Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 15.12.2017, Az.: 2 B 961/17
Freizügigkeitsrecht; Unterhaltsvorschuss; Anspruchsberechtigter
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 15.12.2017
- Aktenzeichen
- 2 B 961/17
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2017, 54048
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 11 Abs 2 FreizügG/EU
- § 3 Abs 4 FreizügG/EU
- § 5 Abs 4 FreizügG/EU
- § 1 Abs 1 UVG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Auch im Unterhaltsvorschussrecht gilt eine Vermutung für das Freizügigkeitsrecht von Angehörigen der Mitgliedstaaten der EU. Dieses Recht erlischt erst mit der Rücknahme dieser Rechtsstellung gemäß §§ 5 Abs. 4, 11 Abs. 2 FreizügG/EU durch die zuständige Ausländerbehörde.
Gründe
I.
Die am G. 2017 in Deutschland geborene Antragstellerin ist rumänische Staatsangehörige. Sie lebt mit Ihrer sorgeberechtigten Mutter, die ebenfalls rumänische Staatsangehörige ist, in D.. Zu diesem Haushalt gehört ebenfalls der am H. 2008 geborene I. -J. A., der Antragsteller im Verfahren 2 B 712/17, in dem es ebenfalls um die Gewährung von Unterhaltsvorschussleistungen ging. Zu dem Vater der Antragstellerin, dem rumänischen Staatsangehörigen Herrn K. L. A., besteht kein Kontakt mehr. Er hält sich derzeit wohl in Spanien oder Portugal auf und zahlt für die Antragstellerin keinen Unterhalt. Die Antragsgegnerin leistete der Antragstellerin und ihrer sorgeberechtigten Mutter bis einschließlich August 2017 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II. Mit Beschluss vom 8. Dezember 2017 verpflichtete das Sozialgericht M. die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung, der Mutter der Antragstellerin ab dem 19. September 2017, längstens bis zum 30. April 2018, Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Der gleichzeitig gestellte Antrag der Antragstellerin wurde mit diesem Beschluss abgelehnt. Zur Begründung führte das Sozialgericht M. an, die Antragstellerin habe voraussichtlich einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschussleistungen, weshalb ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausscheide.
Die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin behandelt die Antragstellerin sowie den Rest der Familie als freizügigkeitsberechtigt. Auf telefonische Nachfrage des Berichterstatters erklärte die zuständige Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde, eine Rücknahme oder ein Widerruf dieser Rechtsstellung sei nicht beabsichtigt.
Mit Bescheid vom 3. November 2017 lehnte die Antragsgegnerin den zuvor gestellten Antrag der Antragstellerin auf Gewährung von Unterhaltsvorschussleistungen ab. Über den hiergegen rechtzeitig eingelegten Widerspruch ist noch nicht entschieden.
Am 16. November 2017 hat die Antragstellerin um die Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtschutzes nachgesucht. Sie ist der Auffassung, freizügigkeitsberechtigt zu sein, weshalb ihr auch ein Anspruch nach dem Unterhaltsvorschussgesetz zustehe.
Die Antragstellerin beantragt,
die Antragsgegnerin vorläufig zu verpflichten, der Antragstellerin Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz, beginnend ab Rechtshängigkeit zu gewähren sowie ihr für diesen Antrag Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin E. zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, die Antragstellerin sei nicht freizügigkeitsberechtigt. Die Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 5 Freizügigkeitsgesetz/EU – FreizügG/EU knüpfe an den Besitz von Personalausweis oder Pass. Ein solcher sei bisher nicht vorgelegt worden. Andere Freizügigkeitsrechte seien im Fall der Antragstellerin nicht einschlägig. Der in unselbständiger Tätigkeit beschäftigte erwachsene Bruder der Antragstellerin sei kein Angehöriger im Sinne des Gesetzes. Von Ihrer Mutter könne die Antragstellerin ebenfalls Rechte nach dem FreizügG/EU nicht ableiten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
II.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis u.a. dann treffen, wenn diese Regelung vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen um wesentliche Nachteile abzuwenden nötig erscheint. Dabei ist gemäß § 123 Abs. 5 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft zu machen, dass die Antragstellerin zur Abwendung dieser Nachteile auf gerichtliche Hilfe angewiesen ist (sogenannter Anordnungsgrund) und dass ein Anspruch auf diese Regelung besteht (sogenannter Anordnungsanspruch).
Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsgrund wie auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Ein Anordnungsgrund ist deshalb glaubhaft gemacht, weil die Antragstellerin derzeit öffentliche Mittel nicht erhält. Das Sozialgericht M. hat es unter Hinweis auf den Anspruch nach dem Unterhaltsvorschussgesetz im einstweiligen Rechtsschutzverfahren abgelehnt, dies auszusprechen.
Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ihr stehen Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz zu, sodass der Bescheid der Antragsgegnerin vom 3. November 2017, der dies verneint, rechtswidrig ist.
Zu Unrecht hat die Antragsgegnerin den Anspruch der Antragstellerin deshalb verneint, weil sie nicht zum leistungsberechtigten Personenkreis gehöre.
Gemäß § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Sicherung des Unterhalts von Kindern alleinstehender Mütter und Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder -ausfallleistungen (Unterhaltsvorschussgesetz -UVG-) in der Bekanntmachung der Neufassung des Unterhaltsvorschussgesetzes vom 17. Juli 2007 (BGBl. I, S. 1446) in der aktuellen Fassung des Artikel 23 des Gesetzes zur Neuregelung des Bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haushaltsrechtlicher Vorschriften vom 14. August 2017 (BGBl. I, S. 3122) hat Anspruch auf Unterhaltsvorschuss oder -ausfallleistungen nach diesem Gesetz (Unterhaltsleistungen), wer
1. das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat,
2, im Geltungsbereich dieses Gesetzes bei einem seiner Elternteile lebt, der ledig, verwitwet oder geschieden ist oder von seinem Ehegatten dauernd getrennt lebt, und
3. nicht oder nicht regelmäßig
a) Unterhalt von dem anderen Elternteil oder,
b) wenn dieser oder ein Stiefelternteil gestorben ist, Waisenbezüge mindestens in der in § 2 Abs. 1 und 2 bezeichneten Höhe erhält.
Diese Voraussetzungen liegen bei der Antragstellerin, zwischen den Beteiligten unstreitig, vor.
Gemäß § 1 Abs. 2 a UVG hat ein nichtfreizügigkeitsberechtigter Ausländer einen Anspruch nach Abs. 1 nur, wenn er oder sein Elternteil nach Abs. 1 Nr. 2 einen Aufenthaltstitel nach den folgenden Nrn. 1 bis 3 besitzt; bei diesen Aufenthaltstiteln handelt es sich entweder um Daueraufenthaltstitel oder solche, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigen.
Im Umkehrschluss folgt hieraus, dass ein freizügigkeitsberechtigter Ausländer zum leistungsberechtigten Personenkreis des § 1 UVG gehört. Einen Aufenthaltstitel im Sinne von § 1 Abs. 2 a Nrn. 1 bis 3 haben weder die Antragstellerin noch ihre sorgeberechtigte Mutter, mit der sie zusammenlebt. Dies ist nach dem Vorbringen der Antragstellerin und demjenigen der Antragsgegnerin zwischen den Beteiligten unstreitig; das Gericht hat sich dies von der zuständigen Mitarbeiterin der Ausländerstelle der Antragsgegnerin bestätigen lassen. Folglich hat die Antragstellerin nur dann einen Anspruch auf die begehrten Leistungen, wenn sie freizügigkeitsberechtigte Ausländerin ist. Dies ist der Fall.
Möglicherweis erfüllt die Antragstellerin nicht die persönlichen Anforderungen an eine freizügigkeitsberechtigte Person im Sinne des FreizügG/EU. Insoweit mag die von der Antragsgegnerin in Ihrer Antragserwiderung vom 29. November 2017 vertretene Rechtsauffassung durchaus nachvollziehbar sein. Indes kommt es hierauf nicht an.
