führung eines menschenwürdigen Lebens oberste Entscheidungsleitlinie zu sein hat. Diese Prüfung hat nicht erst bei der Frage einzusetzen, welche Leistungen nach den Umständen unabweisbar geboten sind, sondern auch schon bei den Voraussetzungen, die die Leistungseinschränkung (ggf.) rechtfertigen (vgl. zu alledem Hohm, 2. Gesetz zur Änderung des AsylblG, NVwZ 1998, Seite 1045; Streit und Hübschmann, Das 2. Gesetz zur Änderung des AsylBlG, ZAR 1998, Seite 266). Zu beachten ist dabei besonders, dass das Gesetz keine Beweislastumkehr normiert, dass also die Leistungsbehörde darlegen und ggf. beweisen muss, dass die eine oder andere vom Gesetz aufgestellte Voraussetzung erfüllt ist. Wird dem Ausländer vorgeworfen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu vereiteln, so ist er ferner vor einer Leistungseinschränkung ggf. aufzufordern, eine bestimmte Handlung vorzunehmen oder zu unterlassen; in jedem Fall ist er anzuhören.

11

Dieses vorausgeschickt, haben die Antragsteller das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht - bzw. anders gewendet: hat der Antragsgegner weder bewiesen noch überhaupt dargelegt, dass eine der beiden Voraussetzungen, unter denen Leistungen nach § 1 a AsylblG eingeschränkt werden können, vorliegt -. Zum einen hat der Antragsgegner nicht dargelegt, dass für die Antragsteller der Wunsch, Leistungen nach diesem Gesetz zu erhalten, für ihre Einreise in das Bundesgebiet prägend war (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 04.06.1992 - 5 C 22.87 -, NVwZ 1993, 484, zu der rechtsähnlichen Vorschrift des § 120 Abs. 3 BSHG); die Hilfebedürftigkeit und die Suche nach einer auch materiell erträglichen Zuflucht ist vielmehr geradezu typisch für die Situation politisch Verfolgter (zu denen sich die Antragsteller zählen, auch wenn sie - zunächst - keine Asylanträge gestellt haben). Andererseits ist der Umstand, dass die Antragsteller nicht über jugoslawische Reisepässe verfügen, nicht dafür entscheidend, dass gegen sie zur Zeit keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vollzogen werden können; denn wegen der nach wie vor außerordentlich gespannten Lage im Kosovo werden derzeitig Abschiebungen nach dort ohnehin nicht durchgeführt, die Antragsteller haben folglich Duldungen erhalten. Die Frage, warum sie ihre Pässe bei der Einreise nicht dabei hatten, ist deshalb nicht erheblich; das Vorbringen des Antragsgegners zu diesem Punkt enthält im Übrigen nur vage Vermutungen. Schließlich spielt der Grund für ihre Bedürftigkeit keine Rolle.

12

Zu der Frage, in welcher Höhe Leistungen - im Einzelfall und nach genauer Prüfung des Sachverhalts - eingeschränkt werden können, muss sich die Kammer nicht mehr äußern.

13

Ein Anordnungsgrund ist nur für den Monat Dezember 1998 glaubhaft gemacht worden. Die Kammer verpflichtet die Leistungsbehörden, die das AsylblG ausführen, ebenso wie die örtlichen Sozialhilfeträger durch einstweilige Anordnung regelmäßig nur zu Leistungen ab Beginn des Entscheidungsmonats, wenn - wie hier - nicht ist, dass in der Vergangenheit Schulden gemacht worden, die unverzüglich zurückzuzahlen sind. Die Verpflichtung des Antragsgegners zur Erbringung von Leistungen über den 31. Dezember 1998 hinaus ist ferner nicht notwendig, - weil die Antragsteller zur Zeit lediglich im Besitz von Duldungen sind, die bis zum 31. Dezember 1998 befristet sind. Für den Fall, dass die Duldungen verlängert werden, sind die Leistungen, zu deren Erbringung das Gericht den Antragsgegner verpflichtet, ohne weiteres weiterzugewähren; sollte das nicht geschehen, ist der Fall ggf. erneut zu überprüfen.

14

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

Prilop
Rühling
Pardey