Amtsgericht Varel
Urt. v. 20.06.1974, Az.: 2 C 135/73

Beseitigung von über das Nachbargrundstück hängenden Zweigen; Nebeneinander von Selbsthilferecht und Beseitigungsanspruch; Beeinträchtigung des Eigentums der Klägerin hinsichtlich der Unmöglichkeit einer Bearbeitung ihres Ackers

Bibliographie

Gericht
AG Varel
Datum
20.06.1974
Aktenzeichen
2 C 135/73
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1974, 14155
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:AGVAREL:1974:0620.2C135.73.0A

Verfahrensgegenstand

Beseitigung überhängender Zweige

In dem Rechtsstreit
hat das Amtsgericht Varel
auf die mündliche Verhandlung vom 6.6.1974
durch
den Richter Müller
für Recht erkannt:

Tenor:

Das beklagte Land wird verurteilt, die von dem seinem Eigentum stehenden Waldgrundstück (Grundstück Flur 18, Flurstück 34/5, eingetragen im Grundbuch von Friesische Wehde Band 127 Blatt 4958) auf die angrenzenden Grundstücke der Klägerin. (Flur 19 Flurstücke 150 und 348/150, eingetragen im Grundbuch von Friesische Wehde Band 9 Blatt 211) überhängenden Zweige zu beseitigen.

Das beklagte Land trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Dieses Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 1.000,- DM vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Ein etwa 5 ha großes Grundstück der Klägerin grenzt mit einer etwa 370 m langen in Nordsüd-Richtung verlaufenden Seite an ein Waldgrundstück des beklagten Landes Niedersachsen. Die Klägerin verlangt Beseitigung der über die Grenze hängenden Zweige wegen der dadurch verursachten Behinderung der Bearbeitung ihres Ackers mit Maschinen bis an die Grenze heran. Auf die Begründung in der Klageschrift vom 9. Mai 1973 wird verwiesen.

2

Die Klägerin beantragt,

das beklagte Land zu verurteilen,

die von dem im Eigentum der Beklagten stehenden Grundstück Flur 18 Flurstück 34/5, eingetragen im Grundbuch von Friesische Wehde Band 127 Blatt 4958, auf die angrenzenden Grundstücke der Klägerin, Flur 19 Flurstücke 150 und 348/150, eingetragen im Grundbuch von Friesische Wehde Band 9, Blatt 211, überhängenden Zweige zu beseitigen.

3

Das beklagte Land Niedersachsen beantragt,

die Klage abzuweisen.

4

Solange der Grenzverlauf nicht festgestellt worden war, hat das Land bestritten, daß Zweige über die Grenze hinüberragen. Weiterhin wendet es ein, daß die Klägerin durch herüberhängende Zweige nicht nennenswert beeinträchtigt werde. Der Klägerin stehe auch kein Beseitigungsrecht nach § 1004 BGB zu, da sie von ihrem Selbshilferecht nach § 910 BGB durch Abschneiden der herüberragenden Zweige Gebrauch machen könne. Zudem sei durch §§ 58 und 59 des Niedersächsischen Nachbarrechtsgesetzes vom 31. März 1967 jeder Beseitigungsanspruch ausgeschlossen. Im übrigen wird wegen der Einwendungen auf die Klageerwiderung vom 2. April 1973 verwiesen.

5

Durch Augenscheinseinnahme im Grenzbereich ist Beweis erhoben worden. Wegen der dabei getroffenen Feststellungen und wegen des Vorbringens der Parteien dabei wird auf die Niederschriften vom 10. Mai 1973 und 6. Juni 1974 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

6

Die Klage ist nach § 1004 BGB begründet. Nach Kennzeichnung des Grenzverlaufs durch von der Katasteramtverwaltung gesetzte Grenzsteine ist durch Augenschein festgestellt worden, daß Zweige von Bäumen und Büschen, die auf dem Grundstück des beklagten Landes wachsen, über die Grenze in den Raum über dem Grundstück der Klägerin herüberragen. Diese hinübergewachsenen Zweige stellen eine Beeinträchtigung des Eigentums der Klägerin dar, weil die Klägerin durch die Zweige gehindert wird, mit landwirtschaftlichen Maschinen zur Bearbeitung ihres Ackers bis an die Grenze heranzufahren. Durch das der Klägerin nach § 910 BG zustehende Selbsthilferecht wird ihr Beseitigungsanspruch nach § 1004 BGB nicht aufgehoben oder eingeschränkt. Diese beiden Rechte bestehen nebeneinander (vergleiche dazu BGH-Urteil vom 23.2.1973 VZR 109/71 NJW 1973 Seite 701 (705)). Das Selbshilferecht soll den Schutz des Eigentümers gegenüber Einwirkungen vom Nachbargrundstück verstärken und nicht schwächen, was der Fall wäre, wenn das Recht aus § 910 BGB Beseitigungsansprüche nach § 1004 BGB ausschließen würde. Die Ausführungen dazu in der Klageschrift sind überzeugender als die dagegen erhobenen Einwendungen. Die zur Stützung der Einwendungen zitierten Gründe des Urteils des Reichsgerichts vom 19.12.1929 abgedruckt in RGZ Band 127 Seite 29 ff. insbesondere Seite 34 sprechen mehr für einen Anspruch der Klägerin als dagegen: Danach genügt es, wenn durch einen Beseitigungsanspruch nach § 1004 BGB begründenden schädlichen Einwirkungen von Naturkräften verursacht worden sind, die auf Grund eines Zustandes wirken konnten, den der Störer mit Willen handelnd geschaffen hat. Auf diesen Fall übertragen bedeutet das, daß der vom Land willentlich angelegte oder gepflegte Wald der Zustand ist, aus dem heraus durch Naturereignisse, nämlich durch natürliches Wachstum auch ohne unmittelbare menschliche Tätigkeit die beeinträchtigende Einwirkung auf das Grundstück der Klägerin verursacht wird. Die in der Klageerwiderung konstruierte Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung und Einwirkung ist ohne Bedeutung. Durch die Vorschriften des Niedersächsischen Nachbarrechtsgesetzes vom 31.3.1967 (NGBl Seite 91 ff.) wird der Anspruch der Klägerin nach § 1004 BGB nicht berührt. Die §§ 58 und 59 des Nachbarrechtsgesetzes sind für diesen Streitfall ohne Bedeutung, da die Klägerin nicht Beseitigung von Gehölzen im Grenzbereich oder Einhaltung eines Mindestabstandes der Anpflanzungen auf dem Forstgrundstück von der Grenze verlangt, sondern nur Beseitigung der über die Grenze hinüberragenden Zweige.

7

Das forstliche Bestreben, einen geschlossenen Waldrand heranzuziehen zu erhalten, ist kein dem Abwehranspruch nach § 1004 BGB der Klägerin entgegenstehender Rechtfertigungsgrund für das ständige Weiterwachsenlassen der im Grenzbereich angepflanzten und angeflogenen Gehölze. Denn andernfalls wäre nicht zu verhindern, daß der Wald sich immer mehr auf das benachbarte Grundstück hin entwickelt. Das ist der Klägerin auch unter dem Gesichtspunkt eines hohen Nutzens von Waldgrundstücken für die Allgemeinheit nicht zuzumuten. Denn auch die Tatsache, daß Ackergrundstücke von den nutzungsberechtigten Eigentümern landwirtschaftlich genutzt werden ist für die Landeskultur und damit für die Allgemeinheit von großer Bedeutung. Wenn der Grundeigentümer dulden müßte, daß der Waldrand seiner Geschlossenheit wegen immer weiter auf das Nachbargrundstück vordringt, würde irgendwann ein Zustand erreicht, der die Nutzung eines landwirtschaftlichen Grundstücks nicht mehr lohnend erscheinen lassen könnte. Zudem ist das Aufbrechen des sogenannten geschlossenen Waldrandes durch das Abschneiden der überhängender Zweige nicht so bedeutsam, wie etwa das Herausschlagen ganzer Bäume des Waldrandes. In diesem Falle ist auch noch zu berücksichtigen, daß der östliche Waldrand, um den es sich hier handelt, gewöhnlich nicht sehr starken Sturmwinden ausgesetzt ist.

8

Die Kosten des Rechtsstreits waren nach § 91 ZPO dem beklagten Land als unterlegener Partei aufzuerlegen. Nach § 710 ZPO war das Urteil für vorläufig vollstreckbar zu erklären.

Streitwertbeschluss:

In vorbezeichneter Sache wird der Streitwert nach § 3 ZPO gemäß Angabe in der Klageschrift und den Ausführungen auf Seite 4 der Klageerwiderung auf 600,- DM festgesetzt.

Müller