Verwaltungsgericht Osnabrück
Urt. v. 13.03.2009, Az.: 6 A 215/08

Ermessen; Gehbehinderung; Parkerleichterung; Schwerbehinderung

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
13.03.2009
Aktenzeichen
6 A 215/08
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2009, 44500
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOSNAB:2009:0313.6A215.08.0A

Tatbestand

1

Der im Jahre 1961 geborene, als Berufskraftfahrer tätige Kläger ist schwerbehindert. Mit Bescheid des Nds. Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie - Außenstelle D. - vom 17.03.2008 wurde bei ihm für die Zeit ab dem 01.10.2007 der Grad der Behinderung (GdB) mit 80 sowie das Merkzeichen "G" (Gehbehinderung) festgestellt. Dabei wurden als Funktionsbeeinträchtigungen eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Lendenwirbelsäule mit Gefühls- und Muskelfunktionsstörungen, Wirbelkanalenge und Bandscheibenschaden in 3 Etagen, Arthrose beider Schultergelenke und rechtem Ellenbogengelenk, Bewegungseinschränkung der Hüft-, Knie- und Fußgelenke bei Verschleiß mit Gehbehinderung (Einzel-GdB: 70), eine Hauterkrankung (Einzel-GdB: 20) und eine Lungenfunktionsstörung (Einzel-GdB: 20) anerkannt; daneben wurden weitere Funktionsbeeinträchtigungen (Hochtonschwerhörigkeit links mit Ohrgeräuschen, Augenleiden, Kopfschmerzen, Hypertonie, Magenbeschwerden, Angstzustände, Konzentrationsstörungen, Gicht, Rheuma) festgestellt, die sich weder auf den Gesamt-GdB erhöhend auswirkten noch die Zuerkennung eines weiteren Merkzeichens begründeten.

2

Mit Schreiben vom 15.04.2008 beantragte der Kläger beim Beklagten die Bewilligung einer Parkerleichterung für Schwerbehinderte und begründete dies unter Hinweis auf den Feststellungsbescheid vom 17.03.2008 sowie ein unfallchirurgisch-orthopädisches Gutachten des E. Krankenhauses F. vom 27.12.2007 damit, dass er aufgrund seiner Funktionsbeeinträchtigungen beispielsweise Autotüren oft nur mit den Beinen und damit vergleichsweise ungezielt öffnen und im Übrigen schwere Einkaufsgüter nur sehr eingeschränkt über längere Strecken tragen könne. Die üblichen öffentlichen Parkplätze schieden daher für ihn in der Regel aus, so dass er auf eine Parkerleichterung angewiesen sei.

3

Mit - nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenem - Bescheid vom 28.04.2008 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte er aus, dass Parkerleichterungen grundsätzlich nur Blinden sowie Schwerbehinderten mit einer außergewöhnlichen Gehbehinderung bewilligt werden könnten; zu diesem Personenkreis gehöre der Kläger ausweislich des vorgelegten Feststellungsbescheides vom 17.03.2008 nicht. Der Kläger erfülle auch nicht die in der Richtlinie des Nds. Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr vom 04.05.2004 genannten Voraussetzungen, unter denen ggf. auch Schwerbehinderte, denen das Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) nicht zuerkannt worden sei, eine Parkerleichterung erlangen könnten. Ggf. müsse sich der Kläger noch einmal mit dem Nds. Landesamt für Soziales, Jugend und Familie in Verbindung setzen, um sich von dort eine außergewöhnliche Gehbehinderung bestätigen zu lassen.

4

Hiergegen erhob der Kläger zunächst "Widerspruch" und verwies darauf, dass bei ihm ein Gesamt-GdB von 80, ein Einzel-GdB von 70 wegen seiner Lendenwirbelerkrankung sowie ein Einzel-GdB von 20 wegen seiner Lungenfunktionsstörung festgestellt worden sei; diese Beschwerden rechtfertigten es in ihrer Gesamtheit, ihm die beantragte Parkerleichterung zu gewähren. Mit Schreiben vom 10.06.2008 teilte der Beklagte mit, dass er auch nach nochmaliger Prüfung der Angelegenheit keine Möglichkeit sehe, den beantragten Parkausweis für Schwerbehinderte auszustellen; gleichzeitig wies er den Kläger darauf hin, dass aufgrund einer zwischenzeitlichen Änderung der Rechtslage ein Widerspruch gegen den Bescheid vom 28.04.2008 nicht mehr möglich sei, sondern ggf. unmittelbar Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben werden müsse.

