Landgericht Aurich
Beschl. v. 05.11.1990, Az.: 3 T 133/90

Bibliographie

Gericht
LG Aurich
Datum
05.11.1990
Aktenzeichen
3 T 133/90
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1990, 27302
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
AG Aurich - 28.05.1990 - AZ: 10 M 3745/90

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Gläubigers gegen den Beschluß des Amtsgerichts Aurich vom 28.5.1990 - 10 M 3745/90 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

[Gründe]

I.

1

Der Gläubiger betreibt die Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner. Im vorliegenden Verfahren hat er beantragt,

die zukünftigen Rentenansprüche des Schuldners gegenüber der Landesversicherungsanstalt Hannover zu pfänden. Diesen Antrag hat das Amtsgericht mit dem angefochtenen Beschluß zurückgewiesen, weil eine Pfändung künftiger Rentenansprüche unzulässig sei. Hiergegen richtet sich die Erinnerung des Gläubigers, der Rechtspfleger und Richter nicht abgeholfen haben.

II.

2

Die als sofortige Beschwerde geltende Durchgriffserinnerung ist zulässig, aber unbegründet. Denn die Auffassung des Amtsgerichts, daß künftige Rentenansprüche (Rentenanwartschaften) nicht pfändbar sind, ist nicht zu beanstanden. Ob Rentenanwartschaften pfändbar sind, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Die Kammer folgt der Auffassung, welche eine Pfändbarkeit verneint. Hierfür sind folgende Überlegungen maßgeblich:

3

Im Gegensatz zur Pfändung von Arbeitseinkommen, welche grundsätzlich auf Antrag des Gläubigers ohne zuvorige Prüfung der Einkommensverhältnisse zu erfolgen hat, können Ansprüche auflaufende Sozialgeldleistungen gem. § 54 Abs. 3 Nr. 2 SGB I nur unter bestimmten Voraussetzungen gepfändet werden. Der Gesetzgeber hat dem Vollstreckungsgericht mithin (zwingend) aufgegeben, beantragte Pfändungsmaßnahmen auf ihre Sozialverträglichkeit zu überprüfen. Eine derartige Prüfung ist bei Rentenanwartschaften im allgemeinen aber nicht möglich. Soweit einer zukünftigen Sozialgeldleistung - wie hier einer Altersrente - Lohnersatzfunktion zukommt, bestehen zwar keine Bedenken, die grundsätzliche Billigkeit der Pfändung auch wegen einer gewöhnlichen Forderung zu bejahen, § 54 Abs. 2 SGB 1. Das Vollstreckungsgericht ist regelmäßig aber außerstande, zu prüfen, ob der Leistungsberechtigte durch die Pfändung hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes wird. Soweit in diesem Zusammenhang die Auffassung vertreten wird, daß diese zusätzliche Pfändungsschranke bei Bezügen mit Lohnersatzfunktion grundsätzlich keine Bedeutung habe (so: SchlHOLG in JurBüro 1988, 542 unter Hinweis auf Zöller-​Stöber, 15 Aufl., § 850 i Rdnr. 27), vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Gegen die Überflüssigkeit einer derartigen Prüfung spricht schon, daß sie der Gesetzgeber ausdrücklich vorgeschrieben hat. Hierzu hätte keine Veranlassung bestanden, wenn diese zusätzliche Pfändungsschranke ohnehin keine Bedeutung hätte, weil die Pfändungsfreibeträge nach § 850 c ZPO grundsätzlich die Sozialhilfesätze überschreiten. Dies ist indessen häufig nicht der Fall, wie der Kammer aus einer Vielzahl früherer Verfahren bekannt ist. Dies wird auch durch einen Vergleich der im heutigen Zeitpunkt geltenden Regelsätze nach dem Bundessozialhilfegesetz (vgl. Nds.MBl. Nr. 32/1990, S. 1122) und den Pfändungsfreigrenzen nach § 850 c ZPO deutlich. So beträgt schon der Regelsatz für einen Haushaltsvorstand oder einen Alleinstehenden 448,-​- DM. Hinzu kommen die Kosten für die Unterkunft, die vor allem im Hinblick auf die in jüngster Zeit erheblich angestiegenen Mieten häufig die Regelsatzhöhe übersteigen. Es besteht deshalb im jetzigen Zeitpunkt keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein Schuldner nicht sozialhilfebedürftig wird, wenn ihm eine Rente im (Mindest-​) rahmen des § 850 c ZPO verbleibt. Die dem Vollstreckungsgericht auferlegte Prüfung über die Billigkeit der Pfändungsmaßnahme erweist sich deshalb nicht als überflüssig.

