Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 30.10.2002, Az.: L 4 KR 114/00
Pflicht der gesetzlichen Krankenkasse zur Gewährung einer Feinstpigmentierung der Augenbrauen bei einem Versicherten aufgrund des Verlustes der Augenbrauen infolge Haarausfalls
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 30.10.2002
- Aktenzeichen
- L 4 KR 114/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 33113
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2002:1030.L4KR114.00.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - 09.03.2000 - AZ: S 1 KR 193/99
Rechtsgrundlagen
- § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V
- § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB V
Amtlicher Leitsatz
Die gesetzliche Krankenkasse ist nicht verpflichtet, einer Versicherten,
der die Augenbrauen infolge Haarausfalls fehlen, eine Feinstpigmentierung der Augenbrauen zu gewähren.
In dem Rechtsstreit
...
hat der 4. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen
auf die mündliche Verhandlungen vom 30. Oktober 2002 in Celle
durch
die Richterin Schimmelpfeng-Schütte - Vorsitzende -
den Richter Wolff,
den Richter Schreck sowie
die ehrenamtlichen Richter Heise und Dr. Schein
für Recht erkannt:
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 9. März 2000 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Erstattung von Kosten in Höhe von DM 1.850,- für die Feinstpigmentierung von Augenbrauen.
Die 1974 geborene Klägerin ist versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten. Seit 1995 leidet sie an Alopecia areata totalis. Die Erkrankung hat bei der Klägerin neben dem Haarausfall auf dem Kopf den Verlust der Augenbrauen und Wimpern zur Folge.
Im Juni 1999 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für die Feinstpigmentierung von Augenbrauen. Hierbei handelt es sich um ein Verfahren der Firma LONG-TIME-LINER Conture Make up GmbH (im Folgenden: LTL). Bei der dort vorgenommenen Methode werden Farbpigmente in die zweite Schicht der Oberhaut eingelagert, wo sie über einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren sichtbar bleiben. Wegen der weiteren Einzelheiten der Behandlung wird auf Bl 2 ff der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen. Mit dem Antrag reichte die Klägerin Informationsmaterial der LTL sowie die ärztliche Bescheinigung des Hautarztes Dr. B. vom 26. Mai 1999 ein. Dieser attestierte das Vorhandensein der Alopecia areata totalis und einen erheblichen psychischen Leidensdruck aufgrund der Entstellungsproblematik.
Die Beklagte hörte daraufhin die Ärztin für Sozialmedizin/Psychotherapie C. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN) an. Frau C. führte aus, dass es sich bei der Feinstpigmentierung um einen kosmetischen Eingriff und nicht um eine medizinische Indikation handele. Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 1. Juli 1999 ab. Es handele sich nicht um einen medizinischen, sondern um einen kosmetischen Eingriff. Die Klägerin ließ daraufhin das Conture Make up durchführen und erhob Widerspruch gegen den Bescheid vom 1. Juli 1999. Diesen wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 18. November 1999 zurück.
Hiergegen hat die Klägerin mit Schreiben vom 14. Dezember, eingegangen beim Sozialgericht (SG) Stade am 15. Dezember 1999, Klage erhoben und die Rechnung der LTL vom 5. Oktober 1999 über das Conture Make up zu den Akten gereicht. Danach betragen die Kosten für die Augenbrauen-Härchenzeichnung DM 1.800,-- sowie weitere DM 50,- für eine Pflege-Creme. Mit Urteil vom 9. März 2000 hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Kosten für die Feinstpigmentierung der Augenbrauen und Pflege-Creme in Höhe von DM 1.850,- zu übernehmen. Das SG ist der Argumentation der Klägerin gefolgt, wonach ein erheblicher psychischer Leidensdruck bestehe.
Gegen das der Beklagten am 4. Mai 2000 zugestellte Urteil hat diese Berufung eingelegt, die am 24. Mai 2000 beim Landessozialgericht Niedersachsen eingegangen ist. Die Beklagte ist der Ansicht, dass es sich bei der Methode der LTL nicht um eine ärztliche Behandlung handele.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 9. März 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Urteil des SG Stade vom 9. März 2000 ist deshalb aufzuheben. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 1. Juli 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 1999 geht zutreffend davon aus, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Erstattung ihrer Kosten gem. § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch - Fünftes Buch - (SGB V) hat.
Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V erhalten die Versicherten die Leistungen der Krankenkassen grundsätzlich als Sach- oder Dienstleistung. Demzufolge hat der Versicherte den für den Sachleistungsanspruch vorgesehenen Weg der Realisierung von Leistungen, nämlich die Behandlung auf Krankenschein bzw. Versicherungskarte bei zugelassenen Vertragsärzten oder zugelassenen Krankenhäusern, im Regelfall einzuhalten. Von diesem, die gesetzliche Krankenversicherung regelnden, Sachleistungsprinzip darf nach § 13 Abs. 1 SGB V zu Gunsten der Kostenerstattung nur in den im Gesetz bestimmten Ausnahmefällen abgewichen werden.
Für selbstbeschaffte Leistungen enthält § 13 Abs. 3 SGB eine Ausnahmeregelung. Hiernach steht den Versicherten ein Anspruch auf Kostenerstattung zu, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (1. Alternative) oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, soweit sie notwendig war (2. Alternative) und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Die 2. Alternative des § 13 Abs. 3 SGB V regelt folglich die Kostenerstattung für den Fall, dass eine Sachleistung zu Unrecht von der Krankenkasse verweigert und der Versicherte dadurch gezwungen wurde, sich die notwendige Leistung selbst zu beschaffen. Haftungsbegründendes Tatbestandsmerkmal ist somit der Kausalzusammenhang, d.h. es kommt auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen Ablehnung und dem eingeschlagenen Beschaffungsweg an. Die Kosten dürfen daher erst nach Ablehnung durch die Krankenkasse entstanden sein. Der Senat geht zu Gunsten der Klägerin davon aus, dass sie das Conture Make up erst nach Ablehnung durch die Beklagte mit Bescheid vom 1. Juli 1999 hat durchführen lassen, denn die Rechnung datiert vom 5. Oktober 1999.
Gem. § 13 SGB V tritt der Kostenerstattungsanspruch an die Stelle des Anspruchs auf eine Sach- oder Dienstleistung. Er besteht deshalb nur insoweit, als die selbstbeschaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, die von den gesetzlichen Krankenkassen als Sachleistung zu erbringen sind.
Die Beklagte hat die Gewährung des Conture Make up jedoch zu Recht abgelehnt. Die Versorgung hiermit gehört nicht zu den von der gesetzlichen Krankenkasse geschuldeten Leistungen.
Das Sachleistungsprinzip beinhaltet nach § 27 SGB V den Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu Heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Das SGB V kennt keine Legaldefinition von Krankheit. Die Rechtsprechung verwendet im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht den medizinischen Krankheitsbegriff, der auf bestimmte Ursachen und Symptome abstellt. Krankheit im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist vielmehr der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand, der die Notwendigkeit einer ärztlichen Heilbehandlung oder/und eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (vgl. Urteil des BSG vom 23. November 1991 in BSGE 33, 202 [BSG 23.11.1971 - 3 RK 26/70]).
Bei der Klägerin liegt keine Krankheit im zuvor genannten Sinne vor. Es fehlt insbesondere an der Notwendigkeit einer ärztlichen Heilbehandlung. Eine Krankenbehandlung ist notwendig, wenn durch sie ein regelwidrige Körper- oder Geisteszustand behoben, gebessert, vor einer Verschlimmerung bewahrt oder Schmerzen, Beschwerden gelindert werden können. Regelwidrig ist ein Zustand, der von der Norm, vom Leitbild des gesunden Menschen abweicht (vgl. Urteil des BSG vom 28. April 1967, BSGE 26, 240, 242 [BSG 28.04.1967 - 3 RK 12/65]). Ein im Normbereich liegender Körperzustand wird nicht dadurch zu einer Krankheit im Sinne gesetzlichen Krankenversicherung, dass der Patient psychisch auf die gewünschten Änderungen fixiert ist (vgl. Wagner in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, Kommentar, Stand April 2002, § 27 SGB V Rdnr 5 mwN).
