Oberlandesgericht Braunschweig
Urt. v. 05.10.1994, Az.: 1 U 10/94
Schmerzensgeldanspruch wegen ärztlichem Behandlungsfehlers; Zulässigkeit eines Verzögerungszuschlags wegen vermeintlicher Verschleppung der Schadensabwicklung; Genugtuungsfunktion, die das Fehlverhalten des Schädigers und den ihn treffenden Schuldvorwurf in etwa kompensiert; Besondere Bedeutung des Ausgleichsgedanken bei der Festsetzung des Schmerzensgeldes
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 05.10.1994
- Aktenzeichen
- 1 U 10/94
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1994, 17544
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:1994:1005.1U10.94.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 16.02.1994 - AZ: 5 O 206/91
Rechtsgrundlagen
- § 823 Abs. 1 BGB
- § 847 BGB a.F.
Fundstelle
- zfs 1995, 90 (Volltext mit red. LS)
Verfahrensgegenstand
Schmerzensgeld
Prozessführer
Leitender Oberarzt Dr. med. ...
Prozessgegner
Frau ...
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Der Verletzte soll durch das Schmerzensgeld in die Lage versetzt werden, sich Erleichterungen und Annehmlichkeiten an Stelle derer zu verschaffen, die ihm durch die Verletzung unmöglich gemacht wurden. Darüber hinaus soll das Schmerzensgeld auch zu einer Genugtuung fuhren, die das Fehlverhalten des Schädigers und den ihn treffenden Schuldvorwurf in etwa kompensiert.
- 2.
Bei Verletzungen in jungen Jahren mit Spätfolgen ist bei Festsetzung des Schmerzensgeldes dem Ausgleichsgedanken besondere Bedeutung beizumessen.
In dem Rechtsstreit
hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig
auf die mündliche Verhandlung
vom 08. September 1994
durch
den Präsidenten des Oberlandesgerichts ... sowie
die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
für Recht erkannt:
Tenor:
- 1.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 16.02.1994 im Zahlungsausspruch (Ziff. 1 des Urteilstenors) abgeändert und insoweit zur Klarstellung insgesamt wie folgt neu gefaßt:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 25.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 20.07.1991 zu zahlen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
- 2.
Die Kosten des Rechtsstreits der 1. Instanz tragen der Beklagte zu 64 %, die Klägerin zu 36 %. Die Kosten des Berufungsrechtszuges tragen der Beklagte zu 20 %, die Klägerin zu 80 %.
- 3.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
- 4.
Der Streitwert der Berufungsinstanz wird auf 25.000,00 DM festgesetzt.
- 5.
Beschwer der Klägerin: 20.000,00 DM
Beschwer des Beklagten: 5.000,00 DM.
Tatbestand
Die Klägerin hat den Beklagten wegen eines Anfang 1989 begangenen ärztlichen Behandlungsfehlers mit der Folge einer dauernden knöchernen Versteifung ihres linken Fußgelenkes auf Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige Schäden in Anspruch genommen. Das Landgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens der Klage in vollem Umfang stattgegeben und den Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 45.000,00 DM (nämlich 30.000,00 DM zzgl. 15.000,00 DM als "Zuschlag" für zögerliche Schadensregulierung) verurteilt und auch dem Feststellungsbegehren entsprochen. Der Beklagte erkennt seine Einstandspflicht dem Grunde nach an und verfolgt mit der von ihm eingelegten Berufung eine Reduzierung des Schmerzensgeldes auf 20.000,00 DM. Er macht geltend, daß das Landgericht die von der Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe zur Bemessung des Schmerzensgeldes verkannt habe und von einer ungerechtfertigt langwierigen Schadensabwicklung nicht die Rede sein könne. Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil. Von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Beklagten hat teilweise Erfolg. Zwischen den Parteien ist nicht weiter im Streit, daß dem Beklagten ein Behandlungsfehler unterlaufen ist, der einen Schmerzensgeldanspruch auslöst (§§ 823 Abs. 1, 847 BGB). Mit Recht wendet sich der Beklagte jedoch gegen die Höhe des vom Landgericht festgesetzten Schmerzensgeldes. Abweichend davon hält der Senat unter Abwägung aller Umstände einen Betrag von 25.000,00 DM für angemessen; ein "Verzögerungszuschlag" wegen vermeintlicher Verschleppung der Schadensabwicklung kommt nicht in Betracht.
Im Ausgangspunkt ist dem angefochtenen Urteil beizutreten: Der Schmerzensgeldanspruch ist im wesentlichen auf den Ausgleich der entstandenen Beeinträchtigungen gerichtet. Der Verletzte soll durch das Schmerzensgeld in die Lage versetzt werden, sich Erleichterungen und Annehmlichkeiten an Stelle derer zu verschaffen, die ihm durch die Verletzung unmöglich gemacht wurden. Darüber hinaus soll das Schmerzensgeld auch zu einer Genugtuung fuhren, die das Fehlverhalten des Schädigers und den ihn treffenden Schuldvorwurf in etwa kompensiert. Dabei handelt es sich um einen einheitlichen Anspruch, dessen Höhe unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte des Einzelfalls zu ermitteln ist (BGHZ 18, 149).
Zum Zeitpunkt der Operation am 06.01.1989 war die Klägerin noch nicht 15 Jahre alt. Alsbald danach trat bei ihr eine Versteifung des linken Fußgelenkes auf, die irreparabel ist. Zwar ist es der Klägerin gelungen, sich durch ein Rehabilitationstraining eine Ausgleichsbewegung anzugewöhnen, die im Zusammenwirken mit einer Einlage im Schuh dazu fuhrt, daß der Außenstehende beim Gehen kaum sichtbare Behinderungen erkennt. Der Senat hat nach Anhörung der Klägerin aber keine Zweifel daran, daß längeres Gehen oder Treppensteigen ihr Beschwerden bereitet, die bewegungsmäßig nicht ausgeglichen werden können. Der Beklagte nimmt dies selbst auch nicht weiter in Abrede. Ins Gewicht fällt vor allem die mit dem Körperschaden verbundene nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensfreude. Die Klägerin hat früher Ballettunterricht genommen und Handball gespielt. Zu derartigen sportlichen Aktivitäten ist sie nicht mehr in der Lage. Die Klägerin hat vor der Verletzung mit ihrer Familie im größeren Umfang Wanderungen und Spaziergänge unternommen. Auch hierzu ist sie wegen der dann verstärkt auftretenden Beschwerden nicht oder nur noch eingeschränkt fähig. Erschwerend muß bei alledem ins Gewicht fallen, daß die Klägerin noch am Anfang ihres Lebens steht und auf Dauer mit körperlichen Beschränkungen wird leben müssen, die sie vielleicht im Laufe der Jahre teilweise ausgleichen oder verdrängen mag, was aber in keinem Fall dazu führt, daß sie das Leben eines körperlich voll intakten Menschen fuhren kann. Daß damit auch psychische Belastungen einhergehen, zumal sie mit dieser Behinderung in jungen Jahren fertig werden muß, liegt auf der Hand. Bei Festsetzung des Schmerzensgeldes ist daher dem Ausgleichsgedanken besondere Bedeutung beizumessen.
Daneben kann die Genugtuungsfunktion nicht vollständig außer Betracht bleiben. Zwar vermag der Senat nicht der Auffassung der Klägerin zu folgen, daß den Beklagten ein besonders massiver Schuldvorwurf treffe. Von einer mittleren Fahrlässigkeit muß aber ausgegangen werden. Den Beklagten trifft in erster Linie der Vorwurf eines Diagnosefehlers. Er hat bei der postoperativen Behandlung in seine Überlegungen nicht hinreichend einbezogen, daß bei einer Infektion, wie sie im vorliegenden Fall aufgetreten ist, der gesamte Operationsbereich und damit auch das Fußgelenk gefährdet ist. Statt dessen hat er seine Maßnahmen nach erneuter Aufnahme der Klägerin in die Klinik auf die Bekämpfung der Wundinfektion ausgerichtet und die sich abzeichnende Gefahr für das Gelenk nicht erkannt. Insoweit hat der Beklagte geirrt, was ihm auch zum Vorwurf gereicht. Die weitere Entwicklung hing im Grunde aber von der richtigen oder falschen Diagnose ab, so daß die schwerwiegenden Folgen nicht ohne weiteres zu einer Erhöhung des Schuldvorwurfs fuhren.
