Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 15.06.1983, Az.: 1 VG D 136/83

Verbot eines Festivals auf Grund von Feiertagen; Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz; Vorliegen einer öffentlichen Veranstaltung mit einem höheren Interesse der Kunst

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
15.06.1983
Aktenzeichen
1 VG D 136/83
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1983, 15111
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:1983:0615.1VG.D136.83.0A

Fundstelle

  • NJW 1985, 2147-2148 (Volltext mit red. LS)

Prozessführer

1. Herr

2. Herr

Beide wohnhaft ...

Prozessgegner

Stadt Buxtehude,
vertreten durch den Stadtdirektor, Postfach 1555, 2150 Buxtehude.

In dem Rechtsstreit
hat das Verwaltungsgericht Stade - 1. Kammer Stade -
am 15. Juni 1983
beschlossen:

Tenor:

Es wird im Wege der einstweiligen Anordnung festgestellt, daß das von den Antragstellern für Freitag, den 17. Juni 1983, 20.00 Uhr, in der ... Festhalle geplante "1. Internationale Jazz- und Funkfestival" nach dem Nds. Gesetz über die Feiertage nicht verboten ist.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

1

Das einstweilige Anordnungsbegehren der beiden Antragsteller hat Erfolg.

2

Den Antragstellern ist der begehrte vorläufige Rechtsschutz gemäß § 123 Abs. 1 VwGO nach Maßgabe der im Beschlußtenor ausgesprochenen und von den Antragstellern nach dem Inhalt der Antragsschrift erkennbar vorrangig erstrebten Feststellung zu gewähren, daß das von ihnen für Freitag, den 17. Juni 1983, 20.00 Uhr, in der ... Festhalle geplante "1. Internationale Jazz- und Funkfestival" nach dem Niedersächsischen Gesetz über die Feiertage - NFG - i.d.F. vom 29. April 1969 (Nds. GVBl. S. 113, zuletzt geändert durch Art. 32 des Gesetzes vom 2. Dezember 1974, Nds. GVBl. S. 535) nicht verboten ist.

3

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Erlaß einer solchen Regelungsanordnung setzt die Glaubhaftmachung des von dem Antragsteller geltend gemachten materiellen Anspruchs (Anordnungsanspruch) und des Anordnungsgrundes voraus (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920, 294 ZPO). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.

4

1.

Im vorliegenden Falle muß ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Hauptsache in Kauf genommen werden, weil das Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) dies unter den hier gegebenen besonderen Umständen erfordert.

5

2.

Die zur Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes erforderliche Dringlichkeit (Anordnungsgrund) liegt angesichts der offenkundigen Eilbedürftigkeit der Sache auf der Hand.

6

3.

Die Antragsteller haben bei der im Rahmen dieses vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nur möglichen summarischen Prüfung auch glaubhaft gemacht, daß die von ihnen geplante Jazzveranstaltung nach den Vorschriften des NFG nicht verboten ist. Es spricht nämlich überwiegendes dafür, daß es sich bei dem geplanten "1. Internationalen Jazz- und Funkfestival" um eine öffentliche Veranstaltung handelt, die einem höheren Interesse der Kunst dient und auf den ernsten Charakter des Tages (des 17. Juni als Tag der deutschen Einheit) Rücksicht nimmt (§ 6 Abs. 2 d NFG). Dazu im einzelnen:

7

a)

Nach Art. 140 GG ist Art. 139 der Deutschen Verfassung vom 11. August 1919 Bestandteil des Grundgesetzes. Diese Vorschrift bestimmt: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt". Dieser verfassungsgesetzlich gebotene besondere gesetzliche Schutz der Sonntage und staatlich anerkannten Feiertage soll gewährleisten, daß die unmittelbar durch die Verfassung festgelegte besondere Zweckbestimmung dieser Tage durch gesetzliche Vorschriften hinreichend gesichert wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 7.9.1981 - 1 C 43.78 -, Buchholz 11 Art. 140 GG, Nr. 29). Dieser gesetzliche Schutz der Sonntage und staatlich anerkannten Feiertage umfaßt insbesondere Verbote von Tätigkeiten oder Veranstaltungen, die mit der verfassungsgesetzlich festgelegten Zweckbestimmung dieser Tage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung nicht vereinbar sind; er erfolgt im Lande Niedersachsen nach Maßgabe des NFG. Bei der Auslegung der Schutzbestimmungen dieses Gesetzes kommt es dabei allein darauf an, ob das jeweils in Rede stehende Verbot auch bei gebührender Berücksichtigung des Wesensgehalts der von ihm berührten Grundrechte zum Schutz der Sonntage und staatlich anerkannten Feiertage geeignet und erforderlich ist, weil es die verbotenen Tätigkeiten und Veranstaltungen zu Recht als mit der verfassungsgesetzlich festgelegten und geschützten Zweckbestimmung der Sonntage und staatlich anerkannten Feiertage unvereinbar untersagt hat (vgl. BVerwG, a.a.O.).

8

b)

Zu den staatlich anerkannten Feiertagen gehört gemäß § 2 e NFG der 17. Juni als Tag der deutschen Einheit. Dieser staatlich anerkannte Feiertag ist gemäß § 3 NFG ein Tag allgemeiner Arbeitsruhe, der den allgemeinen Schutzbestimmungen der §§ 4 und 5 NFG unterliegt und darüber hinaus den besonderen Schutz des § 6 Abs. 2 NFG genießt. Mit öffentlich bemerkbaren Handlungen im Sinne von § 4 Abs. 1 NFG ist die von den Antragstellern geplante Jazzveranstaltung nicht verbunden. Auch von der Antragsgegnerin wird nicht geltend gemacht, daß die in geschlossenen Räumen stattfindende Veranstaltung die äußere Ruhe im Sinne von § 4 Abs. 1 NFG stört; sie widerspricht, da sie nicht als typisch werktäglich anzusehen ist, auch nicht dem Wesen der Sonn- und Feiertage im Sinne dieser Vorschrift (vgl. hierzu RdErl. d. MI vom 10.3.1980, Nds. MBl. 393, Rdn. 2.4). Die von den Antragstellern geplante Veranstaltung ist darüber hinaus auch nach der allgemeinen Schutzvorschrift des § 5 NFG nicht verboten, da sie nicht während der Zeit von 7.00 bis 11.00 Uhr morgens stattfinden soll. Bei der hier nur möglichen summarischen Prüfung spricht schließlich auch überwiegendes dafür, daß diese Veranstaltung auch nach der besonderen Schutzbestimmung des § 6 Abs. 2 d NFG nicht verboten ist. Danach sind u.a. am 17. Juni alle sonstigen Veranstaltungen zusätzlich verboten, "außer wenn sie der geistigseelischen Erhebung oder einem höheren Interesse der Kunst, Wissenschaft oder Volksbildung dienen und auf den ernsten Charakter des Tages Rücksicht nehmen". Das geplante internationale Jazz- und Funkfestival gehört zu den öffentlichen Veranstaltungen im Sinne dieser Vorschrift. Denn hierunter sind Veranstaltungen zu verstehen, zu denen jedermann Zutritt hat, wobei unwesentlich ist, ob der Zutritt - wie hier - von einem Eintrittsgeld abhängig gemacht wird oder nicht (vgl. Rdn. 5.3 des RdErl. d. MI vom 10.3.1980). Das in der ... Festhalle geplante "1. Internationale Jazz- und Funkfestival" ist nach den tatsächlichen Verhältnissen dieses Einzelfalls - wie er sich der Kammer nach Lage der Akten darstellt - aber als eine Veranstaltung anzusehen, die einem höheren Interesse der Kunst im Sinne von § 6 Abs. 2 d NFG dient.

