Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 25.10.2004, Az.: 222 Ss 81/04 (Owi)
Sicherheitsabschlag bei einer durch Hinterherfahren mit einem Fahrzeug ohne geeichten Tacho erstellten Geschwindigkeitsmessung; Anforderungen an die tatrichterliche Darlegungen über die Ermittlung einer vorwerfbaren Geschwindigkeitsüberschreitung; Begründung einer tatrichterlichen Abweichung von einem anerkannten Toleranzabzug
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 25.10.2004
- Aktenzeichen
- 222 Ss 81/04 (Owi)
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 22623
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2004:1025.222SS81.04OWI.0A
Rechtsgrundlagen
- § 261 StPO
- § 38 Abs. 1 S. 2 StVO
Fundstellen
- NJW-Spezial 2005, 163-164 (Kurzinformation)
- NPA 2005
- NZV 2005, 158-159 (Volltext mit amtl. LS)
- VRA 2005, 33
Verfahrensgegenstand
Verkehrsordnungswidrigkeit
Amtlicher Leitsatz
Bei der Geschwindigkeitsmessung durch Hinterherfahren mit einem Fahrzeug, dessen Tachometer nicht geeicht ist, ist grundsätzlich ein Sicherheitsabschlag von 20 % des Messwertes ausreichend und erforderlich, um alle denkbaren Fehlerquellen und Ungenauigkeiten der Messung auszugleichen.
Weicht das Tatgericht von diesem anerkannten Toleranzabzug ab, bedarf es einer eingehenden auf Tatsachen gestützten Begründung, anhand derer das Rechtsbeschwerdegericht nachvollziehen kann, dass der abweichende Sicherheitsabschlag im konkreten Einzelfall zum Ausgleich sämtlicher Fehlerquellen ausreichend und erforderlich ist.
In der Bußgeldsache
hat der 2. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Celle
auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Stadthagen
vom 26. Januar 2004
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft
durch
die Richter am Oberlandesgericht W. und R. sowie
den Richter am Landgericht S.-C.
am 25. Oktober 2004
beschlossen:
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Stadthagen zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen tateinheitlich begangener fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und fahrlässiger Behinderung eines Einsatzfahrzeuges zu einer Geldbuße von 110 EUR verurteilt und ein einmonatiges Fahrverbot unter Gewährung der viermonatigen Antrittsfrist nach § 25 Abs. 2 a StVG verhängt.
Nach den Feststellungen befuhr der Betroffene am 22. Juni 2003 die Bundesautobahn 2 mit seinem Pkw von H. in Richtung D. In der Gemarkung R. fuhr er gegen 12:23 Uhr in einem Streckenabschnitt, in dem die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch mehrfach deutlich sichtbar links und rechts der dreispurigen Fahrbahn aufgestellte Verkehrszeichen 274 auf 120 km/h begrenzt war, zwischen Kilometer 254,15 und Kilometer 256,5 auf der äußersten linken Spur aus Unachtsamkeit mit einer Geschwindigkeit von 161 km/h, ohne seine Fahrspur dem ihm folgenden Streifenwagen, der Einsatzhorn, Blaulicht und Springlicht der Scheinwerfer eingeschaltet hatte, freizugeben.
Die Geschwindigkeitsmessung erfolgte durch die dem Betroffenen auf der genannten gut zwei km langen Strecke mit ihrem Streifenwagen in einem konstanten Abstand von 100 m hinterher fahrenden Polizeibeamten B. als Fahrer und Z. als Beifahrerin, wobei der ungeeichte Tachometer permanent eine Geschwindigkeit von 200 km/h anzeigte. Aus dieser Messgeschwindigkeit hat das Amtsgericht eine dem Betroffenen vorwerfbare Geschwindigkeit von 161 km/h errechnet, indem es von der Messgeschwindigkeit 10 % des angezeigten Tachowertes und weitere 7 % des Skalenendwertes des Tachometers des Polizeifahrzeuges, der 260 km/h betrug, als Sicherheitstoleranz abgezogen hat.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung materiellen und formellen Rechts beanstandet.
II.
Das zulässige Rechtsmittel hat auf die Sachrüge Erfolg, sodass es eines Eingehens auf die erhobenen Verfahrensrügen nicht bedarf.
1.
Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft führt die Rechtsbeschwerde zur uneingeschränkten sachlich-rechtlichen Überprüfung des angefochtenen Urteils, weil die Rechtsbeschwerde nicht wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt ist.
