Verwaltungsgericht Osnabrück
Urt. v. 19.04.2010, Az.: 5 A 63/09

Analogie; Arbeitnehmer; Arbeitsfähigkeit; Arbeitssuche; Aufenthalt; Aufenthaltsgrund; Beschränkung; Blindheit; entsprechende Anwendung; Erwerbsfähigkeit; Erwerbstätigkeit; Freizügigkeit; Freizügigkeitsbeschränkung; Frist; Fristbestimmung; Fristlauf; Fünfjahresfrist; Rumäne; ständiger Aufenthalt

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
19.04.2010
Aktenzeichen
5 A 63/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 47959
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 05. Februar 2009 - -wird insoweit aufgehoben, als er den Verlust des Freizügigkeitsrechts des Klägers feststellt und den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 12. Dezember 2006 ablehnt.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte zu 2/3, der Kläger zu 1/3.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

1

Die Beteiligten streiten über die Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts und über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

2

Der 1954 geborene Kläger ist rumänischer Staatsangehöriger und reiste 1992 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein. Mehrere Asyl(folge)verfahren blieben erfolglos (Bescheide des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 22. März 1993, 02. November 1994, 10. Juli 1997, 06. Juni 2001 und 12. Februar 2004, Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. Juli 2006 sowie Urteile des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 30. Juli 2002 [- 5 A 278/01 -] und vom 14. November 2006 [- 5 A 258/06- ]).

3

Im Jahre 1993 verlor der Kläger durch einen Verkehrsunfall seine Sehkraft fast vollständig. In der Folgezeit reiste er mehrmals nach Rumänien aus und mit Visa zum Zwecke medizinischer Behandlungen, zuletzt im April 2000, wieder in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seit seiner Einreise im April 2000 ist der Kläger dauerhaft in dem Bundesgebiet aufhältig und nimmt der Kläger zu der Bestreitung seines Lebensunterhalts öffentliche Mittel in Anspruch.

4

Mit Beschluss des Amtsgerichts Meppen vom 06. Februar 2004 wurde für den Kläger ein Betreuer unter anderem für den Aufgabenkreis der Wahrnehmung von Gerichts- und Behördenangelegenheiten bestellt.

5

Mit Schreiben vom 12. Dezember 2006 beantragte der Kläger über seinen Betreuer die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen.

6

Das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie stellte durch Bescheid vom 25. Juni 2007 fest, dass der Kläger einen Grad der Behinderung von 100 vom Hundert besitze.

7

Mit Bescheid vom 05. Dezember 2007 stellte der Beklagte fest, dass der Kläger das Recht auf Freizügigkeit aus § 5 Abs. 5 FreizügG/EU verloren habe, lehnte den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab, setzte dem Kläger eine Ausreisefrist von einem Monat nach Bekanntgabe des Bescheides und drohte ihm die Abschiebung nach Rumänien oder einem anderen rücknahmebereiten oder -verpflichteten Staat an. Zu einer Begründung führte der Beklagte aus, dass der Kläger kein Freizügigkeitsrecht besitze, weil er erwerbsunfähig sei und nicht über ausreichenden Krankenversicherungsschutz sowie ausreichende Existenzmittel verfüge. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU in Verbindung mit § 25 Abs. 5 AufenthG komme nicht in Betracht, da kein Ausreisehindernis gegeben sei. Der Kläger sei reisefähig und könne auch in Rumänien ausreichende Betreuungsleistungen sowie finanzielle Unterstützung erhalten.

8

Ein Rückgriff auf § 7 AufenthG sei ausgeschlossen, da Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen in Kapitel 2 Abschnitt 5 des AufenthG abschließend geregelt seien.

9

Auf die hiergegen zum Aktenzeichen - 5 A 5/08 - erhobene Klage hat die Kammer den Bescheid des Beklagten vom 05. Dezember 2007 aufgehoben, da es diesem an der unionsrechtlich gebotenen Prüfung der Verhältnismäßigkeit fehle.

