Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 14.05.1985, Az.: 1 Ss 14/85
Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 14.05.1985
- Aktenzeichen
- 1 Ss 14/85
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1985, 31208
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1985:0514.1SS14.85.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Stade - 21.08.1984
- StA Stade - AZ: 2 Js 8589/84
Rechtsgrundlagen
- Art. 4 Abs. 3 S. 2 GG
- Art. 12a Abs. 2 GG
- Art. 103 Abs. 3 GG
- § 26 WPflG
- § 4 KDVG
- § 14a ZDG
- § 15a ZDG
Fundstellen
- NJW 1985, 2428-2429 (Volltext mit amtl. LS)
- StV 1986, 8
Verfahrensgegenstand
Fahnenflucht u.a.
In der Strafsache
...
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die Revision der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Stade
gegen das Urteil des Schöffengerichts Stade vom 21. August 1984
in der Sitzung vom 14. Mai 1985,
an der teilgenommen haben:
Richter am Oberlandesgericht ... als Vorsitzender,
Richter am Oberlandesgericht ...,
Richter am Oberlandesgericht ... als beisitzender Richter,
Oberstaatsanwältin ... als Beamtin der Staatsanwaltschaft,
Justizangestellte ... - während der Verhandlung -
Justizhauptsekretärin ... - während der Verkündung - als Urkundsbeamte der Geschäftsstelle
für Recht erkannt:
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an ein anderes Schöffengericht des Amtsgerichts Stade zurückverwiesen.
Gründe
Der Angeklagte unterliegt der Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland. Er engagiert sich für die Friedensbewegung und lehnt aus Gewissensgründen sowohl den Wehrdienst mit der Waffe als auch den zivilen Ersatzdienst ab. Ein Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer hat er durch Rücknahme seines Antrags beendet. - Einem ersten Einberufungsbescheid kam der Angeklagte Ende 1983 nicht nach. Er wurde deshalb in dem Verfahren 2 Js 547/84 StA Stade durch Urteil des Amtsgerichts Stade vom 17.05.1984 wegen Fahnenflucht zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. - Den ihm danach übermittelten telegrafischen Befehl, seinen Dienst bei der ihm angegebenen Einheit anzutreten, befolgte der Angeklagte nicht. Später entschloß er sich, "um seine Frau nicht durch Besuch von Polizei und Feldjägern zu kompromittieren und weil er, wie er sagt, den Gang des Verfahrens auch weiterhin selbst in der Hand behalten wollte", sich seiner Einheit zu stellen, "ohne jedoch den Wehrdienst ableisten zu wollen". Am Freitag, dem 01.06.1984, meldete er sich gegen 19 Uhr in Stade bei seiner Einheit, verlebte das Wochenende in deren Unterkunft, ohne im Rahmen der Befehlsstruktur bzw. der Organisation seiner Kompanie Handlungen durchzuführen; am Montag, dem 04.06.1984, verweigerte er den ihm von seinem Kompaniechef gegebenen Befehl, die ihm ausgehändigte Uniform anzuziehen.
Dieses Verhalten führte zum Widerruf der Strafaussetzung in der vorerwähnten Sache und ist Gegenstand der dem vorliegenden Verfahren zugrundeliegenden Anklage wegen Fahnenflucht (oder eigenmächtiger Abwesenheit?) und Gehorsamsverweigerung.
Das Schöffengericht hat in Anlehnung an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 07.03.1968 (BVerfGE 23, 191 = NJW 1968, 982 [BVerfG 05.03.1968 - 2 BvR 354/66]) die Ansicht vertreten, einer erneuten Verurteilung stehe das Verbot der Doppelbestrafung des Artikel 103 Abs. 3 GG entgegen, und hat das Verfahren eingestellt. Dagegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Sachrüge.
Das Rechtsmittel hat Erfolg. Die Entscheidung des Schöffengerichts ist weder unter dem Gesichtspunkt des Artikel 103 Abs. 3 GG noch aus einem anderen Grunde gerechtfertigt.
I.
Das Bundesverfassungsgericht hat in der genannten Entscheidung die auf einer ein für allemal und in ihrer Reichweite prinzipiell und nicht punktuell getroffenen, einheitlichen, an den Kategorien von "gut" und "böse" orientierten Gewissensentscheidung beruhende Ablehnung des Wehrdienstes und des zivilen Ersatzdienstes durch die Zeugen Jehovas als ein Dauerverhalten gewertet, das nicht in einzelne konkrete, punktuelle, jeweils neue Handlungen im Sinne des Artikel 103 Abs. 3 GG aufgeteilt werden kann.
II.
Der Senat hält nicht an der in seinem Urteil von 22.01.1970 - 1 Ss 343/69 - (abgedruckt in JZ 1970, 610 = NJW 1970, 1090 [OLG Celle 22.01.1970 - 1 Ss 343/69]) vertretenen Ansicht fest, die in der erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dargelegten Grundsätze zum Verbot der Doppelbestrafung seien nur auf Angehörige der Zeugen Jehovas und nicht auch auf andere sogenannte Totalverweigerer anzuwenden. Diese frühere Meinung blieb vereinzelt. Nachdem das BayObLG in dem Urteil vom 14.03.1983 (StrVert 1983, 369) eine entsprechende Anwendung für zulässige erachtet hat, hat nunmehr das Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen vom 28.02.1984 - 2 BvR 1985, 83 - und - 2 BvR 100/84 - (letzere abgedruckt in NJW 1984, 1675 [BVerfG 28.02.1984 - 2 BvR 100/84]) klarstellend entschieden:
"Soweit (Wenn) im Falle von Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas Art. 103 Abs. 3 GG einer erneuten Bestrafung wegen wiederholter Nichtbefolgung einer Einberufung zum zivilen Ersatzdienst entgegenstand, folgte (so folgt) das Verbot einer nochmaligen Bestrafung nicht aus dem formalen Gesichtspunkt ihrer Religionszugehörigkeit, sondern daraus, daß bei ihnen die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit ihrer Gewissensentscheidung "klar erwiesen" war (BVerfGE 23, 191, 205 [BVerfG 05.03.1968 - 2 BvR 354/66])."
Damit hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur die unmittelbare Anwendung der in seiner früheren Entscheidung vertretenen Ansicht auch für nicht der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehörige Totalverweigerer klargestellt, sondern zugleich auch den Unterschied hervorgehoben, der zwischen beiden Personengruppen besteht: Bei den Zeugen Jehovas wird die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit der Gewissensentscheidung als "klar erwiesen" angesehen, während davon bei den sog. Friedenskämpfern nicht ohne weiteres ausgegangen werden kann. Deren Gewissensentscheidung wird vielfach einem Wandel unterliegen.
Gegen die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit der von dem Angeklagten getroffenen Entscheidung könnte sprechen, daß er, "wenn auch unter Vorbehalt", schließlich seinen Dienst bei der Truppe antrat sowie Wehrsold und weitere Leistungen in Empfang nimmt, die jedem Wehrpflichtigen zustehen (UAS 2). Diese Frage braucht jedoch nicht weiter vertieft zu werden.
III.
Die hier entscheidende - im Ergebnis zu verneinende - Frage ist, ob die Grundsätze zum Verbot der Doppelbestrafung, die das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat, auch bei einem Totalverweigerer anzuwenden sind, dessen Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer rechtskräftig abgelehnt worden ist oder der ein solches Verfahren nicht betrieben hat.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 07.03.1968 (a.a.O.) gibt darüber keine Auskunft.
In seiner Entscheidung vom 22.01.1970 (a.a.O.) hat der Senat bereits auf die Notwendigkeit eines vorausgegangenen Anerkennungsverfahrens hingewiesen. Dieses Verfahren ist bei einer Verweigerung des Kriegsdienstes in Ausführung des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG geregelt in § 26 WPflG (heute in Art. 12 a Abs. 2 GG, §§ 4 ff KDVG). Daraus ist zu schließen, daß das Grundrecht des Art. 4 Abs. 3 GG vom Wehrpflichtigen ausdrücklich in Anspruch genommen werden muß. Es bedarf der Prüfung und der deklaratorischen Feststellung durch einen Verwaltungsakt der zuständigen Verwaltungsbehörde. Wird die Anerkennung abgelehnt, steht der Verwaltungsakt einer Durchsetzung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung entgegen. Es handelt sich also um einen konstitutiv-feststellenden Verwaltungsakt, der für alle Staatsorgane verbindlich ist, sobald er unanfechtbar ist. Auf die Respektierung solcher Hoheitsakte kann ein rechtsstaatlich organisiertes demokratisches Gemeinwesen nicht verzichten. - Deshalb kann der Ansicht des Schöffengerichts nicht gefolgt werden, ein staatliches Monopol zur Gewissensprüfung gäbe es von Gesetzes wegen nicht (UAS 14).