Der Senat erachtet den Körperzustand der Klägerin nicht als regelwidrig. Denn das Leitbild der gesunden Frau wird nicht dadurch geprägt, dass Augenbrauen deutlich erkennbar vorhanden sind. Das folgt aus einem Vergleich sowohl mit den Frauen, die sehr dünne Augenbrauen haben, als auch mit der Gruppe von Frauen, deren Augenbrauen unauffällig und nicht zu erkennen sind, weil sie weiß oder hellblond sind. Bei beiden Gruppen liegt keine Abweichung ihrer Augenbrauen vom normalen Zustand anderer Frauen vor. Die Klägerin muss sich an diesen Frauen messen lassen. Die Abweichung des Zustandes ihrer Augenbrauen von dem der zuvor genannten Frauen ist nicht so erheblich, dass ein regelwidriger Zustand bejaht werden könnte.
Die natürliche Funktion der Augenbrauen, das Verhindern des Schweißflusses von der Stirn in die Augen, ist bei ihr nicht deutlich mehr beeinträchtigt, als bei den Frauen, deren Augenbrauen sehr dünn und nicht ausgeprägt sind. Hinsichtlich ihrer optischen Beeinträchtigung kann die Klägerin nicht besser gestellt werden, als die Frauen, die unauffällige Augenbrauen haben.
Das wird bestätigt durch das kosmetische Verhalten der Frauen in der heutigen Zeit. Wie allgemein bekannt ist, benutzen heute viele Frauen kosmetische Mittel, um ihr Gesicht, einschließlich der Augenbrauen, zu korrigieren. Sie zupfen die Augenbrauen, zeichnen sie nach und verändern sie je nach dem Geschmack der Mode. Hierzu werden auf dem allgemeinen Markt in allen einschlägigen Geschäften sog. farbige Augenbrauenstifte angeboten, die wasserfest und hautverträglich sind. Wie andere Frauen auch, kann sich die Klägerin dieser Möglichkeit bedienen. Das Anbringen des bei ihr durchgeführten Conture Make up auf Kosten der Solidargemeinschaft ist nicht erforderlich.
Damit entfällt nicht nur ein Anspruch nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V (ärztliche Behandlung), sondern auch ein Anspruch nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. § 32 SGB V (Heilmittel) und nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. § 33 SGB V (Hilfsmittel).
Soweit die Klägerin weiter vorträgt, dass sie bereits unter psychischen Problemen aufgrund des Haarverlustes leide, so begründet das ebenfalls keinen Anspruch nach § 27 Abs. 1 SGB V. Dabei lässt der Senat ausdrücklich dahin gestellt, ob tatsächlich eine psychische Störung bei der Klägerin besteht. Das Conture Make up ist jedenfalls keine geeignete Methode zur Behandlung einer solchen psychischen Erkrankung. Das Bundessozialgericht (BSG) hat in seiner Entscheidung vom 9. Juni 1998 - Az. B 1 KR 18/96 R - (in SozR 3-2500 § 39 Nr. 5 = BSGE 82, 158 [BSG 09.06.1998 - B 1 KR 18/96 R] - 164) entschieden, dass die von den Krankenkassen geschuldete Krankenbehandlung grundsätzlich nur solche Maßnahmen umfasst, die unmittelbar an der eigentlichen Krankheit ansetzen. Bei psychischen Störungen beschränkt sich der Heilbehandlungsanspruch deshalb im allgemeinen auf eine Behandlung mit den Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie und schließt operative Eingriffe grundsätzlich nicht ein. Diese Rechtsgrundsätze sind auf den vorliegenden Fall zu übertragen und schließen einen Anspruch auf Feinstpigmentierung der Augenbrauen aus.
Angesichts dessen bedarf es keiner Entscheidung der von der Beklagten aufgeworfenen Frage, ob das Conture Make up eine ärztliche Leistung im Delegationsverfahren sein kann (vgl. hierzu: Urteil des BSG vom 16. November 1999 - Az. B 1 KR 9/97 R - zur medizinischen Fußpflege in SozR 3-2500 § 92 Nr. 10 und § 34 Nr. 6).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG)