Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 07.04.2020, Az.: 2 A 277/19
Asyl und Abschiebungsschutz; Anerkennung in Griechenland
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 07.04.2020
- Aktenzeichen
- 2 A 277/19
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2020, 35651
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
[Gründe]
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Rechtsanwaltsbeiordnung ist stattzugeben. Denn die notwendigen Voraussetzungen nach § 166 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. §§ 114 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) liegen vor.
Nach diesen Vorschriften erhält ein Beteiligter, der die Kosten der Prozessführung nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Dabei dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der Klage nicht überspannt werden. Denn Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 81, 347 <356> m.w.N.). Dies schließt es nicht aus, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung selbst in das summarische Prozesskostenhilfeverfahren zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl. BVerfGE 81, 347 [BVerfG 13.03.1990 - 2 BvR 94/88] <357>).
1. Gemessen an diesen Voraussetzungen hat die Klage gerichtet auf Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 15. Februar 2019, hilfsweise Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots im für die Beurteilung grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. Juni 2012 - 12 PA 69/12 -, Rn. 2 m.w.N., juris; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2017 - 2 BvR 496/17 -, Rn. 14, juris) hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes ist offen, so dass eine Rechtsverletzung des Klägers aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht ausgeschlossen ist.
Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers unter Nr. 1 des Bescheids als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 Asylgesetz (AsylG) erfolgte ohne Prüfung, ob dem Kläger in Griechenland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Europäischen Grundrechte-Charta (GRCh) droht. Dies ist voraussichtlich unionsrechtswidrig. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 33 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie) berufen kann, um einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn der Antragsteller in dem Mitgliedstaat, der ihm internationalen Schutz gewährt, der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der dortigen Lebensumstände eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren (vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019, Hamed, C-540/17 und C-541/17, EU:C:2019:964, Rn. 35). Art. 4 GRCh entspricht dabei Art. 3 EMRK und hat nach Art. 52 Abs. 3 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 EMRK (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim, C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, EU:C:2019:219, Rn. 89). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass jeder Mitgliedstaat die unionsrechtlichen Vorgaben inklusive der grundrechtlichen Anforderungen wahrt, wobei diese Annahme in der Praxis widerlegt werden kann. Deshalb ist ein Gericht in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die der Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen eines nicht Art. 4 GRCh entsprechenden Standards in dem Schutz gewährenden Mitgliedstaat nachzuweisen, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffend Schwachstellen vorliegen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim, C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, EU:C:2019:219, Rn. 88). Eine diesen grundrechtlichen Anforderungen nicht mehr entsprechende Lage liegt vor, wenn sich ein Antragsteller in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihm nicht mehr erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen, eine Unterkunft zu finden, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim, C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, EU:C:2019:219, Rn. 90; EuGH, Beschluss vom 13. November 2019, Hamed, C-540/17 und C-541/17, EU:C:2019:964, Rn. 39).
Vorliegend wurde der Antrag des Klägers auf internationalen Schutz vom Bundesamt auf Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, mit dem Art. 33 Abs. 2 lit. a) Verfahrensrichtlinie im deutschen Recht umgesetzt wurde, abgelehnt. Diese Ablehnung könnte gegen die zuvor ausgeführte Regelung und die dazu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verstoßen, denn es bestehen hinreichende Anzeichen dafür, dass der Kläger in Griechenland der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der dortigen Lebensumstände eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. Ohne eine abschließende Bewertung vorzunehmen, kann auf Grundlage der der Kammer vorliegenden Erkenntnisse zu den Lebensumständen von Flüchtlingen in Griechenland (vgl. VG Trier, Urteil vom 18. November 2019 - 6 K 3295/19.TR -, juris; VG Köln, Urteil vom 28. November 2019 - 20 K 2489/18.A -, juris; VG Meiningen, Urteil vom 28. Januar 2020 - 2 K 648/19 -, juris; VG Minden, Urteil vom 6. Februar 2020 - 12 K 492/19.A -, juris; VG Würzburg, Urteil vom 24. Februar 2020 - W 8 K 19.32165 -, juris; jeweils mit Nachweisen zu Erkenntnismitteln) zumindest für den Kläger nicht ausgeschlossen werden, dass für diesen die Grundbedingungen eines Art. 4 GRCh entsprechenden Lebens (Nahrung, Unterkunft, Gesundheit) gesichert wären.
Dass das Bundesamt mit dem angegriffenen Bescheid ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) geprüft hat, das den Maßstab des Art. 4 GRCh unter Heranziehung des Art. 3 EMRK berücksichtigt, reicht nach der Rechtsprechung des EuGH nicht aus, denn dies würde zum einen den der Verfahrensrichtlinie als Vermutung zugrunde liegenden Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems entkräften und zum anderen sind mit der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nicht die mit der Anerkennung als Flüchtling gewährten Rechte verbunden (vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019, Hamed, C-540/17 und C-541/17, EU:C:2019:964, Rn. 41 f.). Zudem wäre die Feststellung unter Nr. 2 des angegriffenen Bescheids, dass keine nationalen Abschiebungsverbote bestehen, aufzuheben, wenn die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG rechtswidrig sein sollte, da diese Feststellung dann vorgreiflich wäre.
Sollte die Unzulässigkeitsentscheidung rechtswidrig erfolgt sein, wäre auch die Abschiebungsandrohung (Nr. 3 des Bescheids) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot (Nr. 4 des Bescheids) rechtswidrig.
2. Die Rechtsverfolgung durch den Kläger ist weiterhin nicht mutwillig. Schließlich ist er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen.
3. Die Beiordnung des Rechtsanwalts G. ist nach § 121 Abs. 2 ZPO im Hinblick auf die Bedeutung der Sache erforderlich. Die Kosten der Beiordnung sind auf die eines im Gerichtsbezirk des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ansässigen Rechtsanwalts zu beschränken, da nur diese Aufwendungen zur Rechtsverteidigung notwendig sind (§ 121 Abs. 3 ZPO).
4. Das Verfahren ist nach Maßgabe von § 3 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. der Anlage 1 zu diesem Gesetz gerichtskostenfrei. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO werden außergerichtliche Kosten nicht erstattet.