Es kann dahinstehen, ob der Rechtsbeschwerdebegründung konkludent die Beschränkung des Rechtsmittels aus dem Rechtsfolgenausspruch zu entnehmen ist, wogegen jedenfalls der auf Aufhebung gerichtete Rechtsmittelantrag spricht. Eine wirksame Rechtsmittelbeschränkung konnte hier nämlich schon deshalb nicht erfolgen, weil die Feststellungen zum Schuldspruch keine ausreichende Grundlage für die vom Rechtsbeschwerdegericht zu treffende Entscheidung über die Rechtsfolgen bilden (vgl. dazu Beschluss des Senats vom 21. Mai 2004, 222 Ss 197/04 - Owi -, m. w. N.). Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen zur Schuldform sind lückenhaft und widersprüchlich und belegen die Annahme (lediglich) von Fahrlässigkeit nicht ausreichend. Damit ist der Schuldumfang, dem maßgebliche Bedeutung für den Rechtsfolgenausspruch zukommt, unklar.
Was den Vorwurf der Geschwindigkeitsüberschreitung angeht, teilt das angefochtene Urteil mit, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch wiederholt deutlich sichtbar links und rechts der Fahrbahn aufgestellte Verkehrszeichen 274 auf 120 km/h beschränkt war und dass der Betroffene über eine Distanz von mehr als zwei km mit einer Geschwindigkeit von 161 km/h gefahren ist. Gleichwohl ist das Amtsgericht trotz Dauer und Ausmaßes dieser Überschreitung ohne jede nähere Begründung davon ausgegangen, dass diese auf Unachtsamkeit zurückzuführen sei. Das ist nicht plausibel, zumal offen bleibt, wie viele geschwindigkeitsbegrenzende Verkehrszeichen der Betroffene genau und in welchem Abstand zur Messstrecke passiert hat.
Bezüglich der Nichtbeachtung des Gebotes des § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO, Einsatzfahrzeugen sofort freie Bahn zu schaffen, teilt das Amtsgericht lediglich die Einschätzung des Führers des Polizeifahrzeuges B. mit, der Betroffene habe den Streifenwagen offenbar überhaupt nicht wahrgenommen. Dass das Amtsgericht diese Einschätzung dem Urteil ohne nähere Begründung zugrundegelegt hat, ist angesichts des Umstandes, dass der Streifenwagen dem Betroffenen über eine sehr lange Strecke von mehr als zwei km in einem kurzen Abstand von nur 100 m mit eingeschalteten Blaulicht und Martinshorn gefolgt ist, nicht nachvollziehbar.
2.
Auch wenn die aufgezeigten Feststellungslücken den Betroffenen nicht belasten und deshalb allein nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen könnten, kann das Urteil keinen Bestand haben. Denn die Darlegungen des Amtsgerichts zur Ermittlung der vorwerfbaren Geschwindigkeitsüberschreitung genügen den Anforderungen des § 261 StPO nicht.
Zwar ist in der Rechtsprechung (siehe nur BGHSt 39, 291 ff. [BGH 19.08.1993 - 4 StR 627/92]) die Geschwindigkeitsmessung durch Hinterherfahren in gleich bleibendem Abstand grundsätzlich als Messmethode anerkannt und ist es grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe, den von den Besonderheiten des Einzelfalls abhängenden Sicherheits- oder Toleranzabzug zu bestimmen (siehe etwa Beschluss des hiesigen 1. Bußgeldsenats vom 16. März 2004, 211 Ss 34/04 - Owi -; OLG Köln MDR 1998, 650 f. [OLG Köln 10.02.1998 - Ss 25/98 B]; OLG Naumburg VRS 94, 298 f.). Die hiesigen Bußgeldsenate haben jedoch wiederholt ausgesprochen, dass bei guten Sichtverhältnissen, geringem Abstand zwischen vorausfahrendem Pkw und Messfahrzeug (etwa halber bis ganzer angezeigter Tachowert), ungefähr gleich bleibendem Abstand, ausreichend langer Nachfahrstrecke (mindestens fünffacher Abstand) und Ablesung des Tachometers in kurzen Abständen ein Sicherheitsabschlag von 20 % ausreichend und erforderlich ist, um alle denkbaren Fehlerquellen und Ungenauigkeiten einer solchen Messung auszugleichen (Beschluss des 1. Senats vom 16. März 2004, a. a. O.; Beschlüsse des erkennenden Senats vom 9. Juli 2003, 222 Ss 164/03 - Owi -, und vom 29. Juli 2003, 222 Ss 168/03 - Owi -; ebenso etwa BayObLG VRS 92, 26 f.; OLG Naumburg a. a. O.).