5

Der Kläger hat daraufhin am 09.07.2008 unter Vertiefung seines bisherigen Vorbringens Klage erhoben. Ergänzend macht er geltend, dass er aufgrund seiner besonderen Leidenskombination nicht mehr in der Lage sei, eine Gehwegstrecke von mehr als 100 m zu bewältigen, wobei sein zumutbares Gehvermögen in einem Bereich von 20 bis 30 m liege. Er gehöre daher zu dem Personenkreis, der das Merkzeichen "aG" nur knapp verfehle, so dass ihm die beantragte Parkerleichterung zu gewähren sei.

6

Der Kläger beantragt,

  1. den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 28.04.2008 zu verpflichten, ihm eine Parkerleichterung für Schwerbehinderte zu bewilligen.

7

Der Beklagte beantragt,

  1. die Klage abzuweisen.

8

Er weist ergänzend zu den Gründen des angefochtenen Bescheides darauf hin, dass es nicht ermessensfehlerhaft sei, andere als die nach den einschlägigen Vorschriften anspruchsberechtigten Gruppen von Schwerbehinderten nicht zu privilegieren, weil sich jede Ausweitung des Kreises der Berechtigten durch eine größere Auslastung des zur Verfügung stehenden Parkraums nachteilig auf den zu schützenden Personenkreis auswirken würde.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die beantragte Parkerleichterung für Schwerbehinderte, so dass ihn der angefochtene Ablehnungsbescheid nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

10

Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO können die Straßenverkehrsbehörden in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen von den Verboten oder Beschränkungen, die durch Vorschriftzeichen, Richtzeichen, Verkehrseinrichtungen oder Anordnungen erlassen sind, genehmigen. Die Entscheidung darüber steht, wie sich aus dem Gesetzeswortlaut ("können") ergibt, im Ermessen der Behörde, so dass der Kläger von vornherein keinen Rechtsanspruch auf die begehrte Parkerleichterung hat; vielmehr hat sich die gerichtliche Prüfung auf die Frage zu beschränken, ob die angefochtene Entscheidung des Beklagten Ermessensfehler i.S.d. § 114 Satz 1 VwGO aufweist. Letzteres ist nicht der Fall.

11

Das der Behörde durch § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO eingeräumte Ermessen wird zunächst - auf der Ebene des Bundesrechts - durch Nr. 11 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift (Allg. VwV) zu § 46 StVO konkretisiert. Nach deren Abschnitt I. Nr. 1 können Schwerbehinderten mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Ausnahmen von bestimmten Park- und Halteverbotsvorschriften gestattet werden. Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind gemäß Abschnitt II. Nr. 1 Allg. VwV solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können. Zu dem dort aufgeführten Personenkreis der Schwerbehinderten - nämlich Gelähmten und (Einfach- bzw. Doppel-)Amputierten bzw. Schwerbehinderten, bei denen das Versorgungsamt eine außergewöhnliche Gehbehinderung festgestellt hat - gehört der Kläger unstreitig nicht; insbesondere ist ihm in dem Feststellungsbescheid des Nds. Landesamt für Soziales, Jugend und Familie vom 17.03.2008 ungeachtet der dort anerkannten Funktionsbeeinträchtigungen das Merkzeichen "aG" gerade nicht zuerkannt worden. An diese - für den Kläger "ungünstige" - versorgungsärztliche Feststellung war der Beklagte bei seiner Entscheidung gebunden; auch das Verwaltungsgericht kann im Rahmen des vorliegenden (verwaltungsrechtlichen) Verfahrens keine davon abweichenden tatsächlichen Feststellungen treffen (vgl. BVerwG, U.v. 27.02.1992 - 5 C 48.88 -, NVwZ 1993, 586 [BVerwG 27.02.1992 - BVerwG 5 C 48.88]). Sollte sich die Gehbehinderung des Klägers zwischenzeitlich verschlimmert haben oder künftig verschlimmern, wäre er gehalten, ggf. einen Antrag auf (Neu-)Festsetzung (§ 69 SGB IX) beim Nds. Landesamt für Soziales, Jugend und Familie zu stellen und - im Falle der Erfolglosigkeit eines solchen Begehrens - anschließend ggf. Klage beim zuständigen Sozialgericht zu erheben.

12

Eine weitere Konkretisierung des der Behörde durch § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO eröffneten Ermessensspielraums enthält - auf der Ebene des Landesrechts - die "Richtlinie" des Nds. Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr vom 04.05.2004, in der unter bestimmten Voraussetzungen Parkerleichterungen auch für Schwerbehinderte empfohlen werden, denen das Merkzeichen "aG" nicht zuerkannt worden ist, von denen der Richtliniengeber aber letztlich davon ausgeht, dass sie dieses Merkzeichen nur knapp verfehlt haben. Die dort genannten Voraussetzungen, von denen hier von vornherein allenfalls die Nrn. 1 und 2 einschlägig sein könnten, erfüllt Kläger jedoch ebenfalls nicht. Denn ihm ist in dem genannten versorgungsärztlichen Feststellungsbescheid weder ein (Einzel-)GdB von mindestens 80 allein infolge Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule zuzüglich der Merkzeichen "G" und "B" (Nr. 1) - sondern "lediglich" ein Gesamt-GdB von 80 mit Merkzeichen "G", aber ohne Merkzeichen "B" - noch ein Einzel-GdB von 70 infolge Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule und ein Einzel-GdB von wenigstens 50 infolge Funktionsstörungen des Herzens oder der Lunge (Nr. 2) - sondern wegen seiner Lungenerkrankung "lediglich" ein Einzel-GdB von 20 - zuerkannt worden. Dass auch diese "Richtlinie" den speziellen Fall des Klägers nicht erfasst, ist unschädlich. Ermessensleitende Verwaltungsvorschriften bzw. "Richtlinien" sind grundsätzlich zulässig, um eine einheitliche Handhabung des Ermessens in der Verwaltungspraxis zu gewährleisten; damit geht - weil insoweit naturgemäß nicht jeder denkbare Einzelfall erfassbar ist - typischerweise einher, dass solche Regelungen in gewisser Weise "generalisierend" sind, d.h. sich auf bestimmte Fallgruppen beschränken. Der Richtliniengeber ist auch nicht gehalten, den Kreis der Begünstigten zu erweitern und noch weitere Gruppen von Schwerbehinderten mit Gehbehinderungen durch die Gewährung von Parkerleichterungen zu privilegieren; vielmehr darf er sich insoweit - nicht zuletzt vor dem Hintergrund faktisch insgesamt begrenzter Parkraumkapazitäten - darauf beschränken, solche Vergünstigungen nur denjenigen zukommen zu lassen, deren Gehfähigkeit ganz erheblich eingeschränkt ist (vgl. VG Gießen, U.v. 11.01.2007 - 6 E 1960/06 -; VG Köln, U.v. 24.09.2004 - 11 K 4727/03 -, jew. juris).

13

Allerdings ist die ministerielle "Richtlinie" vom 04.05.2004 nicht abschließend, so dass für die zuständige Straßenverkehrsbehörde auch bei Nichtvorliegen der dort genannten Voraussetzungen noch ein Ermessensspielraum hinsichtlich der Gewährung von Parkerleichterungen verbleibt. Auch unter diesem Aspekt lässt die angefochtene Entscheidung des Beklagten Ermessensfehler i.S.d. § 114 Satz 1 VwGO nicht erkennen. Ein entsprechender Ermessensfehlgebrauch könnte hier allenfalls dann in Betracht kommen, wenn greifbare Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers den Voraussetzungen, die nach den im Schwerbehindertenrecht geltenden Kriterien für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" maßgebend sind, im Wesentlichen entsprechen bzw. diesen zumindest (sehr) nahe kommen (vgl. VG Aachen, U.v. 01.04.2008 - 2 K 266/07 -, juris). Daran fehlt es hier. In Abschnitt 31 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 des SGB IX)" (Stand: November 2008) werden - in Übereinstimmung mit Nr. 11 Abschnitt II. Nr. 1 der Allg. VwV zu § 46 StVO - als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen angesehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können (Abs. 2).

14

Nach Abs. 4 der "Anhaltspunkte" darf die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden; soweit es die Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen betrifft, muss deren Gehvermögen auf das Schwerste (Hervorhebung durch das Gericht) eingeschränkt sein, so dass als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine entsprechende Gleichstellung rechtfertigen, werden u.a. Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades (Hervorhebung durch das Gericht) angesehen. Dass das Gehvermögen des Klägers in einem derartigen Ausmaß beeinträchtigt ist, lässt sich weder dem versorgungsärztlichen Feststellungsbescheid vom 17.03.2008 bzw. dem unfallchirurgisch-orthopädischen Gutachten des E. Krankenhauses F. vom 27.12.2007 noch seinem eigenen (bisherigen) Vorbringen entnehmen. Vielmehr hat er anlässlich der Begutachtung im E. Krankenhaus F. am 21.12.2007 im Rahmen der Eigenanamnese (lediglich) angegeben, dass er - ggf. unter Zuhilfenahme eines Regenschirms als Handstockersatz - eine Strecke von maximal 1000 m gehen könne, und im Rahmen des Verwaltungsverfahrens ergänzend erklärt, dass er vor allem schwere Einkaufsgüter nur sehr eingeschränkt über längere Strecken tragen könne. - Soweit der Kläger erstmals im Klageverfahren (mit Schriftsatz vom 21.08.2008) vorgetragen hat, dass er eine längere Gehwegstrecke als 100 m nicht mehr bewältigen könne bzw. sein zumutbares Gehvermögen in einem Bereich von 20 bis 30 m liege, ist dies mit den o.g. versorgungs- bzw. fachärztlichen Befunden und den bisherigen Angaben des Klägers nicht zu vereinbaren. Abgesehen davon würde dieser Vortrag allein - seine Richtigkeit unterstellt - auch noch nicht genügen, um den Kläger mit dem Personenkreis, dem das Merkzeichen "aG" zuerkannt worden ist, gleichzustellen.

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Nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. U.v. 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R -, juris) ist in diesem Zusammenhang nämlich nicht darauf abzustellen, über welche - letztlich mehr oder weniger "gegriffene" - Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeugs noch in zumutbarer Weise bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen - nämlich entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung - ihm dies noch möglich ist; insoweit wiederum kommt es maßgeblich darauf an, ob der Betroffene die genannten Voraussetzungen praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Fahrzeugs an erfüllt. Dafür ist hier angesichts der vorliegenden Befunde nichts ersichtlich. Sollte sich die Gehbehinderung des Klägers seit der letzten Begutachtung im Dezember 2007 tatsächlich in dem in seinem Schriftsatz vom 21.08.2008 beschriebenen Ausmaß verschlimmert haben, müsste er sich - wie eingangs bereits dargelegt - ggf. nochmals beim Nds. Landesamt für Soziales, Jugend und Familie um eine Zuerkennung des Merkzeichens "aG" bemühen.

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Vor diesem Hintergrund erweist sich die vom Beklagten angestellte Erwägung, dem Kläger die beantragte Vergünstigung zu versagen, um auf diese Weise zu vermeiden, dass der vorrangig zu schützende Kreis der Schwerbehinderten den tatsächlich nur begrenzt zur Verfügung stehenden Parkraum nicht mehr in vollem Umfang nutzen kann, nicht als sachwidrig (vgl. dazu auch BSG, aaO).