Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 17.10.2018, Az.: 11 UF 125/18

Verfahren des Familiengerichts bei Genehmigung der Entscheidung der sorgeberechtigten Eltern über unterbringungsähnliche Maßnahmen

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
17.10.2018
Aktenzeichen
11 UF 125/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 39874
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
AG Osnabrück - 08.08.2018 - AZ: 3 F 205/17 UB

Amtlicher Leitsatz

1. Es liegt kein Anwendungsfall des § 1693 BGB vor, wenn sorgerechtsfähige Eltern ihrer Sorgerechtsverantwortung nicht nachkommen oder solche Maßnahmen treffen, die das Gericht für sachlich ungeeignet hält.

2. Bei einem Dissens der gemeinsam sorgeberechtigten Eltern über unterbringungsähnliche Maßnahmen kommt vorrangig eine gerichtliche Entscheidung nach § 1628 BGB in Betracht.

3. In Verfahren betreffend die Genehmigung der Entscheidung der sorgeberechtigten Eltern über unterbringungsähnliche Maßnahmen des minderjährigen Kindes sind die sorgeberechtigten Eltern persönlich anzuhören.

Tenor:

I. Auf die Beschwerde der Kindesmutter vom 28.09.2018 wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Osnabrück vom 08.08.2018 aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen, das auch über die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden hat.

II. Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben.

III. Der Beschwerdewert wird auf 3.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Beschwerdeführerin ist die Kindesmutter des am 16.11.2005 geborenen Kindes J... A... . Ausweislich der Sorgeerklärung vom 02.10.2006 übt sie mit dem Kindesvater die gemeinsame elterliche Sorge aus. J... lebt in der Einrichtung ... . Sie leidet unter anderem an schwerer Epilepsie, Trichotillomanie und einem Pica-Syndrom. Aufgrund dieser Erkrankungen kommt es zu Selbst- und Fremdgefährdungen. Ausweislich des Berichts des Jugendamtes vom 28.11.2017 versucht J... unbeaufsichtigt auch ungenießbares, wie beispielsweise ihre eigenen Ausscheidungen und ihre Windeln, zu essen. Sie neigt zu Aggressionen, die sich gegen sie selbst sowie gegen andere richten. In der Nacht steht J... ausweislich des Berichts des Jugendamtes immer wieder auf. Sie könne nur schwer Nachtruhe finden, wodurch es aufgrund fehlendem Schlaf vermehrt zu schweren epileptischen Anfällen komme. Bei epileptischen Anfällen müsse jeweils eine notärztliche Versorgung erfolgen. Die Einrichtung hat gegenüber dem Jugendamt freiheitsentziehende Maßnahmen für erforderlich erachtet, nämlich ein Overall, eine Art Schlafsack, der nachts zu tragen sei und verhindern solle, dass J... sich in der Nacht die Kleidung zerreißt und ihre Windel oder Ausscheidungen isst. Zudem hält die Einrichtung nach oben geschlossene Bettgitter für erforderlich, damit J... nachts im Bett bleibe und ihren notwendigen Schlaf bekomme. Da J... keine eigene Impulskontrolle habe, sei die Durchführung kurzfristiger Time-Out Maßnahmen erforderlich. Ein geschlossener Raum biete J... die erforderliche Ruhe in einer reizarmen Umgebung, so dass diese nach 20 Minuten wieder ausgeglichen sei.

Der Kindesvater stellte am 22.01.2018 schriftlich den Antrag, regelmäßige freiheitsentziehende Maßnahmen zum Schutz seiner Tochter J... in Form der Anbringung auch nach oben hin geschlossener Bettgitter sowie in Form des regelmäßigen Tragens eines Overalls zu genehmigen (Bl. 15 d. A.).

Die Kindesmutter stellte am 31.01.2018 schriftlich den Antrag, die regelmäßige Freiheitsentziehung von J... in Form des regelmäßigen Tragens eines Overalls (Schlafsackes) zu genehmigen (Bl. 17 d. A.).

Beide Eltern wiesen darauf hin, dass sie sich nicht auf einen gemeinsamen Antrag verständigen könnten.