Soweit die Klägerin geltend macht, der Beklagte habe sie bzw. ihre Eltern vor der Operation nicht hinreichend über alternative Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt, scheint dies jedenfalls insofern nicht zutreffend, als daraus ein das Schmerzensgeld erhöhender besonderer Schuldvorwurf hergeleitet werden soll. Daß der Beklagte von Anfang an einer operativen Behandlung den Vorzug gegeben und dies deutlich zum Ausdruck gebracht hat, kann ihm nicht zum Nachteil gereichen, zumal der Sachverständige Prof. ... ausdrücklich festgestellt hat, daß dieser Weg medizinisch gangbar war. Andererseits ergibt sich aus den Angaben der Mutter der Klägerin vor dem Landgericht, daß ihr gegenüber der Beklagte eine alternative Möglichkeit zumindest angesprochen hat ("Man könne das auch mit einem Schuh machen"). Von daher hätte es sich möglicherweise angeboten, weitere Nachfrage zu halten, zumal der Beklagte auch auf ein zusätzliches Risiko wegen der bestehenden Schürfwunde hingewiesen hat. Aufgrund des besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient wird letzterer zwar geneigt sein, den Empfehlungen seines Arztes zu folgen. Dies enthebt ihn aber nicht der Verpflichtung, seinerseits um vertiefende Aufklärung nachzusuchen, wenn hierfür Anlaß besteht. Eine solche Möglichkeit war nochmals gegeben, als die Oberärztin Dr. ... mit der Mutter der Klägerin ein eingehendes Aufklärungsgespräch über die weitere Behandlung geführt hat. Zwar mag zu diesem Zeitpunkt schon festgestanden haben, daß die Klägerin operiert werden sollte; Gelegenheit, etwaige Zweifel an der Richtigkeit dieses Weges zu äußern, hätte sich aber geboten, so daß unter Einbeziehung sämtlicher ärztlicher Beratungsgespräche jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür bestehen, daß der Patientenwille in besonderer Weise mißachtet worden wäre.
Bei Abwägung aller maßgeblichen Gesichtspunkte hält der Senat die Zubilligung eines Schmerzensgeldes von 25.000,00 DM für gerechtfertigt. Dabei läßt er sich von der Überlegung leiten, daß der Klägerin die finanziellen Mittel an die Hand gegeben werden müssen, mit denen sie sich selbst Erleichterungen zur Kompensation der körperlichen Dauerfolgen verschaffen kann. Sie wird vielleicht verstärkt auf die Inanspruchnahme eines Kraftfahrzeuges mit Automatikgetriebe angewiesen sein, um das bisherige intensive Erleben von Natur und Landschaften ausgleichen zu können. Möglicherweise wird sich ihr Interesse zukünftig stärker auf die Teilnahme an Studienreisen oder an Theater- und Konzertbesuchen richten. Sowohl bei ihrer Ausbildung als auch im Rahmen der alltäglich zu erledigenden Einkäufe, Besuche oder sonstigen Wege wird sie mit größeren körperlichen Belastungen konfrontiert sein, die durch Beauftragung Dritter oder durch zusätzliche Aufwendungen für die Benutzung von Verkehrsmitteln reduziert werden können. Dies alles zusammengenommen begründet das Schmerzensgeld, wobei der Senat nicht verkennt, daß die Zubilligung eines solchen Betrages nach der Rechtsprechung bereits ein erhebliches Ausmaß an körperlichen Beeinträchtigungen voraussetzt (vgl. z.B. Schmerzensgeldtabelle von Hacks, 16. Aufl., Nr. 939: Verlust aller Finger der linken Hand bei einem 4jährigen Jungen; Nr. 940: Verlust der Gebärmutter infolge ärztlichen Behandlungsfehlers).