10

Durch den hier streitgegenständlichen Bescheid vom 05. Februar 2009, zugegangen am 12. Februar 2009, stellte der Beklagte fest, dass der Kläger das Recht auf Freizügigkeit aus § 5 Abs. 5 FreizügG/EU verloren habe, lehnte den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab, setzte dem Kläger eine Ausreisefrist von einem Monat nach Bekanntgabe des Bescheides und drohte ihm die Abschiebung nach Rumänien oder einem anderen rücknahmebereiten oder -verpflichteten Staat an. Zu einer Begründung führte der Beklagte aus, dass der Kläger kein Freizügigkeitsrecht besitze, weil er erwerbsunfähig sei und nicht über ausreichenden Krankenversicherungsschutz sowie ausreichende Existenzmittel verfüge. Im Rahmen der vorzunehmenden Ermessens- und Verhältnismäßigkeitsprüfung wurde ausgeführt, dass der Kläger nie in Deutschland erwerbstätig gewesen sei, er keinen Krankenversicherungsschutz habe und er sich des Öfteren in der Vergangenheit auch unproblematisch in Rumänien aufgehalten habe. Zudem verfüge der Kläger über in Rumänien lebende Verwandte in Person seiner beiden erwachsenen Kinder. Demgegenüber seien persönliche oder wirtschaftliche Bindungen des Klägers an das Bundesgebiet nicht ersichtlich, so dass die Abwägung auch in Anbetracht des schweren gesundheitlichen und persönlichen Schicksals des Klägers zu dessen Lasten ausgehe.

11

Hiergegen hat der Kläger unter dem 12. März 2009 Klage erhoben und zugleich einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gestellt. Zu einer Begründung trägt er vor, dass sich sein ihm als rumänischer Staatsangehöriger nach dem FreizügG/EU zustehendes Aufenthaltsrecht unmittelbar aus dem Gesetz ergebe. Der Feststellung des Verlusts seines Freizügigkeitsrechts stehe gem. § 5 Abs. 5 FreizügG/EU der Ablauf der 5-Jahres-Frist entgegen. Diese Vorschrift müsse über ihren Wortlaut hinaus auch für den Fall gelten, dass die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nie vorgelegen hätten. Dies ergäbe sich aus dem Sinn und dem Zweck der Vorschrift, wonach ein EU-Bürger nach einer bestimmten Zeit davon ausgehen könne, auch dauerhaft in einem anderen Mitgliedsstaat bleiben zu können. Der Begriff des „ständigen Aufenthalts“ in § 5 Abs. 5 FreizügG/EU verlange im Gegensatz zu dem Erfordernis des rechtmäßigen Aufenthalts aus § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU lediglich den tatsächlichen, dauernden Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und nicht auch dessen Rechtmäßigkeit.

12

Darüber hinaus führt der Kläger aus, dass die Ermessenserwägungen des Beklagten insoweit fehlerhaft seien, als dass er seine Entscheidung unter anderem auf die Krankheit des Klägers bzw. seine dadurch bedingte Abhängigkeit von öffentlichen Leistungen stütze. Zudem sei unzulässigerweise § 55 Abs. 3 AufenthG als Grundlage der Ermessenserwägungen herangezogen worden. Im Übrigen habe der Beklagte in seine Abwägung auch nicht einbezogen, dass der Kläger aus Gründen, die nicht in seinen Verschuldensbereich fielen, daran gehindert sei, den Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln sicherzustellen. Ferner verfüge der Kläger über keinen Wohnraum in Rumänien. Familienangehörige, die ihn in Rumänien betreuen könnten, gebe es nicht. Letztlich stütze der Beklagte den Verlust seines - des Klägers - Freizügigkeitsrechts auf § 5 Abs. 5 FreizügG/EU, obwohl diese Vorschrift nur den Fall des Verlustes vorsehe, das heißt dass der Betreffende bereits sein Aufenthaltsrecht über die freizügigkeitsrechtlichen Regeln der Europäischen Union erhalten haben müsste.

13

Der Kläger beantragt,

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den Bescheid des Beklagten vom 05. Februar 2009 - G. - aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

15

Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung bezieht er sich zunächst auf den angegriffenen Bescheid. Zudem ist er der Ansicht, dass der Kläger kein Daueraufenthaltsrecht nach § 4 a FreizügG/EU erworben habe, da er nicht fünf Jahre lang rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland gelebt habe. Ein nach dem AufenthG erlaubter Aufenthalt des Klägers scheide aus, da er keinen Aufenthaltstitel vorweisen könne; eine Duldung stelle keinen Aufenthaltstitel in diesem Sinne dar.

18

Der Beklagte ist der Ansicht, dass Art. Art. 21 AEUV nicht für sich, sondern jeweils mit Hilfe der Unionsbürgerrichtlinie sowie des FreizügG/EU ausgelegt werden müsse. Die von der Kammer in ihrem Beschluss vom 31. August 2009 über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe geäußerte Auffassung, dass für den Kläger eine rechtliche definierte Aufenthaltsmöglichkeit weder nach dem FreizügG/EU noch nach dem AufenthG bestehe, widerspreche ihrem Ergebnis, dass auch keine Aufenthaltsbeendigung mehr in Betracht käme. Hierdurch entstehe ein „regelungsfreier Raum“ für den Kläger.