Das Familiengericht hat J... am 14.02.2018 in der Einrichtung persönlich in Anwesenheit der Verfahrensbeiständin angehört. Auf den Anhörungsvermerk wird Bezug genommen.

Zur Klärung der erforderlichen freiheitsentziehenden Maßnahmen hat das Amtsgericht ein Sachverständigengutachten eingeholt. Auf das kinder- und jugendpsychiatrische Gutachten des Sachverständigen T... vom 22.06.2018 wird Bezug genommen (Bl. 43ff d. A.). Das Gutachten wurde unter dem 06.07.2018 zum Zwecke der Kenntnisnahme und Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Wochen an die Kindeseltern und das Jugendamt formlos übersandt (Bl. 41R d. A.).

Am 16.07.2018 teilte der Lebensgefährte der Kindesmutter dem Amtsgericht mit, dass sich die Kindesmutter bis Ende August 2018 in der Reha-Klinik befinde und sich diese nach Auskunft ihrer behandelnden Ärzte derzeit nicht mit dem Gutachten auseinandersetzen solle (Bl. 60 d. A.). Der Lebensgefährte der Kindesmutter übersandte ein entsprechendes Schreiben an das Amtsgericht, welches dort am 19.07.2018 einging (Bl. 61 d. A.).

Mit Beschluss vom 08.08.2018 (Bl. 68ff d. A.) hat das Amtsgericht die zeitweise und regelmäßige Freiheitsentziehung des Kindes in Form der Anbringung eines auch nach oben geschlossenen Bettgitters, eines geschlossenen Overalls in der Nacht und am Abend, Durchführung kurzfristiger Time-out-Maßnahmen zur Reduktion aggressiver Impulsdurchbrüche und Beruhigung bei unzureichenden anderen Maßnahmen (maximal 20 Minuten), Kameraüberwachung in ihrem Zimmer ausschließlich in Situationen, in denen J... alleine in ihrem Zimmer ist, nach ausdrücklicher Anordnung des behandelnden Arztes angeordnet und ausgesprochen, dass diese Entscheidung längstens bis zum 31.08.2019 gilt sowie sofort wirksam ist (Bl. 71 d. A.). Die Entscheidung stützt sich auf § 1693 BGB ohne Ausführungen zum Vorliegen der Voraussetzungen dieser Norm. Über die Anträge der Kindeseltern auf Genehmigung der von ihnen gewünschten unterbringungsähnlichen Maßnahmen hat das Amtsgericht keine Entscheidung getroffen.

Das Gutachten wurde sodann unter dem 14.08.2018 an die Verfahrensbeiständin übersandt (Bl. 60R d. A.).

Am 28.08.2018 ging die Stellungnahme der Kindesmutter zu dem Sachverständigengutachten ein, in der diese sich zunächst für die gewährte Fristverlängerung bedankte und sich gegen das Ergebnis des Sachverständigengutachtens wandte (Bl. 64ff d. A.).

Die Kindesmutter wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die angeordneten unterbringungsähnlichen Maßnahmen. Sie wendet im Wesentlichen ein, sie habe lediglich die Genehmigung des Overalls beantragt, da die übrigen Maßnahmen ihres Erachtens nach nicht erforderlich seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Bericht des Jugendamtes vom 28.11.2017 (Bl. 11f d. A.), den Bericht der Verfahrensbeiständin vom 15.02.108 (Bl. 20 d. A.), den Bericht der Einrichtung ... vom 19.03.2018 (Bl. 24f d. A.) sowie die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.

II.

Die gemäß §§ 58ff FamFG zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen, da dieses in der Sache noch nicht entschieden hat, § 69 Abs. 1 Satz 2 FamFG. Das Amtsgericht hat keine Entscheidung über den Antrag der Kindeseltern auf Genehmigung der von ihnen begehrten unterbringungsähnlichen Maßnahmen getroffen. Die Entscheidung über solche Maßnahmen steht den sorgeberechtigten Eltern zu. Das in § 1631b BGB normierte Genehmigungserfordernis stellt einen Eingriff in das durch das Grundgesetz geschützte Elternrecht dar (Art. 6 Abs. 2 GG).

