Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 09.05.2011, Az.: 7 B 58/11

Dublin-Verfahren; Italien

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
09.05.2011
Aktenzeichen
7 B 58/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 45223
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Es bestehen erhebliche Zweifel, ob nach einer Abschiebung im Dublin-Verfahren die Durchführung eines ordnungsgemäßen Asylverfahrens in Italien gewährleistet ist.

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 09.03.2011 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Der im Jahr 1988 geborene Antragsteller ist sudanesischer Staatsangehöriger. Zur Begründung seines am selben Tag gestellten Asylantrages gab der Antragsteller am 25.11.2010 an, er sei über Griechenland, wo er auf der Insel Samos nur erkennungsdienstlich behandelt worden sei, und Italien, wo er einen Asylantrag gestellt habe, nach Deutschland eingereist. Am 27.01.2011 bat die Antragsgegnerin Italien um Übernahme des Asylverfahrens. Mit Schreiben vom 10.02.2011 erklärten die italienischen Behörden ihre Zuständigkeit zur Bearbeitung des Asylantrages. Mit Bescheid vom 09.03.2011 lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Italien an. Der Antragsteller sollte am 22.03.2011 auf dem Luftweg nach Rom verbracht werden.

Der Antragsteller hat am 18.03.2011 um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und vorgetragen, dass er nach einer Überstellung nach Italien keinen Schutz entsprechend der europaweit vereinbarten Mindeststandards erlangen könne. Darüber hinaus drohe ihm auch seitens der italienischen Behörden eine unzulässige Kettenabschiebung nach Griechenland.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 09.03.2011 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie erwidert, die Situation der Asylsuchenden in Italien sei nicht mit der Situation in Griechenland vergleichbar. Die Mindeststandards europäischen Flüchtlingsschutzes in Italien seien offensichtlich eingehalten, wenn auch die medizinische Versorgung oder die Unterbringung von Schutzsuchenden nicht immer optimal sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin und die Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Der nach § 80 Abs. 5 VwGO zur beurteilende Antrag ist zulässig; insbesondere steht ihm nicht § 34a Abs. 2 AsylVfG entgegen. Danach darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat zwar nicht nach § 80 VwGO ausgesetzt werden, in verfassungskonformer Auslegung dieser Bestimmung kommt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes jedoch dann in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung in Zweifel ziehende Sachlage im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist (vgl. dazu BVerfG, Urt. vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93 -, BVerfGE 94, 49ff., hier zitiert nach juris). Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht mit mehreren einstweiligen Anordnungen zu beabsichtigten Abschiebungen nach Griechenland bestätigt (vgl. nur Beschl. vom 22.12.2009 - 2 BvR 2879/09 -, zitiert nach juris). Darin hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem darauf abgestellt, dass die Rechtsbeeinträchtigungen, die dem Antragsteller entstünden, wenn er im einstweiligen Anordnungsverfahren unterläge, aber im Hauptsacheverfahren obsiegte, nicht mehr rückgängig zu machen sein könnten. Dies gelte insbesondere deshalb, weil bei einem Obsiegen die Erreichbarkeit des Antragstellers nicht gewährleistet sei, weil ihm im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat die Obdachlosigkeit drohte (vgl. BVerfG, Beschl. vom 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, juris). So liegt der Fall auch hier.

Die erkennende Kammer geht mit dem Verwaltungsgericht Gießen (Beschl. vom 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A -, juris) nach den vom Verwaltungsgericht Gießen in der genannten Entscheidung zusammengefassten, auch dem erkennenden Gericht vorliegenden Tatsachenmaterial davon aus, dass das staatliche Aufnahmesystem in Italien völlig überlastet ist. Es existieren 3000 Plätze, die eine Aufnahme von Asylsuchenden für jeweils sechs Monate ermöglichen. Im Jahr 2011 haben bis Anfang Mai bereits 26000 Flüchtlinge in Italien um Schutz nachgesucht (Spiegel Online vom 26.04.2011, Peters: „Paris und Rom schotten sich ab“). Die Wartelisten für diese Plätze sind lang. Selbst wenn die Flüchtlinge einen dieser Plätze erhalten haben, sind sie nach Ablauf von sechs Monaten sich selbst überlassen. So ist die große Mehrheit der Asylsuchenden ungeschützt, ohne Unterkunft, und ohne gesicherten Zugang zu Nahrungsmitteln. Daraus ergibt sich u.a. das Problem, dass die Anmeldung eines festen Wohnsitzes nicht möglich ist. Ein fester Wohnsitz ist jedoch Voraussetzung für den Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem. Auch die Zuteilung einer Steuernummer, die einen legalen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht, ist nur mit festem Wohnsitz möglich. Für Flüchtlinge, die im Dublin-Verfahren nach Italien abgeschoben wurden, bedeutet dies jedoch auch, dass sie für ein gegebenenfalls noch in Deutschland durchzuführendes Klageverfahren nicht erreichbar sind. Aus diesen Gründen hält das erkennende Gericht in Ansehung dieser zu erwartenden Nachteile eine sofortige Abschiebung des Antragstellers ohne vorherige Klärung der den Antragsteller erwartenden Lebensumstände für nicht möglich (ebenso VG Freiburg, Beschl. vom 24.01.2011 - A 1 K 117/11 -, juris; VG Meiningen, Beschl. vom 24.02.2011 - 2 E 20040/11 Me - juris; VG Darmstadt, Beschl. vom 11.01.2011 - 4 L 1889/10.DA.A -, juris; VG Köln, Beschl. vom 10.01.2011 - 20 L 1920/10.A -, juris; VG Minden, Beschl. vom 07.12.2010 - 3 L 625/10.A -, juris). Die gegenteilige Ansicht (VG Düsseldorf, Beschl. vom 07.01.2011 - 21 L 22/85 -10.A -, juris) überzeugt nicht. Das VG Düsseldorf hat in diesem Beschluss seine ablehnende Auffassung damit begründet, dass es im Gegensatz zu den Fällen, in denen eine Abschiebung nach Griechenland Verfahrensgegenstand war, keine Stellungnahme des UNHCR zu den Zuständen im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (Italien) gebe. Dem erkennenden Gericht ist aus einer telefonischen Anfrage des Berichterstatters beim UNHCR bekannt, dass derzeit eine solche Stellungnahme erarbeitet wird, diese aber nicht zeitnah im hier zu entscheidenden Eilverfahren vorgelegt werden kann. Schon deshalb ist aus den genannten Gründen zur Vermeidung nicht rückgängig zu machender Nachteile für den Antragssteller die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen. Die ebenfalls ablehnende Auffassung des VG Ansbach (Beschl. vom 26.01.2011 - AN 9 E10.30522 - juris) ist für den hier zu entscheidenden Fall ohne Bedeutung. Das VG Ansbach hat den genannten Beschluss darauf gestützt, dass der Antragsteller keine Tatsachen vorgetragen habe, die Zweifel an dem in Italien herrschenden Asylsystem wecken könnten. Insoweit ist der Fall mit dem hier entschiedenen nicht vergleichbar.

Dies gilt insbesondere auch für die Tatsache, dass der Antragsteller gegebenenfalls sogar eine Kettenabschiebung nach Griechenland zu befürchten hätte. Auch diese Frage kann im Eilverfahren nicht entschieden werden und muss der Klärung im Hauptsacheverfahren überlassen bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).