Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 09.07.2018, Az.: 2 Ss 79/18

Notwendigkeit der Verteidigung bei unterschiedlichen Rechtsauffassungen

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
09.07.2018
Aktenzeichen
2 Ss 79/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 68038
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Lüneburg - 07.02.2018

Fundstelle

  • StV 2019, 175

Redaktioneller Leitsatz

Gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen zu den in Rede stehenden Sachverhalten, dann ist der juristische Laie damit überfordert. Es ist dann von einer schwierigen Rechtslage und damit einem Fall der notwendigen Verteidigung auszugehen.

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Lüneburg zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Celle hat den verteidigten Angeklagten mit Urteil vom 25.04.2017 (Az.: 20c Ds 97/16) wegen Bedrohung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 80 € verurteilt.

Gegen dieses Urteil legten sowohl die Staatsanwaltschaft Lüneburg - Zweigstelle Celle, als auch der Angeklagte form- und fristgerecht Berufung ein. Mit Schriftsatz vom 17.10.2017 zeigte der erstinstanzlich für den Angeklagten tätige Verteidiger der Strafkammer die Mandatsbeendigung an.

Die Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht durch Urteil vom 26.10.2017 gem. § 329 StPO.

Mit dem angefochtenen Urteil vom 07. Februar 2018 hat die 9. Kleine Strafkammer des Landgerichts Lüneburg auf die Berufung der Staatsanwaltschaft den (unverteidigten) Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in 2 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision. Er erhebt neben der allgemeinen Sachrüge mehrere Verfahrensrügen, u.a. auch die Rüge der Verletzung von § 140 Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 338 Nr. 5 StPO. Dazu trägt die Revision vor, der Angeklagte sei in der gesamten Hauptverhandlung unverteidigt gewesen, obwohl die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage vorgelegen hätten.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 07.02.2018 gem. § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.

II.

Die zulässige Revision hat in der Sache zumindest vorläufigen Erfolg.

Sie dringt bereits mit der zulässig erhobenen Rüge der Verletzung von § 140 Abs. 2 i.V. mit § 338 Nr. 5 StPO durch, so dass es des Eingehens auf die weiteren Verfahrensrügen sowie die ebenfalls erhobene Sachrüge nicht mehr bedarf.

Die Hauptverhandlung hat in vorschriftswidriger Abwesenheit eines Verteidigers stattgefunden (§ 338 Nr. 5 StPO), denn vorliegend ist ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben.

Gem. § 140 Abs. 2 StPO bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

Jedenfalls wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage war vorliegend die Mitwirkung eines Verteidigers in der Berufungsinstanz geboten.

Der Angeklagte war erstinstanzlich wegen Bedrohung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung "lediglich" zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 80 € verurteilt worden; die Staatsanwaltschaft erstrebte mit ihrer Berufung ausweislich der Berufungsbegründung eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten. Schon allein aufgrund des hier gegebenen Bestrebens der Staatsanwaltschaft, im Rahmen des Berufungsverfahrens die Verurteilung des Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe statt einer erstinstanzlich ergangenen Verurteilung zu einer Geldstrafe zu erreichen, wird in der Rechtsprechung teilweise die Schwierigkeit der Rechtslage i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO angenommen (vgl. nur Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 19. Januar 2016 - 2 Ws (s) 2/16 -, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 61. Auflage 2018. § 140, Rn. 26a). Hinzu kommen im vorliegenden Verfahren mehrere divergierende Rechtsauffassungen unterschiedlicher Justizorgane, die nach der Rechtsprechung regelmäßig dazu führen, dass die Rechtslage i.S.v. § 140 StPO nicht eindeutig und damit schwierig ist (vgl. Münchener Kommentar, StPO 1. Aufl. 2014, § 140, Rn. 45, KG Berlin, Beschluss vom 12.08.2013, 161 Ss 173/13 -, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20.03.2001, 1 Ss 259/00-, juris; OLG Dresden, Beschluss vom 1.07.2005, 2 Ss 173/05 -, juris), zumal insoweit allein die Sicht des Angeklagten maßgeblich ist (vgl. Lüderssen/Jahn in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2007, § 140, Rn. 68).

