Arbeitsgericht Stade
Urt. v. 27.10.1998, Az.: 1 Ca 401/97

Unwirksamkeit einer Kündigung wegen Geschäftsunfähigkeit des Zustellungsadressaten im Falle fehlender Bekanntgabe an den Betreuer

Bibliographie

Gericht
ArbG Stade
Datum
27.10.1998
Aktenzeichen
1 Ca 401/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1998, 16255
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:ARBGSTD:1998:1027.1CA401.97.0A

Verfahrensgegenstand

Feststellung

In dem Rechtsstreit
hat die 1. Kammer des Arbeitsgerichts Stade
auf die mündliche Verhandlung vom 06.10.98
durch
den Direktor des Arbeitsgerichts als Vorsitzenden und die ehrenamtlichen Richter und Beisitzer
für Recht erkannt:

Tenor:

Es wird festgestellt, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten mit Datum vom 22. Mai 1997 weder fristlos noch unter Einhaltung einer Kündigungsfrist beendet ist.

Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Der Streitwert wird auf 6.000,00 DM festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten um die Rechtswirksamkeit einer vom Beklagten gegenüber der Klägerin ausgesprochenen Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

2

Die am ... geborene Klägerin ist verheiratet und seit dem 01. April 1969 beim ... (Rechtsvorgänger des Beklagten) und ab 01. Juni 1978 beim Beklagten als Angestellte mit 20 Wochenstunden beschäftigt. Sie erhielt zuletzt Vergütung aus der Vergütungsgruppe VI b BAT.

3

Durch Beschluß des Amtsgerichts ... vom 29. April 1994 (Bl. 238 bis 240 d. A.) wurde ... zum Betreuer der Klägerin u. a. für Behördenangelegenheiten, insbesondere Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber dem ..., und Rechtsangelegenheiten mit sofortiger Wirksamkeit bestimmt, mit Beschluß vom 26. Mai 1997 (Bl. 297 d. A.) ... zum weiteren Betreuer (Vertreter), beide Beschlüsse unbefristet verlängert durch Beschluß des Amtsgerichts ... vom 23. Oktober 1997.

4

Am 23. oder 24. Mai 1998 holte die Klägerin bei der Post ein Kündigungsschreiben der Beklagten vom 22. Mai 1997 (Bl. 8 bis 14 d. A.) ab. Die Kündigung erfolgte fristlos aus personenbedingten Gründen (ununterbrochene Arbeitsunfähigkeit der Klägerin seit Mai 1996, offenbar wegen einer psychischen Erkrankung), hilfsweise aus verhaltensbedingten Gründen.

5

Sowohl der Betreuer, dem der Beklagte einen beglaubigten Abdruck des Kündigungsschreibens mit der Bitte um Kenntnisnahme und Beachtung (vgl. Bl. 241 d. A.) übersandt hat, als auch die Klägerin beauftragten den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin mit der Kündigungsangelegenheit.

6

Mit Schriftsatz ihres Prozeßbevollmächtigten vom 02. Juni 1997, eingegangen beim Arbeitsgericht Stade am 04. Juni 1997, wehrt sich die Klägerin mit der vorliegenden Klage gegen die Kündigung. Sie führt mehrere Gründe für die Unwirksamkeit der Kündigung an, u. a., daß der Klägerin die Kündigung wegen Geschäftsunfähigkeit nicht zugegangen sei.

7

Die Klägerin beantragt,

festzustellen, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten mit Datum vom 22. Mai 1997 weder fristlos noch unter Einhaltung einer Kündigungsfrist beendet ist, sondern zu unveränderten Bedingungen fortbesteht (§ 256 ZPO).

8

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Er hält die Kündigung für gerechtfertigt und nimmt zu den Ausführungen der Klägerin Stellung.

10

Wegen der Einzelheiten wird auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

11

Mit Einverständnis der Klägerin, ihres Prozeßbevollmächtigten und ihres Betreuers ist das Gutachten des Herrn ... vom 11. Oktober 1997 in der Betreuungssache (... Landgericht ...) beigezogen worden (Bl. 284 bis 307 d. A.).

12

Sodann ist Beweis über die Behauptung der Klägerin erhoben worden, sie sei zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung (23./24. Mai 1997) geschäftsunfähig gewesen, durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von ...

13

Auf das Gutachten vom 01. Juli 1998 (Bl. 340 bis 345 d. A.) wird verwiesen.