4

Eine andere Beurteilung erscheint auch nicht deshalb angemessen, weil bei der Prüfung der Billigkeit der Pfändung nur die Verhältnisse zugrundezulegen sind, die im Zeitpunkt der Pfändung absehbar sind (so: LG Frankfurt in Rechtspfleger 1990, S. 375); denn eine Prüfung der späteren Verhältnisse, wie sie im Zeitpunkt der Entstehung des Rentenanspruchs vorhanden sind, ist im allgemeinen schon deshalb nicht möglich, weil die Entwicklung der zukünftigen Verhältnisse nicht hinreichend abschätzbar ist. Dies gilt vorliegend auch deshalb, weil nicht einmal dargelegt ist, wann der Rentenanspruch des Schuldners zur Entstehung gelangt. Mag auch eine Vermutung dafür sprechen, daß in diesem Zeitpunkt die Pfändungsfreigrenzen des § 850 c ZPO höher liegen als ein etwaiger Sozialhilfeanspruch des Schuldners, so erscheint es aber ebenso möglich, daß sich die Verhältnisse abweichend darstellen.

5

Nicht zuletzt sprechen auch verfahrensrechtliche Erwägungen gegen eine Pfändbarkeit von Rentenanwartschaften. Während es bei der Pfändung eines Rentenanspruchs grundsätzlich dem Gläubiger obliegt, darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, daß der Schuldner durch die Pfändung nicht sozialhilfebedürftig wird, würde nunmehr dem Schuldner dieser Nachweis aufgebürdet. Der Schuldner müßte nach Entstehen des Rentenanspruchs verfahrensrechtliche Schritte einleiten, um der Pfändung - die im Falle einer Prüfung nach § 54 Abs. 3 Nr. 2 SGB 1 nicht hätte ausgesprochen werden dürfen - entgegenzutreten. Hierdurch würde seine verfahrensrechtliche Position in unzumutbarer Weise beeinträchtigt. Da der Erlaß des Pfändungs-​und Überweisungsbeschlusses in Fällen der vorliegenden Art nach zuvoriger Anhörung des Schuldners erfolgt - § 834 ZPO gilt hier nicht -, beinhaltet der Erlaß des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses eine Entscheidung des Vollstreckungsgerichts, gegen die nur eine sofortige, d. h. befristete Beschwerde gem. den §§ 793, 577 ZPO zulässig ist. Eine sofortige Beschwerde, die auf § 54 Abs. 3 Nr. 2 SGB gestützt wird und fehlende Sozialverträglichkeit rügt, ist tatsächlich aber schon deshalb aussichtslos, weil sich im jetzigen Zeitpunkt im allgemeinen gerade noch nicht feststellen läßt, ob die Pfändung zu einer späteren Sozialhilfebedürftigkeit führen wird. Auch die in diesem Zusammenhang erörterte Lösungsmöglichkeit, bei einer Unbilligkeit der Pfändung infolge einer nachträglichen Änderung einen Abänderungsantrag nach § 850 g ZPO zu stellen (so: Behr in Rechtspfleger 1988, S. 522), erscheint wenig überzeugend. Denn die verfahrensrechtliche Position des Schuldners würde nicht unerheblich verschlechtert, wenn er allein auf diese Möglichkeit verwiesen würde, um die Unbilligkeit der Pfändungsmaßnahme geltend zu machen. Während es nämlich bei Pfändung eines schon bestehenden Rentenanspruches grundsätzlich Sache des Gläubigers ist, die Billigkeit der Pfändung darzulegen und gegebenenfalls den erforderlichen Beweis zu führen, wären diese Voraussetzungen bei Pfändung einer Rentenanwartschaft vom Schuldner zu erfüllen. Darüber hinaus bestehen aber auch deshalb Bedenken gegen die Anwendbarkeit von § 850 g ZPO, weil diese Regelung erkennbar auf nachträgliche Änderungen zugeschnitten ist. Die Aufhebung einer Pfändungsmaßnahme nach § 850 g ZPO käme deshalb - ungeachtet dessen, daß § 850 g ZPO keine Aufhebung der Pfändungsmaßnahme insgesamt, sondern lediglich eine Neufestsetzung des unpfändbaren Betrages vorsieht - jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn von vornherein - so etwa wegen eines besonders hohen Sozialhilfebedarfes aufgrund Krankheit - abzusehen war, daß bei einer Pfändung im Rahmen der Pfändungsgrenzen des § 850 c ZPO Sozialhilfebedürftigkeit des Schuldners eintreten würde (weshalb dann allerdings der Pfändungsbeschluß erst gar nicht erlassen werden dürfte).

III.

6

Der Beschwerdewert wird auf 1.000,- DM festgesetzt.