19

Zudem meint der Beklagte, dass bei der Auslegung des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU hinsichtlich der Voraussetzung des ständigen Aufenthalts nicht ausschließlich der Wortlaut entscheidend sein dürfte. So würden danach Unionsbürger, die sich länger als fünf Jahre nicht rechtmäßig hier aufhielten, den Daueraufenthaltsberechtigten bezogen auf die Aufenthaltsbeendigung in dem Ergebnis gleichgestellt. So sei der weitgehende Verzicht auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen die wichtigste Folge der in § 4 a FreizügG/EU geregelten Daueraufenthaltsberechtigung.

20

Ferner weist der Beklagte auf Nr. 5.5.1.1 des VV-BMI zum FreizügG/EU (Einbeziehung der Möglichkeit der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit in den Anwendungsbereich des § 5 FreizügG) hin, welche die Lücke, die die Auslegung des § 5 FreizügG/EU nach dem Wortlaut ergebe, schließen könnte.

21

Da der Kläger jedoch zu einem Zeitpunkt eingereist sei, als er noch keinen Unionsbürgerstatus besessen habe, sei die Anwendung des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU in dem vorliegenden Fall schwierig. Die Feststellung des Nichtbesitzes des Rechts auf Freizügigkeit könne sich daher vielmehr aus § 11 Abs. 2 FreizügG/EU ergeben, der aufgrund seines Wortlauts ausdrücklich diesen Fall vorsehe. Aufgrund der Regelung des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU könne der § 5 Abs. 5 FreizügG/EU so interpretiert werden, dass hiernach sowohl Verlustfeststellungen als auch Feststellungen des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts getroffen werden könnten.

22

Die in § 5 Abs. 5 FreizügG/EU enthaltene Frist für diese Feststellungen könne jedoch nur in einem Zusammenhang mit § 4 a FreizügG/EU gesehen werden. Diese Regelungen würden nur dann Sinn machen, wenn sie aufeinander abgestimmt seien und die Ausländerbehörde bis zum Erwerb des Daueraufenthaltsrechts die Möglichkeit hätte, das Nichtbestehen oder den Verlust des Freizügigkeitsrechts festzustellen. Um die oben beschriebene ungewollte Gleichstellung zu vermeiden, sollte der teleologischen Interpretation der Vorschriften der Vorzug vor der wörtlichen Auslegung gegeben werden.

23

Schließlich sei es auch möglich, die Anwendung des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU für die Fälle des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts aufgrund seines Wortlauts auszuschließen, jedoch dafür § 11 Abs. 2 FreizügG/EU als Rechtsgrundlage für diese Feststellung einen eigenen Regelungsgehalt zuzuerkennen. Da diese Vorschrift keine Frist für ihre Entscheidung vorsehe, wäre der Zeitpunkt in dem vorliegenden Fall unproblematisch. Zwar stütze sich die streitbefangene Entscheidung dann auf eine „falsche“ Rechtsgrundlage; dieser Begründungsfehler könne jedoch nach § 45 Abs. 2 VwVfG in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren noch geheilt werden.

24

Die Kammer hat dem Kläger mit Beschluss vom 31. August 2009 hinsichtlich der Anfechtung der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts sowie der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis Prozesskostenhilfe bewilligt.

25

Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und überwiegend begründet.

27

Die Verfügung des Beklagten vom 05. Februar 2009, mit dem der Beklagte festgestellt hat, dass der Kläger sein Freizügigkeitsrecht verloren hat, und mit dem der Beklagte den Antrag des Klägers vom 12. Dezember 2006 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt hat, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (1.). Demgegenüber war die Klage abzuweisen, soweit der Kläger die Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis begehrt (2.).

28

1. Der Bescheid des Beklagten vom 05. Februar 2009 ist insoweit rechtswidrig, als er den Verlust des Freizügigkeitsrechts des Klägers feststellt.

