Verwaltungsgericht Osnabrück
Urt. v. 20.08.2019, Az.: 3 A 402/17

Abschiebungsverbot; Asyl; Asyl: Homosexualität; Behandelbarkeit; HIV-Infektion; Nepal

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
20.08.2019
Aktenzeichen
3 A 402/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69901
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Eine HIV-Infektion im Stadium A 2 rechtfertigt nicht die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für Nepal.
2. Antiretrovirale Medikamente werden in Nepal kostenfrei ausgegeben.
3. Auch homosexuellen Menschen kann das Aufsuchen der staatlichen Ausgabestellen zugemutet werden; auch wenn Homosexualität in der öffentlichen Wahrnehmung noch nicht vollständig akzeptiert ist und HIV-Infektionen in der öffentlichen Wahrnehmung häufig automatisch mit Homosexualität in Verbindung gebracht werden, hat zumindest der nepalesische Staat Schritte in Richtung einer Beendigung der Ausgrenzung und Diskriminierung homosexueller Menschen unternommen.

Tatbestand:

Der im Jahre 1988 geborene Kläger, nepalesischer Staatsangehöriger buddhistischen Glaubens, reiste am 15. Dezember 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 6. Juli 2016 einen Asylantrag.

Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 11. Juli 2017 trug er zur Begründung des Antrages vor, dass er homosexuell sei. Dennoch habe er gegen seinen Willen eine Frau geheiratet und einen Sohn mit ihr bekommen. Etwa fünf Monate vor seiner Ausreise, die ihn durch mehrere europäische Staaten geführt habe, habe seine Frau erfahren, dass er homosexuell sei. Sie habe dies auch ihren jeweiligen Familien mitgeteilt. Sein Adoptivvater habe ihn daraufhin zunächst bei sich aufgenommen. Die beiden Brüder seiner Frau hätten ihm damit gedroht, ihn umzubringen, weshalb er zu einem Freund in die Stadt Jorpati gegangen sei. Nach 15 oder 16 Tagen hätten die Schwager ihn gefunden und ihn auf das Bein geschlagen, als er mit dem Fahrrad unterwegs gewesen sei. Die Verletzung habe zwei Monate ambulant behandelt werden müssen. Der Freund habe ihm dann von der Möglichkeit, Schutz in Deutschland zu erlangen, berichtet. In der Folge habe er, der Kläger, etwa 1,5 Monate gearbeitet und sich dann Geld von Freunden und auch seinem Adoptivvater, der nicht gewollt habe, dass ihm etwas zustoße, geliehen. Nach der Ankunft in Deutschland habe er von seinem Freund erfahren, dass die Schwager weiterhin nach ihm gesucht hätten. Sie seien auch öfter mit Messern zu dem Freund gekommen. Von seinem Adoptivvater habe er erfahren, dass sich ein Schwager im Heimatdorf und einer in Kathmandu aufhalte und sie nach ihm suchten. Sogar das Telefon des Adoptivvaters sei kontrolliert worden. Er solle nicht nach Hause zurückkehren.

Mit Bescheid vom 18. September 2017 lehnte die Beklagte die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Anerkennung als Asylberechtigter sowie Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, drohte dem Kläger die Abschiebung nach Nepal an und setzte eine Ausreisefrist von 30 Tagen fest. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate festgesetzt.

Am 28. September 2017 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung führte er unter Vorlage ärztlicher Atteste (Dr. med. D. vom 13. Dezember 2017, vom 17. September 2018 und vom 25. April 2019, Herr Kraft vom 22. September 2018) aus, dass bei ihm seit September 2017 eine HIV-Infektion im Stadium A 2 nach CDC bekannt sei. Seit Oktober 2017 werde eine antiretrovirale Therapie mit Elvitegravir, Cobicistat, Emtricitabin und Tenofovir AF durchgeführt (Medikament „Genvoya“). Unter dieser Therapie sei ein rasches und sehr gutes virologisches und immunologisches Therapieansprechen festzustellen gewesen, das auch anhalte. Ein Verzicht auf eine der genannten Komponenten werde den Therapieerfolg gefährden und eine Resistenzbildung begünstigen. Aus medizinischer Sicht sei eine Fortsetzung der antiretroviralen Therapie mit den genannten Wirkstoffen erforderlich (Dr. med. E. l vom 17. September 2018).