Gegenstand des Verfahrens ist die Genehmigung einer Entscheidung der sorgeberechtigten Eltern, freiheitsentziehende Maßnahmen vornehmen zu lassen (§ 1631b Abs. 2 BGB). Die Kindeseltern haben die Genehmigung von unterbringungsähnlichen Maßnahmen - nämlich die Genehmigung des regelmäßigen Tragens eines Overalls - und der Kindesvater darüber hinaus die Genehmigung des Anbringens von auch nach oben hin geschlossenen Bettgittern beantragt. Eine Entscheidung des Amtsgerichts auf der Grundlage der Vorschrift des § 1631b Abs. 2 BGB wurde nicht vorgenommen. Indem das Amtsgericht ohne einen elterlichen Antrag auf Genehmigung der unterbringungsähnlichen Maßnahmen eine über den Willen der Eltern hinausgehende Anordnung über die freiheitsentziehenden Maßnahmen für die Dauer von einem Jahr getroffen hat, hat es in der Sache einen Eingriff in die elterliche Sorge unter Bezugnahme auf § 1693 BGB vorgenommen, ohne indes Umstände zu nennen, die die Anwendbarkeit dieser Vorschrift rechtfertigen könnten.

Eine eigene Entscheidung des Amtsgerichts gem. § 1693 BGB hätte nicht ergehen dürfen, da weder die Voraussetzungen vorliegen, noch die Befugnis der Anordnung der für erforderlich erachteten unterbringungsähnlichen Maßnahmen hierdurch eröffnet werden könnten. Gem. § 1693 BGB trifft das Familiengericht die erforderlichen Maßregeln im Interesse des Kindes, wenn die Eltern verhindert sind. Vorgriffe auf endgültige Regelungen sind unzulässig. Zulässig sind bei festgestellter Verhinderung der sorgeberechtigten Eltern nur erforderliche Maßregeln, die der Abhilfe eines bestimmten vorübergehenden Bedürfnisses dienen. Die Vorschrift soll mithin nur Fehlzeiten der Eltern überbrücken. Im Rahmen der Amtsermittlung muss nach § 26 FamFG ermittelt und geprüft werden, ob beide sorgeberechtigten Eltern verhindert sind. Kein Anwendungsfall des § 1693 BGB ist gegeben, wenn grundsätzlich sorgerechtsfähige Eltern ihrer Sorgerechtsverantwortung nicht nachkommen oder solche Maßnahmen treffen, die das Gericht für sachlich ungeeignet hält. Die Vorschrift des § 1693 BGB greift nicht, wenn sorgeberechtigte Eltern an der "richtigen" Entscheidung verhindert sind, sondern nur, wenn diese an Sorgerechtsmaßnahmen schlechthin verhindert sind (vgl. Coester in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2014, § 1693 Rn. 5).

Liegt eine solche Verhinderung, wie hier ggf. bezüglich der Kindesmutter für die Zeit ihres Reha-Aufenthaltes, nur in der Person eines sorgeberechtigten Elternteils vor, sind für die Zeit der Verhinderung grundsätzlich die Vorschriften über die tatsächliche Verhinderung eines Elternteils und das Ruhen der elterlichen Sorge nach §§ 1678, 1680, 1681 BGB einschlägig. Grundsätzlich gilt, dass bei gemeinsamer elterliche Sorge der Eltern, diesen die Entscheidung über die Maßnahmen gemeinsam obliegt. Bei einem Dissens der Eltern kommt vorrangig zunächst - bei Vorliegen der Voraussetzungen - eine gerichtliche Entscheidung nach § 1628 BGB in Betracht (vgl. Veit in BeckOK BGB, Bamberger/Roth/Haus/Poseck, 47. Edition, Stand 01.08.2018 Rn. 10.1). Ob die Kindesmutter, entsprechend der Ausführungen ihres Lebensgefährten, während ihres Reha-Aufenthaltes tatsächlich verhindert war ihre elterliche Sorge auszuüben, erscheint bereits zweifelhaft. Weitere Ermittlungen hat das Amtsgericht hierzu nicht getroffen und auch nicht geprüft, ob und inwieweit infolge einer Verhinderung der Kindesmutter die §§ 1678, 1680, 1681 BGB greifen (vgl. Coester in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2014, § 1693 Rn. 3ff).