Dem Verfahren liegt eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Lüneburg - Zweigstelle Celle vom 08.11.2016 zugrunde, in der das Tatgeschehen vom 01.05.2016 als versuchte gefährliche Körperverletzung zum Nachteil des Zeugen R. und als fahrlässige Körperverletzung in 2 rechtlich zusammentreffenden Fällen zum Nachteil der Zeugen F. und K. gewertet wurde, wobei die Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung von Tatmehrheit i.S.v. § 53 StGB ausging. Bereits im Eröffnungsbeschluss vom 25. Januar 2017 vertrat das Amtsgericht Celle eine abweichende Rechtsauffassung hinsichtlich des Konkurrenzverhältnisses der angeklagten Taten, denn es wurde auf die Möglichkeit der tateinheitlichen Begehungsweise gem. § 52 StGB hingewiesen. In der Hauptverhandlung erteilte das Amtsgericht zudem einen rechtlichen Hinweis gem. § 265 StPO, dass auch eine Verurteilung wegen Bedrohung gem. § 241 StGB in Betracht komme. Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten am 25. April 2017 wegen Bedrohung zum Nachteil des Zeugen R. in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung (zum Nachteil der Zeugen F. und K.). Zutreffend weist die Revision darauf hin, dass zudem die Staatsanwaltschaft die eigene rechtliche Einordnung des Tatgeschehens nach Durchführung der Beweisaufnahme in der 1. Instanz korrigierte und nun - entgegen dem Amtsgericht - die Rechtsauffassung vertrat, der Angeklagte sei wegen vollendeter gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil der Zeugen F. und K. schuldig zu sprechen, so dass die angeklagte versuchte gefährliche Körperverletzung zum Nachteil des Zeugen R. konkurrenzrechtlich zurücktrete. Dieser Rechtsauffassung schloss sich schließlich auch die 9. kleine Strafkammer des Landgerichts Lüneburg im angefochtenen Urteil an.

Der Senat verkennt nicht, dass die dargestellten unterschiedlichen Rechtsauffassungen von Staatsanwaltschaft, Amts- und Landgericht lediglich Indikatoren für das Vorliegen von Schwierigkeiten in der Beurteilung der tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte eines Strafverfahrens darstellen und eine sachliche Prüfung der das vorliegende Verfahren individuell kennzeichnenden Umstände erforderlich ist (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 31. August 2017 - 2 Ws 141/17 -, juris).

Es liegt jedoch auf der Hand, dass allein die zu Tage getretenen Schwierigkeiten der beteiligten Justizorgane, das angeklagte bzw. sodann festgestellte Tatgeschehen rechtlich einzuordnen, eine schwierige Rechtslage i. S.v. § 140 Abs. 2 StPO aus der Sicht des juristisch ungebildeten Angeklagten begründen. Hinzu kommt, dass der Angeklagte nach der erstinstanzlichen Verurteilung zu einer Geldstrafe damit konfrontiert war, dass die Staatsanwaltschaft zu seinem Nachteil die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe erstrebte und dabei ihre rechtliche Einordnung des Tatgeschehens sowohl hinsichtlich des Konkurrenzverhältnisses, als auch hinsichtlich der materiell-rechtlichen Bewertung des Tatgeschehens korrigierte.

Nach alledem wäre daher die Anwesenheit eines Verteidigers in der Berufungshauptverhandlung notwendig gewesen. Der Verstoß gegen § 140 Abs. 2 StPO bildet einen absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO, der zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den zugrundeliegenden Feststellungen führt. Die Sache war gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Lüneburg zurückzuverweisen, die auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben wird.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Zwar bedurfte es angesichts des Durchgreifens der Verfahrensrüge gem. §§ 338 Nr. 5, 140 Abs. 2 StPO keines Eingehens auf die Frage, ob die Verfahrensrüge der Verletzung der Hinweispflicht gem. § 265 StPO in der gem. § 344 Abs. 2 StPO revisionsrechtlich vorgeschriebenen Form erhoben wurde. Im Falle der rechtlichen Einordnung des Tatgeschehens als vollendete gefährliche Körperverletzung zum Nachteil der Zeugen F. und K. wäre jedoch die Erteilung eines entsprechenden rechtlichen Hinweises gem. § 265 StPO zwingend geboten.