Nachdem er zunächst schriftsätzlich angekündigt hatte, zu beantragen, den Bescheid der Beklagten vom 18. September 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen,

beantragt der Kläger nunmehr noch,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 18. September 2017 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf den angefochtenen Bescheid.

Das Gericht hat eine Auskunft der Deutschen Botschaft Kathmandu vom 20. Juli 2018 zur Frage der Verfügbarkeit und Finanzierbarkeit der vom Kläger eingenommenen Wirkstoffe bzw. Medikamente eingeholt. Nach Auskunft der Deutschen Botschaft ist Elvitegravir derzeit in Nepal nicht erhältlich, wird jedoch durch Raltegravir (400 mg) und Dolutegravir (50 mg) ersetzt. Cobicistat ist derzeit nicht erhältlich. Emtricitabin und Tenofovir AF sind erhältlich. Antiretrovirale Medikamente würden in Nepal durch staatliche Stellen kostenfrei abgegeben.

Der Kläger weist unter Bezugnahme auf die Stellungnahmen der Frau Dr. med. D. vom 17. September 2018 und vom 25. April 2019 und des Herrn Kraft vom 11. September 2018 darauf hin, dass ein Therapiewechsel mit Risiken verbunden sei. Eine Umstellung der Therapie beinhalte grundsätzlich die Möglichkeit des Auftretens von Nebenwirkungen. Bei Dolutegravir könnten neurologische Nebenwirkungen auftreten. Häufig würden Kopfschmerzen angegeben. Die Umstellung auf Raltegravir würde eine zweimal tägliche Einnahme erfordern. Da dieses Medikament eine niedrigere Resistenzbarriere aufweise, sei es bei einem Patienten mit noch nicht ausreichend supprimierter Viruslast nicht zu empfehlen. Der Wechsel der Therapie berge bei noch nicht ausreichend supprimierter Viruslast die Gefahr der Entwicklung von Resistenzen. In Deutschland werde die Gabe von Tenofoviralafenamid (Tenofovir AF) statt Tenofovir-Disoproxilfumerat (Tenofovir DF) empfohlen, da es bei langfristiger Anwendung von Tenofovir DF zu Knochen- und Nierenschädigungen kommen könne. Weiterhin trägt der Kläger vor, dass aus der Auskunft nicht hervorgehe, ob die Medikamente flächendeckend oder nur in Kathmandu kostenfrei abgegeben würden und ob Erkenntnisse darüber bestünden, dass dies auch tatsächlich umgesetzt werde. Dabei weist der Kläger auf die immer noch hohe HIV-Sterblichkeitsrate in Nepal hin, die gegen eine flächendeckende und kostenlose Versorgung mit tauglichen HIV-Medikamenten spreche. Zudem sei Homosexualität in Nepal immer noch kaum akzeptiert. HIV-Infektionen würden häufig mit Homosexualität in Verbindung gebracht. Das Aufsuchen einer Ausgabestelle komme einem Coming-Out gleich.

Die Beklagte trägt dazu vor, dass eine Umstellung der Medikation mit den befürchteten Nebenwirkungen keine bedrohliche Folge darstelle. Die Einnahme von Medikamenten sei immer mit Nebenwirkungen verbunden. Falls die Umstellung auf Raltegravir nicht empfohlen werde, könne auf Dolutegravir ausgewichen werden. Entscheidend sei, dass es in Nepal eine der in Deutschland verfügbaren Medikation vergleichbare Variante gebe, die sogar kostenlos erhältlich sei. Es müsse sich nicht um dieselben Medikamente handeln. Eine wesentliche Verschlechterung der Erkrankung des Klägers stehe daher nicht zu befürchten. Es sei nicht erforderlich, dass die Therapie in Nepal mit derjenigen in Deutschland gleichwertig sei. Ferner sei es ausreichend, wenn die medizinische Versorgung in einem Teil des Zielstaates gewährleistet sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Weiter wird verwiesen auf die Erkenntnismittel, die zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden sind.