29

a. Der Kläger kann sich jedoch nicht darauf berufen, Inhaber eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4 a FreizügG/EU zu sein, so dass aus diesem Grund die erfolgte Verlustfeststellung ins Leere gehen würde. Diesbezüglich kann dahingestellt bleiben, ob der für den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU erforderliche fünfjährige rechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt, dass der Unionsbürger während dieser Zeit unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt im Sinne des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU gewesen ist (ablehnend etwa OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. April 2009, - 2 B 22.07 -, Juris), oder ob auch sonstige Aufenthaltstitel geeignet sind, einen ständen rechtmäßigen Aufenthalt zu vermitteln. Denn in der Vergangenheit wurde und derzeit wird der Kläger lediglich geduldet. Eine Duldung vermittelt indes keinen rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU (Epe, in: GK-AufenthG, § 4a FreizügG/EU Rn. 14).

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b. Rechtsgrundlage der von dem Beklagten verfügten Verlustfeststellung kann § 5 Abs. 5 FreizügG/EU sein. Danach kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind. Nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.

31

Die Voraussetzungen einer solchen Verlustfeststellung liegen indes nicht sämtlich vor. Der Kläger ist zwar weder als Arbeitnehmer (aa.) noch als niedergelassener selbständiger Erwerbstätiger (bb.) noch als nicht erwerbstätiger Unionsbürger (cc.) unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt. Da jedoch seit seiner Einreise in das Bundesgebiet, dem 7. April 2000, schon mehr als fünf Jahre vergangen sind, in denen er hier seinen ständigen Aufenthalt hatte, kann die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU nicht mehr getroffen werden (dd). Dabei kann eine solche Feststellung auch nicht anstatt auf § 5 Abs. 5 FreizügG/EU auf § 11 Abs. 2 FreizügG/EU gestützt werden (ee). Dies führt zu einer Rechtswidrigkeit des Bescheides und zu einer subjektiven Rechtsverletzung des Klägers in Bezug auf die getroffene Verlustfeststellung.

32

aa. Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung im Bundesgebiet aufhalten wollen. Diese Arbeitnehmerfreizügigkeit wird durch Artikel 45 AEUV (Konsolidierte Fassung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union [im Folgenden: AEUV], ABl. EU 2008/C115/01) gewährleistet. Sie schließt die Arbeitssuche mit ein. Denn sie gibt den Arbeitnehmern das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben und sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen (vgl. Art. 45 Abs. 3 lit. a und b AEUV).

33

Die praktische Wirksamkeit dieses Rechts ist dabei nur gewahrt, wenn dem Betroffenen ein angemessener Zeitraum eingeräumt wird, um im Aufenthaltsmitgliedsstaat von Stellenangeboten, die seinen beruflichen Qualifikationen entsprechen, Kenntnis zu nehmen und sich gegebenenfalls auf diese bewerben zu können. Das Gemeinschaftsrecht verwehrt es einem Mitgliedstaat dabei nicht, den Aufenthalt eines Stellensuchenden aus einem anderen Mitgliedstaat zu begrenzen, wenn er nach sechs Monaten kein Stelle gefunden hat, sofern er nicht nachweist, dass er weiterhin begründete Aussicht auf Erfolg sucht (EuGH, Urteil vom 26. Februar 1991, Rs. C-292/89 [The Queen gegen Immigration Appeal Tribunal, ex parte Gustaff Desideriums Antonissen], Slg. 1991, I-00745).

34

Der Kläger ist in diesem Sinne nicht als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigt und hält sich auch nicht zu einer Arbeitssuche in dem Bundesgebiet auf. Dies folgt schon daraus, dass er aufgrund seiner Blindheit zu 100 % erwerbsgemindert ist. Für den Kläger bestand daher von Anfang keine Arbeitnehmerfreizügigkeit. Auf den Umstand, dass Staatsangehörige Rumäniens derzeit zudem nur eine eingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit genießen, kommt es demnach nicht mehr an.

35

bb. Unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU auch solche Unionsbürger, die zu einer Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbständige Erwerbstätige). Diese Freizügigkeit zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit folgt aus der durch Art. 49 AEUV gewährten Niederlassungsfreiheit, hinsichtlich derer für Staatsangehörige Rumäniens Beschränkungen nicht ersichtlich sind. Auch an der Erfüllung der Voraussetzungen dieser Vorschrift fehlt es offensichtlich bei dem zu 100 % erwerbsgeminderten Kläger.

36

cc. Unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU schließlich auch nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU. Hiernach haben nicht erwerbstätige Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU - auf Einreise und Aufenthalt -, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Diese Freizügigkeitsberechtigung folgt aus Art. 21 AEUV in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004.

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Die Voraussetzungen dieses Rechts liegen indes in der Person des Klägers nicht vor, da der Kläger über keinerlei seine Existenz ausreichend sichernde Mittel verfügt. Der Kläger hat nur Einnahmen aus dem Landesblindengeld und nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, dabei aber einen aus seiner Behinderung resultierenden erhöhten Bedarf. Unzweifelhaft liegen daher ausreichende Existenzmittel – ebenso wie ein ausreichender Krankenversicherungsschutz – nicht vor.

38

dd. Jedoch ist die Frist des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU abgelaufen. Die Vorschrift ist auf den Fall des Klägers entsprechend anzuwenden ([1]). Die in ihr genannte, allein an die Begründung eines ständigen Aufenthalts anknüpfende Frist war zu dem Zeitpunkt des Ergehens des streitgegenständlichen bescheid bereits abgelaufen ([2]).

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(1) Der Kläger hat - wie ausgeführt - von Anfang nicht die Voraussetzungen gem. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU erfüllt. Damit fällt er von dem Wortlaut her nicht direkt unter die Regelung des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU. Trotzdem findet diese Norm auf ihn entsprechend Anwendung.

40

So ist eine Rechtsgrundlage für die Feststellung, dass ein Unionsbürger von vornherein nicht freizügigkeitsberechtigt gewesen ist, im FreizügG/EU nicht ausdrücklich gegeben (OVG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 18. Oktober 2005, - 8 S 39.05 -, Juris [Rn. 12, 13]; VG Sigmaringen, Urteil vom 19. September 2006, - 7 K 1190/05 -, Juris [Rn. 19]; VG Osnabrück, Urteil vom 26. Juni 2008, - 5 A 5/08 -; Hailbronner, Ausländerrecht, Band 3, Stand: Oktober 2007, § 6 FreizügG/EU Rn. 6-8; für eine analoge Anwendung des § 5 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU: Epe, in: GK-AufenthG, Band 5, Stand: April 2008, IX – 2 § 11 FreizügG/EU Rn. 33). Da jedoch die behördliche Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsrechts in § 7 Abs. 1 Satz 1 und § 11 Abs. 2 FreizügG/EU vorausgesetzt wird, da ansonsten weder die Ausreisepflicht des Unionsbürgers noch die subsidiäre Anwendung des AufenthG begründet werden könnten, gilt § 5 Abs. 5 FreizügG/EU – zumindest entsprechend oder aber in dem Wege eines Erst-Recht-Schlusses - auch für den Fall, dass die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU von vornherein nicht bestehen (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02. April 2009, - 7 A 11053/08 -, Juris [Rn. 17]). Jede andere Betrachtung würde zu einer Umgehung der von dem Gesetzgeber vorgesehenen Fünfjahresfrist sowie zu dem Fehlen einer Ermächtigungsgrundlage für die angefochtene Verfügung an sich führen.

41

Aus diesem Grund findet die Norm mit der in ihr enthaltenen Frist auch in dem Fall des Klägers Anwendung. § 5 Abs. 5 FreizügG regelt damit - jenseits von Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne des Art 52 AEUV, die hier nicht einschlägig sind - Beschränkungen der Freizügigkeit des Klägers abschließend, auch wenn der Kläger - wie ausgeführt - nie freizügigkeitsberechtigt im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU gewesen ist. Entsprechend gilt auch die Fünfjahresfrist.

42

(2) Die Frist des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU ist in dem Zeitpunkt des Ergehens des angefochtenen Bescheids bereits lange Zeit abgelaufen. Voraussetzung einer Verlustfeststellung ist nach dem klaren und eindeutigen Wortlaut des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU, dass die Verlustfeststellung innerhalb von fünf Jahren nach der Begründung eines ständigen Aufenthalts in dem Bundesgebiet erfolgt. Anders als § 4 a FreizügG/EU stellt § 5 Abs. 5 FreizügG/EU nicht auf einen fünfjährigen unionsrechtlich rechtmäßigen Aufenthalt, für den das Beitrittsdatum des Herkunftslandes der frühestmögliche Zeitpunkt ist (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. April 2009, - 2 B 22.07 -, Juris), sondern nur auf einen tatsächlichen Aufenthalt ab. Dieser ständige tatsächliche Aufenthalt wird in der Regel durch eine Wohnsitznahme in dem Bundesgebiet begründet. Eine derartige Wohnsitznahme rechtfertigt die Vermutung, der Betroffene beabsichtige, sich nicht nur kurzfristig und vorübergehend in dem Bundesgebiet aufzuhalten (Epe, a.a.O., § 5 FreizügG/EU Rn. 43). Diese Frist begann angesichts der unstreitigen Einreise des Klägers im April 2000 jedenfalls nach Ablauf des ihm erteilten Visums zu laufen und war zu dem Zeitpunkt des Ergehens des angefochtenen Bescheides im Februar 2009 offensichtlich schon lange Zeit abgelaufen.

43

Für dieses Ergebnis ist es unerheblich, dass Rumänien der Europäischen Union erst zum 01. Januar 2007 beigetreten ist. Insbesondere hat nicht erst mit dem Beitritt Rumäniens zu der Europäischen Union der Lauf der Fünfjahresfrist begonnen.

44

Hierfür lassen sich schon in dem Wortlaut des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU keinerlei Anhaltspunkte finden, die eben allein an die Begründung eines "ständigen Aufenthaltes" anknüpft. Eine von diesem Wortlaut abweichende Regelung speziell zu der Frage der Berechnung der Frist des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU in dem Falle des Beitritts eines Staates zu der Europäischen Union enthält das FreizügG/EU nicht.

45

Auch lässt eine Auslegung nach dem Sinn und dem Zweck der Vorschrift keine andere Sichtweise zu. So ist mit der Regelung des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU die Absicht des Gesetzgebers zu erkennen, dass Unionsbürger, die sich viele Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten haben, und die dadurch naturgemäß einen gewissen Grad der Integration aufweisen und gleichzeitig eine Entfremdung des Heimatstaates erfahren haben, einen Schutz vor einer Beschränkung ihrer Freizügigkeit erhalten sollen. Dieser Grundsatz muss – auch unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes und um eine Diskriminierung zu vermeiden - ebenfalls für diejenigen Unionsbürger Anwendung finden, die sich bereits vor dem Beitritt ihres Heimatstaates in die EU jahrelang in der Bundesrepublik Deutschland ständig aufgehalten haben.

46

Überdies ist in dem Fall des Klägers festzustellen, dass der Beklagte bis zu dem Beitritt Rumäniens zur EU von einer Ausweisung des Klägers, der seit 2000 in der Bundesrepublik Deutschland lebt und seit diesem Zeitpunkt auch aufgrund seiner Sehschwäche öffentliche Gelder erhält, abgesehen hat. Nachdem sich die Umstände, insbesondere der Gesundheitszustand des Klägers, nicht verändert haben, stellt es sich daher als widersprüchlich zu dem oben genannte Sinn und Zweck des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU dar, ihn nunmehr nach Erlangung der Unionsbürgerschaft in seiner Freizügigkeit beschränken zu wollen.

47

Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass die dem FreizügG/EU zugrunde liegende Richtlinie 2004/38/EG keine dem § 5 Abs. 5 FreizügG/EU entsprechende Regelung mit einer Fristbestimmung zu einer Verlustfeststellung vorsieht. Zwar gibt die Erwägung Nr. 17 die im FreizügG/EU in § 4 a Abs. 1 aufgenommene Fünfjahresfrist wieder, die für ein Daueraufenthaltsrecht entscheidend sein soll. Ein solches soll jedoch nur dann erlangt werden, wenn sich der Unionsbürger gemäß den in der Richtlinie festgelegten Bedingungen bzw. rechtmäßig aufgehalten hat. In der Richtlinie ist demgegenüber eine Frist zu der Erklärung einer Verlustfeststellung nicht vorgesehen. Die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland über die Freizügigkeitsrichtlinie hinaus die Frist des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU vorgesehen hat, spricht daher ebenfalls für eine oben genannte weite Auslegung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift, das heißt für den Beginn der Fünfjahresfrist bereits vor dem Beitritt Rumäniens zur EU. Denn offensichtlich wollte der Bundesgesetzgeber allen Unionsbürgern, die sich mindestens fünf Jahre lang in dem Bundesgebiet aufhalten, Rechtssicherheit über ihr Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht angedeihen lassen.