Eine zusätzliche Anhebung des Schmerzensgeldes als besondere Sanktion in Form eines "Verzögerungszuschlages" ist indessen ausgeschlossen. Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß eine Verschleppung der Schadensabwicklung oder eine darauf gerichtete Prozeßführung, durch die sich eine Ersatzleistung in unangemessener Weise hinauszögert, zu einer Erhöhung des Schmerzensgeldes führen kann (BGH VersR 1967, 256; OLG Karlsruhe VersR. 1988, 1134; OLG Koblenz VersR. 1989, 629; LG München VersR, 1983, 593). Allerdings kann die Tatsache, daß der Schädiger es wegen der Ansprüche des Verletzten ggfls. auf einen Rechtsstreit ankommen läßt, für sich allein noch nicht als ein das Schmerzensgeld erhöhender Umstand gewertet werden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Rechtsverteidigung nicht als sachgemäß erachtet werden kann, wenn etwa von dem Schädiger oder seinem Haftpflichtversicherer eine "Zermürbungstaktik" betrieben und die Erledigung eines Rechtsstreits unangemessen hinausgezögert wird. Gleiches gilt, wenn der Schädiger bzw. seine Versicherung nicht einmal Teilbeträge leistet, die nach der von ihm selbst vertretenen Rechtsauffassung oder nach einer insoweit geklärten Rechtslage dem Geschädigten zustehen (hierzu RGRAK - Kreft, BGB, 12. Aufl., Rd.Nr. 49 zu § 847 m.w.N.).
Die Voraussetzungen, die zu der vorstehend beschriebenen Rechtsprechung geführt haben, sind in diesem Fall nicht gegeben. Die Berufung weist mit Recht darauf hin, daß nach dem Ausgang des Schlichtungsverfahrens für den Beklagten bzw. seine Haftpflichtversicherung keine Veranlassung bestand, Zahlungen zu erbringen. Daß der Rechtsstreit von ihnen provoziert wurde, läßt sich ebenfalls nicht feststellen. Nach dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 19 Abs. 3, 4 GG) darf es dem Beklagten auch grundsätzlich nicht zum Nachteil gereichen, wenn er sich gegen Ansprüche, die gegen ihn erhoben werden, in sachlicher Weise mit den gebotenen rechtsstaatlichen Mitteln zur Wehr setzt (vgl. hierzu auch KG VersR. 1973, 379, 380; OLG Hamm VersR. 1980, 683). Von daher ist es auch unerheblich, ob - wie die Klägerin in der Senatsverhandlung behauptet hat - die Haftpflichtversicherung des Beklagten zahlungswillig gewesen sein soll (wobei die näheren Modalitäten allerdings unbekannt geblieben sind). Der Beklagte hat nichts anderes getan, als die ihm nach dem Gesetz zustehenden Rechte wahrzunehmen. Der Senat kann auch nicht erkennen, daß der Beklagte auf die Dauer des Rechtsstreits in einer Weise Einfluß genommen hat oder auch nur hätte nehmen können, die Ausdruck einer besonderen Verschleppungsabsicht wäre.
Unstreitig hat der Beklagte bzw. die hinter ihm stehende Haftpflichtversicherung nach Ergehen des erstinstanzlichen Urteils den danach außer Streit befindlichen Betrag von 20.000,00 DM gezahlt. Daß der Klägerin im übrigen ein besonderer Verzögerungsschaden entstanden ist, der in irgendeiner Weise Einfluß auf ihren bisherigen Lebensstandard genommen hat und unter diesem besonderen Gesichtspunkt eine Erhöhung des Schmerzensgeldes erforderlich machen könnte, ist weder ersichtlich noch sonst vorgetragen worden.
Die der Klägerin auf das Schmerzensgeld zustehende Zinsforderung ergibt sich aus den §§ 288, 291 BGB.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92, 97, 546 Abs. 2 Satz 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO. Der Streitwert entspricht dem in der Berufungsinstanz noch streitigen Geldbetrag.
Streitwertbeschluss:
Der Streitwert der Berufungsinstanz wird auf 25.000,00 DM festgesetzt.
Beschwer der Klägerin: 20.000,00 DM
Beschwer des Beklagten: 5.000,00 DM.