Die Antragstellerin ist, was zwischen den Beteiligten unstreitig und nach Aktenlage unzweifelhaft ist, rumänische Staatsangehörige. Damit ist sie Staatsangehörige der Europäischen Union. Für diese Personen gilt gemäß Artikel 21 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV – ein von der Arbeitnehmerfreizügigkeit unabhängiges Freizügigkeitsrecht, das allein aus der Unionsbürgerschaft folgt. Danach hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten – vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen – frei zu bewegen und aufzuhalten. Es handelt sich um ein unmittelbar anwendbares subjektiv-öffentliches Recht, das dem Unionsbürger unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme zusteht.
Dementsprechend sieht § 2 Abs. 5 FreizügG/EU vor, dass für einen Aufenthalt von Unionsbürgern von bis zu drei Monaten der Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses ausreichend ist. Dieses Recht gilt nicht nur für zuziehende Unionsbürger sondern auch für solche, die wie die Antragstellerin, im Bundesgebiet geboren werden. Dabei ist entgegen der Rechtsauffassung der Antragsgegnerin kein anspruchsbegründender Umstand, dass ein Personalausweis oder ein Reisepass vorliegt. Bei diesem Erfordernis handelt es sich lediglich um eine Modalität des Anwesenheitsrechtes, das sich unmittelbar aus primärem EU-Recht ergibt. Die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates kann auch auf anderem Wege glaubhaft gemacht werden (Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 2 FreizügG/EU Rn. 168; Hailbronner, Ausländerrecht, § 2 FreizügG/EU Rn. 93).
Folgerichtig behandelt die Antragsgegnerin die Antragstellerin ausländerrechtlich als freizügigkeitsberechtigte Person.
Dieses Aufenthaltsrecht der Unionsbürger entfällt, verbunden mit einer Ausreisepflicht nach § 7 FreizügG/EU, erst, sobald die Ausländerbehörde nach §§ 5, 6, 11 Abs. 2 FreizügG/EU festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht besteht. Diese Vorschriften gelten in sinngemäßer Anwendung auch für das Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 5 FreizügG/EU (vgl. Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl., § 2 Rn. 142).
Dies erfordert die Durchführung eines ausländerrechtlichen Verwaltungsverfahrens, das allein den Ausländerbehörden und im Falle eines Rechtsstreits den Verwaltungsgerichten obliegt. Erst nach einer entsprechenden Feststellung findet das Aufenthaltsgesetz Anwendung mit der Folge, dass der Unionsbürger einen Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz benötigt, will er sich weiterhin legal in Deutschland aufhalten (so BFH, Beschluss vom 27.04.2015 – III B 127/14 -, zitiert nach Juris Rn. 13 f; BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R -, zitiert nach Juris Rn. 20; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.04.2016 – L 11 EG 4629/14 -, zitiert nach Juris Rn. 27; OVG Hamburg, Beschluss vom 06.03.2008 – 3 Bs 281/07 -, zitiert nach Juris Rn. 8; Bergmann / Dienelt, a.a.O., § 11 FreizügG/EU Rn. 7; Kloesel / Christ / Häußer, § 2 Rn. 37 und § 11 Rn. 133; Hailbronner, a.a.O., § 5 Rn. 23 und § 11 Rn. 43).
Solange - wie hier - eine Rücknahme der Freizügigkeitsrechtsstellung noch nicht erfolgt ist, gilt eine Vermutung für das Freizügigkeitsrecht. An diese Vermutung ist auch die Antragsgegnerin in Gestalt ihrer Unterhaltsvorschussstelle gebunden.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. 188 Satz 2 VwGO.
Da die Rechtsverfolgung Aussicht auf Erfolg hat und die Antragstellerin wirtschaftlich bedürftig ist, ist ihr unter Beiordnung ihrer Rechtsanwältin Prozesskostenhilfe ab Antragstellung zu bewilligen (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO).