Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 19.10.2011, Az.: Ss 140/11
Terminsverlegung; Verhinderung des Verteidigers; rechtliches Gehör; Bußgeldverfahren
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 19.10.2011
- Aktenzeichen
- Ss 140/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 45322
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 103 Abs 1 GG
- Art 2 Abs 1 GG
- § 74 Abs 2 OWiG
- § 80 Abs 1 Nr 2 OWiG
- § 80 Abs 3 OWiG
- § 344 Abs 2 StPO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Das Recht des Betroffenen, sich in einem Bußgeldverfahren durch einen Anwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen, ist Ausdruck seines Anspruchs auf ein faires Verfahren.
Die gebotene Ermessensentscheidung über ein Terminsverlegungsgesuch, dem die Verhinderung des Verteidigers zugrunde liegt, ist fehlerhaft, wenn sie sich neben einzelfallbezogenen Umständen jedenfalls auch auf die Geschäftslage des erkennenden Gerichts stützt.
Der Verstoß gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren verletzt zwar Art 2 Abs.1 GG, stellt jedoch nicht zwingend auch einen Verstoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs.1 GG) dar.
Ein Verstoß gegen Art 103 Abs.1 GG liegt jedoch vor, wenn durch eine Verfahrensrüge vorgebracht wird, dass das Gericht bei Ablehnung des Terminsverlegungsgesuchs Entschuldigungsvorbringen nicht gewürdigt hat.
Hat das Gericht kein Entschuldigungsvorbringen übergangen, kommt ein Verstoß gegen Art 103 Abs.1 GG auch dann in Betracht, wenn der Betroffene in einer Verfahrensrüge vorträgt, was er in der Hauptverhandlung, zu seiner Verteidigung vorgebracht hätte.
Tenor:
Der Antrag der Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Hann. Münden vom 30. Mai 2011 wird kostenpflichtig verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Hann. Münden hat den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Landkreises Göttingen vom 3. Dezember 2010, durch den ein Bußgeld in Höhe von 70,- € wegen Geschwindigkeitsüberschreitung festgesetzt wurde, gemäß § 74 Abs.2 OWiG verworfen. Gegen das am 3. Juni 2011 zugestellte Verwerfungsurteil hat der Betroffene mit einem am 8. Juni 2011 beim Amtsgericht Hann. Münden eingegangenen Schriftsatz die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt und diese in einem weiteren, am 4. Juli 2011 eingegangenen Schriftsatz mit der Versagung rechtlichen Gehörs begründet. Die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig hat beantragt, die Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Hann. Münden vom 30. Mai 2011 zugelassen, das genannte Urteil aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Hann. Münden zurückverwiesen.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen. Das Amtsgericht Hann. Münden hat keinen Verstoß gegen das rechtliche Gehör begangen, indem es die Hauptverhandlung trotz des Terminsverlegungsgesuchs in Abwesenheit des Betroffenen und seines Verteidigers durchgeführt hat. Von der Abwesenheit des Verteidigers ist auszugehen, obgleich sich dessen Anwesenheit aus dem Sitzungsprotokoll ergibt. Die Beweiskraft eines Protokolls entfällt jedoch, wenn der Vorsitzende - wie hier in der dienstlichen Äußerung vom 12. September 2011 (Bl. 65 R, 66 d.A.) - von dessen Inhalt abrückt (BGH, Beschluss vom 18.09.1987, 3 StR 398/87, juris, Rn. 4; Karlsruher Kommentar/Engelhardt, 6. Auflage, § 274 Rn. 8).
1. Das Verlegungsgesuch wurde auch mit einer nicht in jeder Hinsicht tragfähigen Begründung abgelehnt. In einem Bußgeldverfahren hat der Betroffene regelmäßig das Recht, sich durch einen Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen. Diese Gewährleistung ist Ausdruck seines Anspruchs auf ein faires Verfahren (OLG Köln, Beschluss vom 22.10.2004, 8 Ss-OWi 48/04, juris, Rn.19, 21; OLG Thüringen, Beschluss vom 13.08.2007, 1 Ss 145/07, juris, Rn.8; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 31.01.2006, 1 Ss 165/05, juris, Rn.6; BayObLG, Beschluss vom 31.10.2001, 1 ObOWi 433/01, juris, Rn.5). Der Vorsitzende ist deshalb unter anderem gehalten, über Terminsverlegungsanträge nach pflichtgemäßen Ermessen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu entscheiden (OLG Thüringen, a.a.O.; OLG Karlsruhe, a.a.O.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 31.08.2010, 2 SsRs 170/10, juris, Rn.8; OLG Bamberg, Beschluss vom 04.03.2011, 2 Ss (OWi) 209/11, juris, Rn.7). Die gebotene Ermessensentscheidung war hier schon deshalb fehlerhaft, weil sich das Amtsgericht bei Ablehnung der Terminsverlegung - neben einzelfallbezogenen Umständen (Bagatellvorwurf u.a.) - jedenfalls auch auf die Vielzahl der dort sonst jährlich anhängigen Bußgeldverfahren gestützt hat: Dieser Umstand durfte bei der Ermessensentscheidung aber keine Berücksichtigung finden, weil die Geschäftslage des erkennenden Gerichts - mag sie auch noch so besorgniserregend sein - eine etwaige Abweichung vom Grundsatz des fairen Verfahrens schon unter rechtstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen vermag (OLG Braunschweig, Beschluss vom 04.05.2004, 1 Ss 5/04, juris, Rn.10 [Strafverfahren] OLG Hamm, Beschluss vom 26.04.2007, 4 Ss (OWi) 303/07, juris, Rn.14). Dass der allgemeine Geschäftslage des Gerichts ("ca. 1.200 Bußgeldsachen") bei der Entscheidung maßgebliche Bedeutung zukam, zeigt sich daran, dass Terminsverlegungen nach der Auffassung des Amtsgerichts "nur in ganz engen Ausnahmefällen" möglich sein sollen.
Weil ein Ermessensfehler vorliegt, kommt es nicht darauf an, ob die Terminsverlegung mit anderer Begründung ermessensfehlerfrei hätte abgelehnt werden können. Der Senat weist allerdings darauf hin, dass eine Terminsverlegung bei einem Sachverhalt, wie er vorliegend in den Urteilsgründen beschrieben wird, bei individueller Begründung auch ermessensfehlerfrei hätte abgelehnt werden können (vgl. hierzu: OLG Hamm, Beschluss vom 03.08.1999, 2 Ss OWi 590/99, juris, Rn.15; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 31.01.2006, 1 Ss 165/05, juris, Rn.7; OLG Koblenz, Beschluss vom 10.09.2009, 2 SsRs 54/09, juris, Rn.7).
2. Der Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, der aus dem allgemeinen Freiheitsgrundrecht (Art.2 Abs.1 GG) folgt (BVerfG, Beschluss vom 26.05.1981, 2 BvR 215/81, juris, Rn.64), führt im konkreten Fall allerdings nicht zum Erfolg des Zulassungsantrags, weil dem Betroffenen rechtliches Gehör i.S.d. Art 103 Abs.1 gewährt wurde und einem etwaigen Verstoß gegen einen anderen Verfassungsgrundsatz für den einschlägigen Zulassungsgrund (§ 80 Abs.1 Nr.2 OWiG) keine Bedeutung zukommt (BayObLG, Beschluss vom 07.09.1995, 3 ObOWi 60/95, juris, Rn.13; Karlsruher Kommentar/Senge, OWiG, 3. Aufl., § 80 Rn.40). Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, auf entscheidungserheblichen Vortrag einzugehen und sich in einem Verwerfungsurteil mit diesem Vorbringen auseinanderzusetzen (BVerfG, NZV 2005, 51 [BVerfG 20.04.2004 - 2 BvR 297/04]; OLG Köln, Beschluss vom 04.02.1999, Ss 45/99, juris, Rn. 7; OLG Braunschweig, Beschluss vom 22. Juni 2010, Ss (OWiZ) 121/10, unveröffentlicht).; das hat das Gericht getan. Wird ein Einspruch gemäß § 74 Abs.2 OWiG verworfen, kann der erforderliche Verstoß gegen Art. 103 Abs.1 GG zwar bereits daran liegen, dass wesentliches Entschuldigungsvorbringen nicht gewürdigt werden (OLG Köln, a.a.O., Rn.8). Daran fehlt es jedoch, weil sich das Amtsgericht im angefochtenen Urteil - wenn auch ermessensfehlerhaft - mit dem im Zulassungsantrag dargestellten und damit für den Senat allein maßgeblichen (§§ 80 Abs.3 S.3 OWiG, 344 StPO) Entschuldigungsvorbringen des Betroffenen auseinandergesetzt hat. Obgleich der Verstoß gegen das rechtliche Gehör im Wege der Verfahrensrüge vorzubringen ist (ständige Rechtsprechung: vgl. z.B. OLG Köln, Beschluss vom 04.02.1999, Ss 45/99, juris, Rn.7), ist kein Entschuldigungsgrund erkennbar, das das Gericht in den Urteilsgründen unberücksichtigt gelassen hätte.
Soweit der Senat im Hinweis vom 26. August 2011 den Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 4. März 2011 (2 Ss (OWi) 209/11) herangezogen hat, um einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör zu begründen, ist hieran nach nochmaliger Überprüfung nicht festzuhalten: Wird die Gehörsverletzung nicht mit einem Übergehen von Entschuldigungsgründen, sondern alternativ damit begründet, dass das Vorgehen nach § 74 Abs.2 OWiG dem Betroffenen die Hauptverhandlung genommen habe, ist im Wege der Verfahrensrüge vorzutragen, welchen Sachvortrag der Betroffene im Termin gehalten hätte (OLG Köln, Beschluss vom 04.02.1999, Ss 45/99, juris, Rn.7; Karlsruher Kommentar/Senge, OWiG, 3. Aufl., § 80 Rn.40 c). Davon geht erkennbar auch das Oberlandesgericht Bamberg im zitierten Beschluss aus. Denn das Gericht hat den zunächst festgestellten Verstoß gegen den Grundsatz fairer Prozessführung (vgl. OLG Bamberg, a.a.O., juris, Rn.15) nur deshalb auch als solchen gegen das rechtliche Gehör bewertet, weil der (dort) Betroffene im Wege der Verfahrensrüge Ausführungen dazu gemacht hat, was er in der Hauptverhandlung zu seiner Verteidigung vorgebracht hätte (OLG Bamberg, a.a.O., juris, Rn.19 f.). An einem solchen Vortrag fehlt es im konkreten Fall indes. Dass der Betroffene beispielsweise - wie in der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft ausgeführt - die zunächst eingeräumte Tat im Termin in Abrede nehmen wollte, ist dem Zulassungsantrag nicht zu entnehmen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 473 Abs. 1 StPO, 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 S. 2 und Abs. 4, 46 Abs. 1 OWiG.