Das Amtsgericht hat zudem nicht berücksichtigt, dass keine Verhinderung, sondern evtl. eine Vernachlässigung oder sonstiges elterliches Fehlverhalten vorliegen könnte, wenn an sich sorgerechtsfähige Eltern ihrer elterlichen Verantwortung nicht nachkommen. In einem solchen Fall hätte das Familiengericht nach den §§ 1666ff BGB die erforderlichen Maßnahmen treffen müssen und nicht selbst nach § 1693 BGB entscheiden dürfen (vgl. Olzen in Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage 2017 Rn. 3ff, Veit in BeckOK BGB, Bamberger/Roth/Haus/Poseck, 47. Edition, Stand 01.08.2018 Rn. 2).

Darüber hinaus leidet das Verfahren an wesentlichen Mängeln. Eine persönliche Anhörung der sorgeberechtigten Kindeseltern wäre erforderlich gewesen. Zwar sind gem. §§ 167, 320 Satz 1 FamFG die weiteren Verfahrensbeteiligten i.S.d. § 315 FamFG anzuhören, zu welchen insbesondere die gesetzlichen Vertreter des Kindes und der Verfahrensbeistand gehören, wobei eine solche Anhörung auch schriftlich oder telefonisch erfolgen kann. Indes sind aufgrund der spezielleren Regelung des § 167 Abs. 4 FamFG die sorgeberechtigten Eltern persönlich anzuhören (Hammer in Prütting/Helms, FamFG, 4. Auflage, § 167 Rn. 27). Auch wäre das eingeholte Sachverständigengutachten der Verfahrensbeiständin mit der Gelegenheit zur Kenntnisnahme sowie Stellungnahme vor einer Entscheidung zu übersenden gewesen (Hammer a.a.O. Rn. 37).

Außerdem ist das betroffene Kind in einem gebotenen Umfang anzuhören. Nachdem dieses bereits zu Beginn des Verfahrens persönlich angehört wurde, wäre es nach §§ 167 Abs. 1, 151 Nr. 6, 312 Nr. 1, 319 Abs. 2 FamFG zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs des Kindes grundsätzlich erforderlich gewesen, dieses erneut nach Vorlage des Sachverständigengutachtens persönlich anzuhören. Im Rahmen dieser Anhörung hätte dem Kind der Inhalt des Gutachtens entsprechend seines Alters und Entwicklungsstandes mitgeteilt werden müssen und das Kind hätte zu den von dem Sachverständigen für erforderliche gehaltenen unterbringungsähnlichen Maßnahmen angehört werden müssen (vgl. Budde in Keidel, FamFG, 19. Aufl., 2017, § 319 Rdn. 6). Soweit von der Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens und der Anhörung zum Gutachten ausnahmsweise abgesehen wird, ist dies jedenfalls zu begründen (vgl. Hammer a.a.O. Rn. 37).

Indem der angefochtene Beschluss aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen wird, besteht nun Gelegenheit über den - übereinstimmenden - Antrag der Kindeseltern auf Genehmigung der unterbringungsähnlichen Maßnahmen nach § 1631b Abs. 2 BGB nach deren persönlicher Anhörung und Auseinandersetzung der von der Kindesmutter erhobenen Einwendungen gegen das Gutachten zu entscheiden. Sofern im Rahmen der ggf. weitergehenden erforderlicher unterbringungsähnlicheren Maßnahmen seitens der Eltern keine Verständigung erfolgt und bei fortbestehendem Dissens auch keine Entscheidung nach § 1628 BGB veranlasst wird, sind Maßnahmen nach §§ 1666ff BGB prüfen. Dann könnte der Pfleger bzw. der sodann alleinsorgeberechtigte Elternteil die Genehmigung der Entscheidungen über unterbringungsähnliche Maßnahmen nach § 1631b BGB beantragen.

III.

Die Kostenentscheidung über die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens folgt aus § 20 FamGKG. Die Wertfestsetzung beruht auf §§ 40 Abs. 1, § 42 FamGKG.