Ähnlich hat das BayObLG (JZ 1970, 609) entschieden. Es hat den Unterschied zwischen als Kriegsdienstverweigerer anerkannten und nicht anerkannten sog. Totalverweigerern darin gesehen, daß bei ersteren die Gewissensentscheidung bereits in einem gesonderten, dafür vorgesehenen Verfahren festgestellt worden ist. Ein solches Verfahren gibt es für Ersatzdienstpflichtige nicht. Ihrem Gewissenskonflikt gegenüber der Ersatzdienstpflicht wird allein in den §§ 14 a, 15 a ZDG Rechnung getragen.
In einer einen Fall der Gehorsamsverweigerung betreffenden Entscheidung hat der BGH (JZ 1971, 190 [BGH 13.10.1970 - 1 StR 434/70]) die Ansicht vertreten, daß die Erweiterung des Begriffs "dieselbe Tat" durch die Besonderheit des Tatbestands der Dienstflucht aus Gewissensgründen gerechtfertigt ist. Ob jemand berechtigt ist, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, ist in dem Anerkennungsverfahren zu entscheiden. Bis zu dieser rechtskräftigen Entscheidung bleibt es ungewiß, ob eine ernsthafte Gewissensentscheidung vorliegt, die allein zur Kriegsdienstverweigerung berechtigt. In strafrechtlicher Hinsicht kann die bloße Erklärung, den Kriegsdienst zu verweigern, weder zum die Handlung beherrschenden Tatbestandsmerkmal werden noch Bindeglied zu einer einheitlichen Handlung sein.
In einer einen Fall der zweiten Verhängung von Arrest als Disziplinarmaßnahme vor einer Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer betreffenden Sache hat das Bundesverfassungsgericht (NJW 1970, 1731) zum Ausdruck gebracht: Die vor der Anerkennung noch bestehende Unsicherheit über das Vorliegen einer ernsthaften Gewissensentscheidung führt wegen der Gefährdung der Einsatzbereitschaft zu der Verpflichtung, vorerst noch Dienst zu leisten. In diesem Stadium soll nach der verfassungsrechtlich zu billigenden Absicht des Gesetzes (SoldG und WehrdiszO) die möglicherweise schon getroffene Gewissensentscheidung für die Pflichten des Soldaten noch irrelevant sein. Dann aber kann sie auch nicht zu dem die innere Tatseite und von da aus die gesamte Handlung beherrschenden Tatbestandsmerkmal und erst recht nicht Bindeglied der mehreren äußeren Handlungen sein.
In der in NJW 1983, 1600 [BVerfG 20.12.1982 - 2 BvR 1272/82] abgedruckten Entscheidung sieht das Bundesverfassungsgericht den Unterschied zu seiner früheren Entscheidung aus dem Jahre 1968 darin, daß dort der Beschuldigte als Kriegsdienstverweigerer anerkannt, seine Gewissensentscheidung also festgestellt war. Darauf nimmt das Bundesverfassungsgericht auch in seiner Entscheidung vom 28.02.1984 - 2 BvR 100/84 - Bezug.
Schließlich sei auf die den Angeklagten betreffende Entscheidung des hiesigen zweiten Senats vom 06.11.1984 - 2 Ws 268/84 - verwiesen.
Nach diesen Grundsätzen, die der Senat nach wie vor für zutreffend hält, stellt sich im Falle des Angeklagten die Frage der Doppelbestrafung nicht.
IV.
Davon abgesehen sind - anders als das Schöffengericht meint - die in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 07.03.1968 dargelegten Grundsätze zum Verbot der Doppelbestrafung auf eine Gehorsamsverweigerung nicht anwendbar (vgl. BVerfG NJW 1983, 1600 [BVerfG 20.12.1982 - 2 BvR 1272/82]; BGH JZ 1971, 190).
V.
Das angefochtene Urteil muß demnach aufgehoben werden. In der Sache selbst vermag der Senat auch zum Schuldspruch keine Entscheidung zu treffen. Bisher ist nämlich unklar, ob sich der Angeklagte der Fahnenflucht oder der eigenmächtigen Abwesenheit schuldig gemacht hat. Die Unklarheit ergibt sich bereits daraus, daß die Anklage nach dem Anklagesatz von eigenmächtiger Abwesenheit ausgeht, jedoch § 16 WStG zitiert. Nach den Urteilsfeststellungen kommt wohl nur eine Fahnenflucht in Betracht. Möglicherweise hat es das Schöffengericht - aus seiner Sicht verständlich - aber unterlassen, dies näher aufzuklären. Darauf deutet die Unschlüssigkeit der rechtlichen Einordnung, des Verhaltens des Angeklagten auf S. 9 UA hin. Für die Gehorsamsverweigerung fehlt es an der Mitteilung näherer Tatumstände.
Die Sache ist daher zu neuer Entscheidung zurückzuverweisen.