48

Auch das Primärrecht der Union fordert eine solche Sichtweise. Nach Art. 21 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich in dem Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Die Vorschrift begründet ein subjektiv-öffentliches Recht, das dem Unionsbürger unabhängig von dem Zweck seiner Inanspruchnahme unmittelbar zusteht, und gewährleistet das Recht, aus einem Mitgliedsstaat auszureisen, in einen anderen Mitgliedsstaat einzureisen und sich dort ohne zeitliche und grundsätzlich ohne inhaltliche Begrenzung aufzuhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. November 1999, - BVerwG 6 V 30.98 -, BVerwGE 110, 40 [53]). Es handelt sich insoweit um eine „politische Grundfreiheit“, welche das aus den wirtschaftlich motivierten Verkehrsfreiheiten folgende Aufenthaltsrecht überlagert (BVerwG, Urteil vom 10. November 1999, - BVerwG 6 V 30.98 -, BVerwGE 110, 40 [53]). Einem Angehörigen eines Mitgliedsstaates kann deshalb bereits aufgrund seiner Unionsbürgerschaft in unmittelbarer Anwendung von Art. 21 AEUV ein Aufenthaltsrecht zustehen (vgl. EuGH, Urteil vom 17. September 2002, Rs. C-413/99 [Baumbast und R gegen Secretary of State for the Home Department], NJW 2002; 3610; EuGH, Urteil vom 07. September 2004, Rs. C-456/02 [Michel Trojani gegen Centre public d’aide sociale de Bruxelles (CPAS)], InfAusR 2004, 417; EuGH, Urteil vom 07. Juni 2007, Rs. C-50/06 [Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich der Niederlande], InfAuslR 2007, 266 [267]). Dies gilt auch für die am 01. Januar 2007 neu hinzugekommenen Mitgliedsstaaten Bulgarien und Rumänien. Übergangsregelungen bestehen insoweit nicht (vgl. Epe, in: GK-AufenthG, Stand: April 2008, § 13 FreizügG/Eu RdNr. 4 und 57 m.w.N.). Regelungen, die die Freizügigkeit der Unionsbürger betreffen, sind weiterhin diesen gegenüber günstig und weit auszulegen (EuGH, Urteil vom 07. Juni 2007, Rs. C-50/06 [Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen das Königreich der Niederlande], InfAuslR 2007, 266 [267]).

49

Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH, Urteil vom 11. Juli 2002, Rs. C-224/98 [Marie-Nathalie D’Hoop gegen Office national de l’emploi], Slg. 2002, I-6191), der sich die Kammer anschließt, verleiht Art. 21 AEUV jedem den Status eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaats besitzt. Da der Kläger Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaats - Rumänien - ist, steht ihm dieser Status zu. Dieser Unionsbürgerstatus soll bestimmungsgemäß der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten sein, die, wenn sie sich in der gleichen Situation befinden, aufgrund dieses Status im sachlichen Geltungsbereich des AEUV und des EUV vorbehaltlich der hiervon ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit Anspruch auf gleiche rechtliche Behandlung haben (EuGH, Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-184/99 [Rudy Grzelczyk gegen Centre public d’aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve], Slg. 2001, I-6193 [Rdnr. 31]).

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In den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen unter anderem Situationen, in denen es um die Ausübung der im AEUV garantierten Grundfreiheiten, namentlich der in Artikel 21 AEUV verliehenen Freiheit geht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten zu bewegen und aufzuhalten (EuGH, Urteil vom 24. November 1998, Rs. C-274/96, [Strafverfahren gegen Horst Otto Bickel und Ulrich Franz], Slg. 1998, I-7637 [Rdnrn. 15 und 16]; EuGH, Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-184/99 [Rudy Grzelczyk gegen Centre public d’aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve], Slg. 2001, I-6193 [Rdnr. 33]). Eine Differenzierung danach, ob die Begründungen ständigen Aufenthalts noch zu solchen Zeiten erfolgte, in denen kein Unionsbürgerstatus bestand, ist daher nicht möglich, da sie den umfassenden Status der Staatsangehörigen bestimmter Mitgliedsstaaten relativieren würde.

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Letztlich lassen sich für die von dem Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vertretene Sichtweise, dass die Frist der Norm des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU allein den Zeitraum benenne, in dem die eine Verlustfeststellung tragenden Tatsachen eingetreten sein müssten, demgegenüber sie keine Frist enthalte, innerhalb derer die Behörde auch eine entsprechende Reglung erlassen könne, keine Anhaltspunkte erkennen. Sie ist vielmehr unvertretbar, da sie das primärrechtlich verliehene Freizügigkeitsrecht in vielen Fällen unter einen gleichsam lebenslangen Widerrufsvorbehalt stellen würde, was mit dem oben beschriebenen Charakter der Grundfreiheit unvereinbar und auch sekundärrechtswidrig wäre.

