Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 13.10.2017, Az.: 2 B 712/17

eigener Anspruch; Freizügigkeit; Kind; Schulbesuch; Unterhaltsvorschuss

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
13.10.2017
Aktenzeichen
2 B 712/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 53647
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

Der 2008 geborene Antragsteller ist rumänischer Staatsangehöriger. Er lebt mit seiner sorgeberechtigten Mutter, die ebenfalls rumänische Staatsangehörige ist, in E.. Der Antragsteller besuchte nach seiner Einreise ab November 2016 zunächst die Sprachlernklasse an der I. J. Schule in E.. Seit dem Schuljahr 2017/2018 ist er Schüler der Grundschule K. L. in E.; sein Unterrichtsbesuch ist regelmäßig. Der Vater des Antragstellers, ebenfalls rumänischer Staatsangehöriger, war mindestens seit 17. Dezember 2015 bis mindestens Dezember 2016 geringfügig beschäftigt bei der Firma M. in N.. Er ist ab dem 17. Mai 2017 von Amts wegen nach unbekannt abgemeldet worden. Die Mutter des Antragstellers hat ausweislich ihrer notariell beglaubigten Erklärung vom 14. Juni 2017 keinen Kontakt mehr zu ihrem Ehemann, dem Vater des Antragstellers. Sie habe erfahren, dass er sich in Spanien aufhalte. Unterhalt leistet der Vater keinen für den Antragsteller.

Die Antragsgegnerin leistete dem Antragsteller und seiner sorgeberechtigten Mutter bis einschließlich August 2017 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II. Dabei entfielen auf den Antragsteller 421,00 €. Seit August 2017, zuletzt verlängert bis zum 18. Oktober 2017 gewährt die Antragsgegnerin dem Antragsteller und seiner Mutter Übergangsleistungen nach § 23 Sozialgesetzbuch XII. Auf den Antragsteller entfallen hiervon 259,31 €.

Am 29. Dezember 2016 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz.

Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 23. August 2017 ab. Der Antragsteller gehöre nicht zum leistungsberechtigten Personenkreis. Er sei weder selbst freizügigkeitsberechtigt noch könne er ein solches Recht von seinem Vater ableiten. Auf ein Daueraufenthaltsrecht könne sich weder der Antragsteller noch seine Mutter berufen.

Über den hiergegen fristgemäß eingelegten Widerspruch ist bisher nicht entschieden worden.

Am 31. August 2017 hat der Antragsteller um die Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes nachgesucht.

Zur Begründung seines Antrags trägt er im Wesentlichen vor, er habe einen Anspruch auf Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz. Er sei freizügigkeitsberechtigt; wenn er selbst nicht freizügigkeitsberechtigt sei, könne er dieses Recht jedenfalls von seinem Halbbruder O. -P. ableiten; dieser sei Arbeitnehmer. Auch könne er ein Freizügigkeitsrecht von seiner Mutter ableiten. Diese sei Opfer häuslicher Gewalt geworden.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihm Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz beginnend ab Rechtshängigkeit zu gewähren sowie, ihm für diesen Antrag Prozesskostenhilfe ab Antragstellung zu bewilligen und Rechtsanwältin F. aus E. beizuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie ist der Auffassung, es sei unklar, ob sich der Antragsteller auf ein Freizügigkeitsrecht berufen könne. Hierfür müsse aufgeklärt werden, ob sein Vater seine Arbeitsstelle freiwillig oder unfreiwillig verloren hat. Diesbezügliche Aufklärungsbemühungen ihrerseits seien bisher vom Arbeitgeber nicht beantwortet worden. Es sei Sache des Antragstellers, das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen glaubhaft zu machen. Dies sei ihm nicht gelungen. Auch fehle es dem Antragsteller an einem Anordnungsgrund, da er Überbrückungsgeld erhalte.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Beschlussfassung gewesen.

II.

Gemäß § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis u.a. dann treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden nötig erscheint. Dabei ist gemäß § 123 Abs. 5 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft zu machen, dass der Antragsteller zur Abwendung dieser Nachteile auf gerichtliche Hilfe angewiesen ist (sog. Anordnungsgrund) und dass ein Anspruch auf diese Regelung besteht (sog. Anordnungsanspruch).

Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsgrund wie auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Ein Anordnungsgrund ist deshalb glaubhaft gemacht, weil der Antragsteller derzeit nur ein Überbrückungsgeld nach § 23 Sozialgesetzbuch -SGB- XII erhält, das etwa 160,00 € geringer ausfällt, als sein Anspruch nach dem SGB II, das zur Deckung des wirtschaftlichen Existenzminimums dient. Ab dem 18. Oktober soll nach der Auffassung der Antragsgegnerin der Antragsteller nicht einmal mehr dieses Überbrückungsgeld erhalten.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ihm stehen Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz zu, so dass der Bescheid der Antragsgegnerin vom 23. August 2017, der dies verneint, rechtswidrig ist.

Zu Unrecht hat die Antragsgegnerin den Anspruch des Antragstellers deshalb verneint, weil er nicht zum leistungsberechtigten Personenkreis gehöre.

Gemäß § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Sicherung des Unterhalts von Kindern alleinstehender Mütter und Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder -ausfallleistungen (Unterhaltsvorschussgesetz -UVG-) in der Bekanntmachung der Neufassung des Unterhaltsvorschussgesetzes vom 17. Juli 2007 (BGBl. I, S. 1446) in der aktuellen Fassung des Artikel 23 des Gesetzes zur Neuregelung des Bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haushaltsrechtlicher Vorschriften vom 14. August 2017 (BGBl. I, S. 3122) hat Anspruch auf Unterhaltsvorschuss oder -ausfallleistungen nach diesem Gesetz (Unterhaltsleistungen), wer

1. das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat,

2. im Geltungsbereich dieses Gesetzes bei einem seiner Elternteile lebt, der ledig, verwitwet oder geschieden ist oder von seinem Ehegatten dauernd getrennt lebt, und

3. nicht oder nicht regelmäßig

a) Unterhalt von dem anderen Elternteil oder,

b) wenn dieser oder ein Stiefelternteil gestorben ist, Waisenbezüge

mindestens in der in § 2 Abs. 1 und 2 bezeichneten Höhe erhält.

Diese Voraussetzungen liegen beim Antragsteller, zwischen den Beteiligten unstreitig, vor.

Gemäß § 1 Abs. 2 a UVG hat ein nichtfreizügigkeitsberechtigter Ausländer einen Anspruch nach Abs. 1 nur, wenn er oder sein Elternteil nach Abs. 1 Nr. 2 einen Aufenthaltstitel nach den folgenden Nrn. 1 bis 3 besitzt; bei diesen Aufenthaltstiteln handelt es sich entweder um Daueraufenthaltstitel oder solche, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigen.

Im Umkehrschluss folgt hieraus, dass ein freizügigkeitsberechtigter Ausländer zum leistungsberechtigten Personenkreis des § 1 UVG gehört. Einen Aufenthaltstitel im Sinne von § 1 Abs. 2 a Nrn. 1 bis 3 haben weder der Antragsteller noch seine sorgeberechtigte Mutter, mit der er zusammen lebt. Dies ist nach dem Vorbringen des Antragstellers und demjenigen der Antragsgegnerin zwischen den Beteiligten unstreitig; das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass dies anders zu beurteilen wäre. Folglich hat der Antragsteller nur dann einen Anspruch auf die begehrten Leistungen, wenn er freizügigkeitsberechtigter Ausländer ist. Dies ist der Fall.

Gemäß § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU -FreizügG/EU- vom 30. Juli 2004, BGBl. I, S. 1950, 1986) haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes. Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt u.a. Familienangehörige der Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen, unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU. Gemäß § 3 Abs. 1 FreizügG/EU haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 genannten Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Für Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 5 genannten Unionsbürger gilt dies nach Maßgabe des § 4. Familienangehörige sind gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU die Verwandten in gerader aufsteigender und in gerader absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten oder Lebenspartner, denen diese Personen oder ihre Ehegatten oder Lebenspartner Unterhalt gewähren.

Der Antragsteller ist mit seinem Vater, Herrn Q. R. S. A., geboren 1980 in gerader Linie verwandt. Sein Vater, Angehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, ist in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, um hier eine Berufstätigkeit auszuüben. Ausweislich der in den Verwaltungsvorgängen enthaltenen Verdienstbescheinigungen seines Arbeitgebers, der Firma M. in N. ist er am 17. Dezember 2015 in die Firma eingetreten und hat mindestens bis zum 19. Dezember 2016 dort gearbeitet. Dass er lediglich einen Aushilfslohn von mtl. 450 € erhalten hat, ändert an seiner Arbeitnehmereigenschaft nichts. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Artikel 48 EG-Vertrag nicht eng auszulegen. Er ist nach objektiven Kriterien zu definieren, wobei das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin besteht, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Außer Betracht bleiben allein solche Tätigkeiten, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (EuGH, Urteil vom 06.11.2003 - C-413/01 -, zitiert nach juris Rn. 23 bis 26). Grundsätzlich unterfallen dem Arbeitnehmerbegriff auch geringfügige Beschäftigungen. Anhaltspunkte dafür, dass die Beschäftigung des Vaters des Antragstellers völlig untergeordnet gewesen ist, hat das Gericht nicht. Der Antragsteller, der seinem Vater mit seiner sorgeberechtigten Mutter nachgezogen ist, ist mithin Familienangehöriger im Sinne von § 3 Abs. 2 FreizügG/EU.