Der Senat sieht keine Veranlassung von dieser Auffassung abzuweichen. Die vom Amtsgericht angewandte Berechnungsmethode, die auch von verschiedenen Oberlandesgerichten vertreten wird (etwa OLG Düsseldorf NZV 1991, 201; OLG Hamm DAR 1997, 285 [OLG Hamm 18.02.1997 - 2 Ss OWi 37/97]), führt insbesondere bei Geschwindigkeiten von 50 bis 130 km/h zu einer nicht gerechtfertigten Bevorteilung zu schnell fahrender Kraftfahrzeugführer, weil der konstante Abzug von 7 % des Skalenendwertes des Tachometers der technischen und gesetzlichen Entwicklung nicht (mehr) entspricht. Denn die Skalenendwerte liegen häufig weit über der erreichbaren Höchstgeschwindigkeit und führen bei zunehmender Messgenauigkeit der heute verwandten Tachometer zu einem ungebührlich hohen Toleranzabzug. Deshalb ist durch die Änderungsverordnung vom 23. Juli 1990 § 57 Abs. 2 StVZO geändert und die Zulassung einer Abweichung von bis zu 7 % des Skalenendwertes in den beiden letzten Dritteln des Anzeigebereiches des Tachometers aufgegeben worden. Stattdessen nimmt § 57 Abs. 2 StVZO für ab dem 1. Januar 1991 in den Verkehr gelangte Fahrzeuge Bezug auf Nr. 4.4. der Richtlinie 75/443/EWG, wonach nur noch - jedenfalls in der Regel geringere - Toleranzen zugelassen sind, die zudem in Abhängigkeit von der tatsächlichen Fahrgeschwindigkeit zunehmen. Dem wird die vom Senat vertretene "20 %-Methode", die zudem den Vorzug einfacherer Handhabung hat, weit besser als die vom Amtsgericht angewandte Berechnungsmethode gerecht. Für die Anknüpfung an den Skalenendwert fehlt es demgegenüber jedenfalls für nach dem 31. Dezember 1990 in den Verkehr gelangte Fahrzeuge an jeder Berechtigung (vgl. hierzu auch schon Beschluss des hiesigen 1. Bußgeldsenats vom 16. März 2004, a. a. O.).
Allerdings ist das Tatgericht nicht generell an die Annahme eines Toleranzwertes von 20 % gebunden, weil es sich - wie bereits ausgeführt - bei der Bestimmung des Sicherheitsabschlages nicht um eine Rechts- sondern um eine Tatfrage handelt. Die so genannte 20 %-Methode dient lediglich - wie auch sonstige Toleranzabzüge bei standardisierten Messverfahren - der Vereinfachung der Beweiswürdigung (vgl. BayObLG, a. a. O.). Will das Tatgericht aber von dem anerkannten Toleranzwert abweichen, bedarf es einer eingehenden auf Tatsachen gestützten Begründung, anhand derer das Rechtsbeschwerdegericht nachprüfen kann, dass der abweichende Sicherheitsabschlag sämtliche Fehlerquellen und Messungenauigkeiten ausgleicht.
Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die Urteilsgründe beschränken sich insoweit auf die Formulierung, "die vorgenommenen Toleranzabzüge sind angesichts der sehr langen Messstrecke und der optimalen Bedingungen für eine Hinterherfahrt auf jeden Fall ausreichend."
Diese Ausführungen genügen nicht, um ein Abweichen vom anerkannten Toleranzabzug von 20 % zum Nachteil des Betroffenen zu rechtfertigen. Inwieweit "optimale Bedingungen für eine Hinterherfahrt" geherrscht haben, lässt sich dem Urteil nämlich nicht entnehmen. Das Amtsgericht hat keine Feststellungen zum genauen Streckenverlauf und zu den Sichtverhältnissen getroffen. Ebenso wenig ergibt sich aus dem Urteil, ob der Streifenwagen dem Fahrzeug während des genannten Messvorganges direkt nachfolgte oder ob eventuell sich zeitweilig andere Fahrzeuge zwischen dem Messwagen und dem Pkw des Betroffenen befunden haben. Feststellungen zum Typ des Polizeifahrzeuges und zum technischen Zustand insbesondere auch der Bereifung sind nicht getroffen. Zudem fehlen Darlegungen dazu, wie oft die Polizeibeamten während der Messung den Tachometer abgelesen haben. Solche Darlegungen waren gerade deshalb veranlasst, weil sich die Beamten nach den Feststellungen hier auf einer Einsatzfahrt befanden.