Entscheidungsgründe

Soweit der Kläger sein ursprüngliches Klagebegehren mit der Antragstellung in der mündlichen Verhandlung nicht mehr weiterverfolgt, liegt eine (verdeckte) Klagerücknahme vor. Insoweit ist das Verfahren gem. § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen und hat der Kläger gem. § 155 Abs. 2 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Die zulässige Klage ist im Übrigen unbegründet.

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. September 2017 ist im entscheidungsmaßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO).

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 5 AufenthG. Die Abschiebung ist aus den Gründen des angefochtenen Bescheides, auf den die Kammer gem. § 77 Abs. 2 AsylG Bezug nimmt, nicht aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. II S. 685) unzulässig (§ 60 Abs. 5 AufenthG).

Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht erfüllt. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens sechs Monate ausgesetzt wird. Allgemeine Gefahren können aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann diese Sperrwirkung nur dann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung eingeschränkt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige Schutzlücke besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2010 - 10 C 10.10 -, juris).

Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, vor.

Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis in diesem Sinne kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Das ist unter anderem der Fall, wenn eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Herkunftsstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 – 1 C 1/02 –, Rn. 9, juris). Es ist aber nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist.

Es ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 (Bundesgesetzblatt Teil I, Ausgabe: 2016, Nr. 12, S. 390-393) die Voraussetzungen für die Annahme eines nationalen Abschiebungsverbots aus gesundheitlichen Gründen erleichtern wollte. Vielmehr liegt nach der Gesetzesbegründung eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung ebenfalls nur bei äußerst gravierenden Erkrankungen vor (BT-Drucks. 18/7538, S. 18). Die Abschiebung darf nicht dazu führen, dass sich diese schwerwiegende Erkrankung des Ausländers mangels Behandlungsmöglichkeit in einem Ausmaß verschlechtern wird, dass ihm eine individuell konkrete, erhebliche Gefahr an Leib oder Leben droht. Es wird jedoch im Falle einer Erkrankung nicht vorausgesetzt, dass die medizinische Versorgung im Herkunftsland bzw. im Zielstaat der Abschiebung der Versorgung in Deutschland oder in der Europäischen Union gleichwertig ist. Dem Ausländer ist es insbesondere zumutbar, sich in einen bestimmten Teil des Zielstaats zu begeben, in dem für ihn eine ausreichende medizinische Versorgung gewährleistet ist. Es kommt nicht darauf an, dass alle Landesteile des Zielstaats gleichermaßen eine ausreichende Versorgung bieten. Inländische Gesundheitsalternativen sind ggf. auszusuchen. Auch Erkrankung des Ausländers, die schon während des Aufenthalts des Ausländers außerhalb der Bundesrepublik Deutschland bestanden und somit bereits bei Einreise in die Bundesrepublik Deutschland vorgelegen haben, stehen der Abschiebung grundsätzlich nicht entgegen (BT-Drucks. 18/7538, S. 18 f.).

Zu beachten ist, dass bestimmte Übergangsschwierigkeiten, wie das Ausfindigmachen von Familienangehörigen beziehungsweise von Behandlungsmöglichkeiten im Heimatstaat noch unmittelbar mit der Art und Weise der Abschiebung oder Rückführung zusammenhängen und deshalb dem Vollstreckungsverfahren der Ausländerbehörde zuzurechnen sind. Ihnen kann und muss gegebenenfalls durch Ausgestaltung der Abschiebung oder Rückführung seitens der Ausländerbehörde begegnet werden. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis läge erst dann vor, wenn die erforderliche Behandlung auch bei entsprechender Ausgestaltung der Abschiebung oder Rückführung voraussichtlich nicht zur Verfügung stünde (BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002, a.a.O.).

Ob ein zwingendes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu entscheiden, die sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtungsweise entziehen.

Gemessen an diesen Grundsätzen begründet die HIV-Infektion (Stadium A 2 nach CDC des Klägers) kein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Im Fall einer HIV-Infektion ist eine solch extreme Gefahrenlage im Allgemeinen erst in deren Stadium 3 (AIDS) nach der CDC-Klassifikation erwogen worden (so OVG Hamburg, Beschluss vom 13. Oktober 2000 – 3 Bs 369/99 -, InfAuslR 2001, 132, 133 für den Fall einer lebensbedrohlichen Lage im Falle der Abschiebung). Eine extreme Gefahrenlage ist aber auch für das fortgeschrittene Stadium 2 (B 2 und B 3) der HIV-Infektion angenommen worden (VG Dresden, Urteil vom 28. Mai 2002 – A 12 K 31312/99 – und VG Gelsenkirchen, Urteil vom 25. November 2002 – 9a K 1157/00.A -, jeweils zit. nach juris), wenn der Ausländer bei Rückkehr in das Heimatland die Kosten für die erforderliche antiretrovirale Kombinationstherapie nicht aufbringen kann, was dazu führen würde, dass er an lebensgefährlichen Begleitinfektionen erkrankt und verstirbt. Insbesondere bei bereits aufgetretenen Komplikationen hätte der Abbruch der medikamentösen Therapie eine rasch erfolgende lebensbedrohliche Erkrankung und den Tod des Ausländers zur Folge (vgl. VG Gelsenkirchen, a.a.O.). Dagegen werden die strengen Voraussetzungen für die ausnahmsweise Gewährung von Abschiebungsschutz als nicht erfüllt angesehen, wenn sich die HIV-Infektion nach der CDC-Klassifikation im Stadium 1 (A 2) befindet, also nach Einschätzung des behandelnden Arztes bei Abbruch der Behandlung noch ca. fünf bis sieben Jahre vergehen würden, bevor es zu AIDS-assoziierten beziehungsweise AIDS-definierenden Erkrankungen kommen würde (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 20. März 2003 - 10 LA 30/03 -; VG Schwerin, Urteil vom 16. April 2002 – 11 A 2343/96 As –, jeweils zit. nach juris).

Nach diesen Maßstäben, denen das Gericht folgt, kann nicht von einer extremen Gefahrenlage für den Kläger bei seiner Rückkehr nach Nepal hinsichtlich seiner HIV-Infektion im Stadium A 2 ausgegangen werden. Aus den eingereichten ärztlichen Stellungnahmen ergibt sich darüber hinaus nicht konkret, mit welchem Krankheitsverlauf bei einer fehlenden Behandlung der Infektion zu rechnen ist. Jedenfalls gibt es keine Anhaltspunkte, dass der Krankheitsverlauf von dem bei HIV-Infektionen in diesem Stadium durchschnittlichen deutlich abweicht und beim Kläger schwerwiegende Folgen zeitlich früher einträten. Vor diesem Hintergrund kann – unabhängig von der Frage der Behandelbarkeit der HIV-Infektion – bereist nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger nach einer Abschiebung nach Nepal „alsbald“ eine Verschlimmerung seiner Krankheit oder den Tod im Sinne der Realisierung einer extremen Gefahrenlage erleiden müsste.

Darüber hinaus kann der Kläger ausweislich der durch die Kammer eingeholten Auskunft der Deutschen Botschaft Kathmandu vom 20. Juli 2018 auch in Nepal eine antiretrovirale Therapie erhalten. Antiretrovirale Medikamente werden kostenfrei ausgegeben. Dass nicht alle derzeit vom Kläger genommenen Medikamente (er wird mit dem Kombinationspräparat „Genvoya“, bestehend aus Elvitegravir, Cobicistat, Emtricitabin und Tenofovir AF, behandelt) in Nepal verfügbar sind, ändert an der grundsätzlichen Behandelbarkeit nichts, da dem Kläger eine Umstellung der Therapie nach Ansicht der Kammer zumutbar ist. Soweit die Ärzte des Klägers darauf verweisen, dass Tenofovir AF zu besseren Nieren- und Knochenwerten führe als Tenofovir DF - wobei aus der Auskunft nicht hervorgeht, dass Tenofovir DF und nicht AF verfügbar ist -, führt dies zu keiner anderen Einschätzung. Für diese Tatsache liegen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (Frühe Nutzenbewertung Genvoya, Stand 16. Juni 2016, abrufbar unter https://www.kbv.de/html/23459.php, zuletzt abgerufen am 2. September 2019) zufolge keine relevanten Daten vor. Ein Zusatznutzen von Genvoya gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie ist der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zufolge darüber hinaus nicht belegt (vgl. ebenda unter Hinweis auf die Tragenden Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage XII - Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGV V - Elvitegravir/Cobicistat/Emtricitabin/Tenofoviralafenamid vom 26. Juni 2016, Letzterer abrufbar unter https://www.g-ba.de/downloads/40-268-3828/2016-06-16_AM-RL-XII_Elvitagravir-Cobicistat-Emtricitabin-Tenofoviralafenamid_D-206_TrG.pdf, zuletzt abgerufen am 2. September 2019).

Vor diesem Hintergrund ist für das Gericht nicht ersichtlich, dass ein Therapiewechsel für den Kläger zu den Anforderungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG genügenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen führen würde. Die möglichen Komplikationen, die seine Ärzte aufzeigen - Begünstigung einer Resistenzbildung, Gefährdung des Therapieerfolgs, neurologische Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen - werden durch die Kammer nicht negiert, sind jedoch bei aller für den Kläger selbst unangenehmen Konsequenz nicht so fundamental, dass sie die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots rechtfertigen würden.

Soweit der Kläger darauf verweist, dass für ihn aus der Auskunft nicht erkennbar sei, dass die antiretroviralen Medikamente in Nepal flächendeckend verfügbar seien, kommt es auf diesen Aspekt nicht an. Gem. § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG liegt eine ausreichende medizinische Versorgung in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Dass hiervon in Bezug auf Nepal ausnahmsweise abzuweichen wäre, ist nicht ersichtlich. Die Zweifel an der tatsächlichen Kostenfreiheit der Medikation teilt die Kammer, die keinen Anlass hat, am Wahrheitsgehalt der Auskunft der Deutschen Botschaft zu zweifeln, nicht. Der Hinweis des Klägers auf die zweifelsohne hohe HIV-Sterblichkeitsrate in Nepal ist dabei auch kein Indiz für die Fehlerhaftigkeit der Auskunft. Die Sterblichkeitsrate liegt auch in Ländern wie Ghana oder Sierra Leone, in denen antiretrovirale Medikamente gerichtsbekannt gratis oder sehr kostengünstig ausgegeben werden, weit über derjenigen der Bundesrepublik, was mutmaßlich mit dem allgemeinen Lebensstandard in diesen Ländern und/oder mangelnder Aufklärung zusammenhängt. Überdies kann der Kläger Rückkehrbeihilfen erhalten und/oder bei der Rückführung mit einem Medikamentenvorrat für die Anfangszeit ausgestattet werden. Auch wenn er keinen Kontakt mehr zu seinen Adoptiveltern hat, so dürften doch Freunde in der Lage sein, ihm - der zudem erwerbsfähig ist - darüber hinaus zu helfen.

Dass dem Kläger das Aufsuchen der Ausgabestelle aufgrund der mangelnden Akzeptanz von Homosexualität in Nepal und der untrennbaren Verbindung von HIV-Infektionen mit Homosexualität in der öffentlichen Wahrnehmung unzumutbar wäre, ist für die Kammer nicht ersichtlich. Auch wenn Homosexualität in der öffentlichen Wahrnehmung noch nicht vollständig akzeptiert ist und auch der Kläger Ausgrenzung durch seine Familie erfahren hat, hat zumindest der nepalesische Staat Schritte in Richtung einer Beendigung der Ausgrenzung und Diskriminierung homosexueller Menschen unternommen (vgl. Antwort der Bundesregierung auf Große Anfrage vom 29. März 2019, BT-Drs. 19/9077, S. 10, 45 ff.). Angesichts dieser staatlichen Haltung und des damit verbundenen möglichen staatlichen Schutzes kann dem Kläger gerade in einer Großstadt wie Kathmandu zugemutet werden, die entsprechenden Ausgabestellen aufzusuchen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.