Gemäß § 3 Abs. 4 FreizügG/EU behalten die Kinder eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers und der Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich ausübt, auch nach dem Tod oder Wegzug des Unionsbürgers, von dem sie ihr Aufenthaltsrecht ableiten bis zum Abschluss einer Ausbildung ihr Aufenthaltsrecht, wenn sich die Kinder im Bundesgebiet aufhalten und eine Ausbildungseinrichtung besuchen. Diese Vorschrift findet ihre Entsprechung in Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. Nr. L141 S. 1). Danach können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedsstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen.

Diese Vorschriften regeln bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers, von dem sie ihr Aufenthaltsrecht ableiten, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Kinder und den sorgeberechtigten Elternteil, solange die Ausbildung der Kinder noch nicht abgeschlossen ist. Es genügt für den Anspruch, dass das Kind, das im Aufnahmemitgliedsstaat eine Ausbildung absolviert, in diesem Staat seinen Wohnsitz zu dem Zeitpunkt genommen hat, während einer seiner Elternteile dort ein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer hatte (vgl. Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 3 FreizügG/EU Rn. 101; Heilbronner, Ausländerrecht, § 3 Freizügigkeitsgesetz/EU Rn. 49; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage, § 3 FreizügG/EU Rn. 67 ff.).

Ein solch eigenständiges Freizügigkeitsrecht hat der Antragsteller erworben.

Er ist im November 2016 in die Sprachlernklasse der I. J. Schule in E. eingeschult worden. Dies steht zur Überzeugung des Gerichts nach der Auskunft der Schulleiterin der L. -Grundschule, Frau T., fest. Diese Schule besucht der Antragsteller derzeit in regelmäßigem Umfang. Im November 2016, zu Beginn des Schulbesuchs des Antragstellers in Deutschland war dessen leiblicher Vater noch bei der Firma M. als Arbeitnehmer beschäftigt. Nach dessen Wegzug, vermutlich in Richtung Spanien, vermutlich im Februar 2017, hat der Antragsteller somit gemäß § 3 Abs. 4 FreizügG/EU ein eigenständiges unionsrechtliches freizügigkeitsberechtigendes Aufenthaltsrecht erlangt.

Anders als das Recht der Grundsicherung für Arbeitssuchende kennt das Unterhaltsvorschussgesetz eine Beschränkung des leistungsberechtigten Personenkreises in Bezug auf diejenigen Personen, die ihr Aufenthaltsrecht aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates ableiten nicht. Nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 c SGB II ist dieser Personenkreis und ihre Familienangehörigen vom leistungsberechtigten Personenkreis nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II (BGBl. I S. 2954) ausgeschlossen. Eine solche Beschränkung, deren Europarechtskonformität hoch umstritten ist (vgl. insoweit zusammenfassend LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.09.2017 - L 21 AS 1459/17 B ER -, juris Rn. 49 ff.) findet sich im Unterhaltsvorschussgesetz nicht. Hier genügt es, dass die leistungsberechtigte Person, hier der Antragsteller, freizügigkeitsberechtigt nach dem FreizügG/EU ist. Dies ist beim Antragsteller, wie dargelegt, der Fall.

Auf die von der Antragsgegnerin in die Mitte ihrer Überlegungen gestellte Frage, ob der Vater des Antragstellers seine Arbeitnehmereigenschaft freiwillig oder unfreiwillig aufgegeben hat, kommt es damit rechtlich nicht an. Der Antragsteller hat, wie dargelegt, ein eigenständiges freizügigkeitsrechtliches Aufenthaltsrecht erworben, das ihm auch im Falle der freiwilligen Arbeitslosigkeit seines Vaters während seiner Ausbildung nicht genommen werden kann und an das das Unterhaltsvorschussgesetz eine Leistungseinschränkung nicht knüpft.

Gemäß § 154 Abs. 1 VwGO hat die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden gemäß § 188 S. 2 VwGO nicht erhoben.

Da die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, ist dem Antragsteller für dieses Verfahren gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO Prozesskostenhilfe ab Antragstellung zu bewilligen und seine Prozessbevollmächtigte beizuordnen.