9

Die Frage, ob eine öffentliche Veranstaltung einem höheren Interesse der Kunst im Sinne von § 6 Abs. 2 d NFG dient, ist im Lichte der verfassungsrechtlich geschützten Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ("Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei") zu entscheiden. Danach ist der Staat zu kulturpolitischer Neutralität und kulturpolitischer Toleranz verpflichtet, ihm ist - jedenfalls im Rahmen der Eingriffsverwaltung (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 27. Mai 1982 - 8 OVG A 73/81 -, NJW 1983, 1218) - jedes kulturpolitische Diktat, jeder Versuch kulturpolitischer Uniformierung und jeder die Künste inhaltlich bestimmende Dirigismus (sog. Kunstrichtertum) untersagt (BVerfGE 30, 173, 188 ff.) [BVerfG 24.02.1971 - 1 BvR 435/68]. Dieses Verbot jedes inhaltlichen Kunstrichtertums ist damit auch bei der Auslegung der Verbotsregelung des § 6 Abs. 2 d NFG zu beachten (vgl. zu diesem Fragenkreis auch: Greiffenhagen, Feiertagsschutz und Kunstfreiheit, Archiv für Urheber-, Film- und Theaterrecht, Bd. 61, 1971, S. 75 ff., 87). Unter einem höheren Kunstinteresse im Sinne von § 6 Abs. 2 d NFG ist deshalb soviel wie das "wirkliche Kunstinteresse" - im Gegensatz zum bloß scheinbaren, angeblichen oder vorgeschobenen Kunstinteresse - zu verstehen (vgl. hierzu auch Greiffenhagen, a.a.O., S. 83; siehe zur Auslegung des entsprechenden Begriffes in § 33 a Abs. 1 Satz 1 GewO auch Landmann-Rohmer, Gewerbeordnung und ergänzende Vorschriften, Kommentar, 13. Auflage, Stand Anfang 1983, Rdn. 12 ff. zu § 33 a GewO). Einem solchen wirklichen Kunstinteresse dient das geplante 1. Internationale Jazz- und Funkfestival deshalb, weil die angekündigten musikalischen Darbietungen künstlerischen Charakter haben und damit den Schutz der Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, die in gleicher Weise den "Werkbereich" und den "Wirkbereich" des künstlerischen Schaffens betrifft (vgl. BVerfGE 30, 173, 189) [BVerfG 24.02.1971 - 1 BvR 435/68], genießen.

10

Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarer Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers (BVerfGE 30, 173, 188 f.) [BVerfG 24.02.1971 - 1 BvR 435/68]. Diese Umschreibungen enthalten indessen keinen allgemein verbindlichen Kunstbegriff. Was Kunst ist, läßt sich begrifflich kaum erfassen (vgl. BFH, Urteil vom 9.8.1982 - 4 R 64/79 -, NJW 1983, 1224). Denn hierfür gelten in den jeweiligen Gesellschaften und Epochen unterschiedliche - von den jeweiligen historischen Bedingungen abhängige - Maßstäbe. Nur mit Hilfe dieser Maßstäbe kann bestimmt werden, was Kunst ist und welchen Wert und welche Bedeutung ein Kunstwerk hat. Auch die Einordnung musikalischen Schaffens unter den Begriff Kunst erfolgt nach diesen Maßstäben (vgl. BFH, a.a.O.). Hierbei lassen sich bei der Beurteilung, ob musikalische Darbietungen künstlerischen Charakter haben, nicht mehr gewisse Arten von Musik von vornherein ausschließen. Vielmehr impliziert jede musikalische Tätigkeit, die einen bestimmten Qualitätsstandard nicht unterschreitet, das Prädikat "künstlerisch". Dies gilt vor allem auch für die musikalische Betätigung im Bereich der Jazz-, Pop- und Rockmusik (vgl. BFH, a.a.O.). Dabei sind bei einer Tätigkeit, die unmittelbar mit dem Instrumentalspiel zusammenhängt, die hochentwickelte manuelle Geschicklichkeit, die Tongebung, die rhythmische Genauigkeit, die Sauberkeit der Intonation sowie die Wendigkeit in der Umsetzung des musikalischen Textes die wesentlichen Kennzeichen für künstlerische Fähigkeit (vgl. BFH, a.a.O.). Bei der Beurteilung der Leistung eines Ensembles im ganzen kommt es insoweit außer auf die genannten musikalisch-instrumentalen Fähigkeiten der einzelnen Musiker weiter darauf an, wie der Vortrag und das Niveau der Darbietungen insgesamt zu bewerten sind; dabei spielen die Präzision im Zusammenspiel, die spezifische Artikulation sowie die Phantasie und Prägnanz bei, der Darbietung improvisierter Teile eine Rolle. Einen erheblichen Einfluß auf diese Bewertung hat es auch, ob und wie die Musik in eigenen Arrangements dargeboten wird. Da ein musikalischer Laie zu diesen Bewertungen kaum imstande sein wird, kann die Frage, ob im Einzelfall eine künstlerische Tätigkeit vorliegt, häufig nur aufgrund eines Gutachtens beantwortet werden (vgl. BFH, a.a.O.).

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Gemessen an diesen Maßstäben haben die beabsichtigten musikalischen Darbietungen im Rahmen des "1. Internationalen Jazz- und Funkfestivals" künstlerischen Charakter. Ausweislich der von den Antragstellern vorgelegten Biographien handelt es sich bei den auftretenden Musikern um international anerkannte Jazz- und Funkmusiker. So wird der Gitarrist Philip Catherine als der "romantischste europäische Musiker seit Django (Reinhardt)" bezeichnet, der die "reine Tradition der Jazz-Gitarre mit dem Jimi Hendrix Erbe" verbinde und dessen Spiel sich durch "Liebenswürdigkeit, Melodiosität und Ausgeglichenheit" auszeichne. Der brasilianische Gitarrist Baden Powell wird von Joachim E. Berendt als der "größte Gitarrist und Komponist des heutigen Brasilien" bezeichnet; sein Spiel wird als "ein Orchester auf 6 Saiten" gepriesen, und seine Kompositionen werden als "eine Musik der Stille, der schwebenden Verhaltenheit und des sanften Understatements" charakterisiert. Der Gitarrist Larry Coryell schließlich gilt ausweislich der vorgelegten Presseinformation als "einer der sensibelsten Gitarristen von heute", und der Däne Niels-Henning Oersted-Pedersen wird als der führende europäische Bass ist bezeichnet. Auch das weiter auftretende Alphonse Mouzon Quartett genießt, wie der vorgelegten Stellungnahme des Rundfunkredakteurs Michael Naura vom 13. Juni 1983 zu entnehmen ist, internationales Ansehen.

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Hiernach ist davon auszugehen, daß die geplanten musikalischen Darbietungen künstlerischen Charakter haben und daß deshalb - bei der gebotenen Auslegung des § 6 Abs. 2 d NFG im Lichte der Kunstfreiheitsgarantie (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) - die gesamte Jazzveranstaltung einem höheren Kunstinteresse im Sinne dieser Vorschrift dient. Die Veranstaltung nimmt darüber hinaus aber auch nach ihrer Art und ihrem äußeren Rahmen auf den ernsten Charakter des Tages im Sinne von § 6 Abs. 2 d NFG Rücksicht. Die dargebotene Jazz- und Funkmusik steht, wie die Kammer aus dem Inhalt der oben auszugsweise wiedergegebenen Charakterisierungen der auftretenden Musiker entnimmt, ihrer Art nach zu dem Charakter des Tages in keinem besonders krassen Widerspruch. Im übrigen hat der Rundfunkredakteur Naura in seiner erwähnten Stellungnahme vom 13. Juni 1983 darauf hingewiesen, daß in der Sendereihe "Radiokonzert auf NDR II" am 17. Juni 1983 in der Zeit von 21.00 bis 22.50 Uhr "eine ähnlich strukturierte Musik" (wie die in ... geplante) - nämlich Musik von Volker Kriegel - erklingen wird. Auch von ihrem äußeren Rahmen her nimmt die geplante Veranstaltung auf den ernsten Charakter des Tages in angemessener Weise Rücksicht. Das Jazz- und Funkkonzert findet in den geschlossenen Räumen der ... Festhalle statt und wird nach Lage der Dinge zu unmittelbaren konkreten Störungen (z.B. durch Lärm) nicht führen. Seitens der Antragsteller ist zudem in ihrem ergänzenden Schriftsatz vom 14. Juni 1983 darauf hingewiesen worden, daß die Festhalle zu der geplanten Veranstaltung mit Stühlen für die Besucher ausgerüstet werden soll und daß es allein durch die vollständige Bestuhlung der Festhalle ausgeschlossen sei, "daß - abgesehen davon, daß die Musikrichtung dieses auch nicht zuläßt - eine Tanzveranstaltung angenommen werden kann".

13

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Dr. Dreiocker
Gärtner
Claaßen