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ee. Die Feststellung des Verlustes bzw. des Nichtbestehens der Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU kann auch nicht - wie nunmehr von dem Beklagten geltend gemacht - statt auf § 5 Abs. 5 FreizügG auf § 11 Abs. 2 FreizügG – einer Norm ohne eine entsprechende Fünfjahresfrist - gestützt werden.

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§ 11 Abs. 2 FreizügG/EU stellt im Gegensatz zu § 5 Abs. 5 FreizügG/EU keine Rechtsgrundlage zu einer Feststellung des Verlustes bzw. Nichtbestehens der Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU dar, sondern lediglich eine Verweisungsnorm. Diese Vorschrift setzt daher zu ihrer Anwendung noch einen Feststellungsakt nach dem FreizügG/EU voraus (anders: Hailbronner, Rn. 38 zu § 11, der den Feststellungsakt über das Nichtbestehen eines Freizügigkeitsrechts in den Fällen der ursprünglichen Nichterfüllung der Freizügigkeitsvoraussetzungen zunächst als lediglich deklaratorisch ansieht, da bereits kraft materiellen Rechts der aufenthaltsrechtliche Status feststehe und der später der Regelung des § 11 Abs. 2 FreizügG doch einen eigenständigen Regelungsgehalt für diese Fälle zuschreibt). Eine solche Feststellungsmöglichkeit hat der Gesetzgeber jedoch lediglich in § 5 Abs. 5 FreizügG/EU sowie in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU vorgesehen. Über die letztgenannte Norm hinaus, d.h. ohne das Vorliegen von Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (vgl. § 6 Abs. 1 FreizügG/EU), kann nach diesem Gesetz nur nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU der Verlust und das Nichtbestehen der Voraussetzungen für das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden. Für letzteres gilt jedoch in allen Fällen die Fünfjahresfrist.

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Da durch den Ablauf dieser Frist das Nichtbestehen der Voraussetzungen nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht mehr festgestellt werden konnte, lebt die Vermutung der Freizügigkeitsberechtigung für den Kläger wieder auf (BT-Drs. 15/538, S. 106; Epe, in: GK-AufenthG, IX – 2 § 1, Rn. 20 m.w.N.; Hailbronner, Rn. 35 f. zu § 11). Ohne eine ausdrückliche Feststellung des Verlustes oder des Bestehens o.g. Voraussetzungen gilt der Kläger daher als freizügigkeitsberechtigt, was sich letztendlich aus seiner unmittelbar anwendbaren unionsbürgerlichen Grundfreiheit gem. Art. 21 AEUV ergibt. Auch das Gebot der primärrechtskonformen Auslegung des mitgliedsstaatlichen Rechts - das Gebot einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts ist nach dem Europäischen Gerichtshof dem System des Vertrags immanent, da dem nationalen Gericht dadurch ermöglicht wird, im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn es über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheidet (EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004, Verbundene Rs. C-397/01 bis C-403/01 [Bernhard Pfeiffer (C-397/01), Wilhelm Roith (C-398/01), Albert Süß (C-399/01), Michael Winter (C-400/01), Klaus Nestvogel (C-401/01), Roswitha Zeller (C-402/01) und Matthias Döbele (C-403/01) gegen Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Waldshut eV.], Slg. 2004, I-08835 [Rn. 114]) - führt zu der oben wiedergegebenen Sichtweise, d.h. die Geltung der Fünfjahresfrist des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU auch für die Nichtbestehensfeststellung sowie die Festlegung des Beginns des Laufs dieser Frist bereits vor dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten in die EU – als angemessen dar.

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2. Besteht das Freizügigkeitsrecht des Klägers aus Art. 21 AEUV fort, so ist das AufenthG gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG auf den Kläger nicht anwendbar, so dass sich eine der Bestandskraft fähige Regelung, mit der ihm nach diesem Gesetz ein Aufenthaltstitel verweigert wird, als Belastung darstellt, die mangels gesetzlicher Grundlage ebenfalls durch einen kassatorischen Ausspruch zu beseitigen war.

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Mangels einer Anwendbarkeit des AufenthG kommt jedoch andererseits ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht in Betracht. Eine Aufenthaltserlaubnispflicht für Unionsbürger ist nämlich gerade durch das FreizügG/EU abgeschafft worden (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU). Insoweit war daher die Klage abzuweisen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO.

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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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Die Zulassung der Berufung erfolgt gem. § 124 Abs. 2 Nr. 3 in Verbindung mit § 124 a Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die angesprochenen Rechtsfragen des Freizügigkeitsrechts haben grundsätzliche Bedeutung in dem Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.