Der Senat vermag deshalb nicht zu überprüfen, ob vorliegend die Anwendung eines geringeren Sicherheitsabschlages als des anerkannten Toleranzabzuges von 20 % des Ablesewertes sachlich gerechtfertigt war.
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass das Amtsgericht vorliegend lediglich um 0,5 % von dem anerkannten Toleranzabzug abgewichen ist. Soweit die Entscheidung des 1. Bußgeldsenates vom 16. März 2004 dahin zu verstehen sein sollte, dass Abweichungen dieser geringfügigen Größenordnung vom Rechtsbeschwerdegericht generell hinzunehmen sind, tritt der erkennende Senat dem nicht bei. Gerade bei Massenverstößen wie Geschwindigkeitsüberschreitungen, die nach dem Willen des Gesetzgebers unter Anwendung der Bußgeldkatalog-Verordnung schematisch und möglichst gleichmäßig geahndet werden sollen (vgl. § 26 a StVG), können auch geringfügige Abweichungen von den allgemein anerkannten Bewertungsgrundsätzen nicht hingenommen werden, wenn diese Abweichungen nicht durch besondere Umstände im Einzelfall gerechtfertigt sind und diese Umstände in den Urteilsgründen im Einzelnen dargelegt sind. Denn selbst geringfügige Abweichungen können, wie der vorliegende Fall zeigt, durch die schematische Anwendung des Bußgeldkataloges insbesondere auf der Rechtsfolgenseite erhebliche Divergenzen bewirken. So führt hier die Anwendung der Berechnungsmethode des Amtsgerichts zur Annahme eines Regelfalles, bei dem die Verhängung eines Fahrverbotes grundsätzlich geboten ist, während nach der 20 %-Methode ein solcher Regelfall gerade noch nicht gegeben wäre. Mit der erstrebten gleichmäßigen Behandlung vergleichbarer Fälle sind solche Abweichungen ohne sachlichen Grund nicht zu vereinbaren. Abgesehen davon, müsste eine derartige Ungleichbehandlung jedenfalls innerhalb eines Oberlandesgerichtsbezirkes auch zu einer Erschütterung des Vertrauens der Bevölkerung in die Rechtspflege führen, weil nicht nachzuvollziehen ist, dass die Verhängung eines Fahrverbotes allein davon abhängig sein sollte, für welche Berechnungsmethode sich das zuständige Tatgericht entscheidet.
3. Die aufgezeigten Rechtsfehler müssen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen. Der Senat ist an einer eigenen Sachentscheidung gemäß § 79 Abs. 6 OWiG gehindert, weil die Erhebung weiterer Feststellungen möglich und geboten ist.
3.
Für die neu zu treffende Entscheidung weist der Senat darauf hin, dass
- a)
das Verschlechterungsverbot einer Verurteilung wegen vorsätzlichen Handelns nicht entgegenstände, wohl aber eine Erhöhung der in dem aufgehobenen Urteil ausgesprochenen Sanktionen verbietet,
- b)
im Fall einer neuerlichen Verurteilung wegen eines tateinheitlichen Verstoßes gegen §§ 38 Abs. 1 Satz 2, 41 Abs. 2 Nr. 7 StVO gemäß § 19 OWiG die Regelbuße gemäß Tabelle 1 des Anhangs zu Nr. 11 der Anlage zur BKatV, lit. c), lfd. Nr. 11.3.6. bzw. 11.3.7., angemessen zu erhöhen und das Maß der Erhöhung zu begründen sein wird,
- c)
die Urteilsformel nicht dazu dient, die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls wiederzugeben, sondern vielmehr nur die rechtliche Bezeichnung der Tat in knapper, verständlicher Form enthalten soll, wobei Paragrafen nur notfalls angeführt werden sollen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., Rdnr. 19 ff. zu § 260).