Gründe

14

Die zulässige Klage hat Erfolg.

15

Die der Klägerin am 23. oder 24. Mai 1997 ausgehändigte Kündigung ist ihr wegen Geschäftsunfähigkeit gemäß § 104 Ziff. 2 BGB nicht zugegangen (vgl. KR-Friederich, 4. Auflage 1996, § 13 KSchG, Rz. 292), so daß sie auch nicht wirksam werden konnte. Eines Eingehens auf die weiteren Gründe, die die Klägerin für eine Unwirksamkeit der Kündigung angeführt hat, bedarf es daher nicht.

16

Daß die Klägerin am 23./24. Mai 1997 geschäftsunfähig war, ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus dem Sachverständigengutachten vom 01. Juli 1998. Danach verfügt die Klägerin trotz der Fähigkeit, in weiten Bereichen angemessen und an vernünftigen Erwägungen orientiert zu handeln, in Bezug auf Auseinandersetzungen mit ihrem Arbeitgeber aufgrund einer paranoiden Wahnerkrankung nicht über eine normale Urteilsfindung und Motivation, so daß sie insgesamt bei diesem Themenkreis - dazu gehört auch die Kündigung des Beklagten - nicht als geschäftsfähig angesehen werden kann. Die Annahme des Beklagten, bei der Klägerin habe bei Entgegennahme der Kündigung ein sogenannter "lichter Augenblick" vorgelegen, kann nicht nachvollzogen werden. Denn der Gutachter hat ja seine Beurteilung getroffen, obwohl er davon ausgeht, daß die Klägerin wahrzunehmen imstande war, worum es bei der Kündigung ging und trotz der zeitgerechten und an "vernünftigen Erwägungen orientierten" Übergabe der Angelegenheit an ein Anwaltsbüro. Der Sachverständige ist nach Ansicht der Kammer auch aufgrund der stationären Untersuchung der Klägerin vom 27. Mai 1997 bis 03. Juni 1997 in der psychiatrischen Klinik II des Zentralkrankenhauses Bremen-Ost im Rahmen des Betreuungsverfahrens, also kurz nach Aushändigung des Kündigungsschreibens, besonders geeignet, eine sachgerechte und fallbezogene Beurteilung abzugeben.

17

Die Kündigung ist auch dem Betreuer der Klägerin nicht zugegangen, da die Übersendung einer beglaubigten Kopie mit der Bitte um Kenntnisnahme und Beachtung zur Abgabe einer Willenserklärung nicht ausreicht, worauf der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin zu Recht hinweist.

18

Nur der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, daß die Klägerin die Bevollmächtigung der Rechtsanwälte ... nicht ohne Zustimmung des Betreuers widerrufen konnte (wie am 18. April 1998 geschehen sein soll, vgl. Schreiben der Klägerin vom 27. Juli 1998, Bl. 355/356 d. A.), da ein Einwilligungsvorbehalt des Betreuers gemäß § 1903 Abs. 1 BGB besteht, wie sich aus den zitierten Beschlüssen des Amtsgerichts ... ergibt, und der Betreuer ausdrücklich erklärt hat, dem nicht zuzustimmen (vgl. Protokoll vom 06. Oktober 1998, Bl. 372 d. A.).

19

Dem Klagantrag ist bezüglich des letzten Teils "sondern zu unveränderten Bedingungen fortbesteht (§ 256 ZPO)" nicht entsprochen worden. Er ist trotz des Hinweises auf § 256 ZPO auch nicht abgewiesen worden, da sich die Antragsbegründung ausschließlich mit der Frage befaßt, ob eine vom Arbeitgeber ausgesprochene bestimmt bezeichnete Kündigung wirksam ist. Es liegt daher kein gegenüber der Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG erweiterter Streitgegenstand vor (vgl. BAG, Urteil vom 16.03.1994, 8 AZR 97/93, abgedruckt in NZA 1994, 860 ff.).

20

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.

Streitwertbeschluss:

Der Streitwert ist gemäß den §§ 61 Abs. 1, 12 Abs. 7 ArbGG im Urteil festgesetzt und entspricht dem Betrag des für die Dauer eines Vierteljahres zu leistenden Arbeitsentgelts (3 × 2.000,00 DM = 6.000,00 DM). Das monatliche Entgelt der Klägerin hat die Kammer geschätzt.