Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 21.11.2002, Az.: 2 A 710/01

Baugenehmigung; begünstigender Verwaltungsakt; Duldungspflicht; Ermessen; Ermessensdefizit; Gemeinde; Nebenbestimmung; rechtswidriger Verwaltungsakt; Rücknahme; Rücknahmeermessen

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
21.11.2002
Aktenzeichen
2 A 710/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 43433
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

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Die Klägerin wendet sich gegen einen (Widerspruchs-) Bescheid der Beklagten, durch den eine Nebenbestimmung zu einer dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigung aufgehoben worden ist.

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Im März 1992 stellte der Beigeladene beim Landkreis Rotenburg (Wümme) eine Bauvoranfrage für die Errichtung eines landwirtschaftlichen Betriebes auf dem im Außenbereich und ca. 100 m südlich der städtischen Kläranlage der Klägerin gelegenen Flurstück 180/1 der Flur 11, Gemarkung B. (Postanschrift: W. 1). Unter dem

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29. April 1992 erklärte die Klägerin zu dem Bauvorhaben unter der Voraussetzung, dass es sich bei diesem um ein privilegiertes handele, ihr gemeindliches Einvernehmen. Am

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5. Oktober 1992 erteilte der Landkreis Rotenburg (Wümme) dem Beigeladenen einen positiven Bauvorbescheid.

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Unter dem 2. Dezember 1992 beantragte der Beigeladene dann beim L. R. (W.) die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau eines landwirtschaftlichen Betriebes auf dem o.g. Flurstück. Die Klägerin erteilte zu dem Bauvorhaben mit Schreiben vom 9. Dezember 1992 ihr gemeindliches Einvernehmen. Unter Punkt 6. des Schreibens (Sonstige Anmerkungen) heißt es u.a. „Es wird darauf hingewiesen, daß sich nördlich des Baugrundstückes die Städt. Kläranlage befindet, von der bei bestimmten Witterungsverhältnissen Gerüche ausgehen können. Es muß sichergestellt werden, daß hierdurch von dem Bauherrn und seinen Rechtsnachfolgern keine Ansprüche gegen die Stadt B. geltend gemacht werden“. Am 9. Februar 1993 erteilte der Landkreis R. (W.) dem Beigeladenen die von diesem beantragte Baugenehmigung. Die Baugenehmigung ist mit zahlreichen Nebenbestimmungen versehen, u.a. mit folgender (Nr. 7 unter Punkt 3. - Besondere Auflagen und Bedingungen):

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„Nördlich des Baugrundstücks befindet sich die städtische Kläranlage. Die von dort möglicherweise ausgehenden Geruchsbelästigungen sind zu dulden und können nicht als nachteilige Wirkung angesehen werden. Es können auch keine Ansprüche gegen die Stadt B. geltend gemacht werden.“

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Im Jahr 1998 wandte sich der Beigeladene an die Klägerin, beschwerte sich über die von der städtischen Kläranlage, die nach dem Zuzug des Beigeladenen in den Weidenweg um ein Klärschlammlager erweitert worden war, ausgehenden Geruchsimmissionen und forderte, Abhilfe zu schaffen.

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Am 21. Februar 2001 wandte sich der Beigeladene telefonisch an die Beklagte. Er bat um Prüfung, ob die Nebenbestimmung Nr. 3.7 zu der ihm erteilten Baugenehmigung rechtmäßig sei und wies darauf hin, dass er ein großes Interesse an der Entfernung der genannten Nebenbestimmung habe, weil sich das Zivilgericht im Rahmen des bei diesem anhängigen Verfahrens - Klage des Beigeladenen und seiner Ehefrau gegen die Klägerin auf Gewährung von Schadensersatz wegen Geruchsbelästigungen durch die städtische Kläranlage (Landgericht S., Az.: 4 O 118/01) - auf die Nebenbestimmung berufen habe. Nach fernmündlicher Mitteilung der Beklagten, dass die Nebenbestimmung rechtswidrig sei, und nach erfolgtem Hinweis auf die Möglichkeit der Rücknahme von rechtswidrigen Verwaltungsakten gemäß § 48 VwVfG beantragte der Beigeladene mit Schreiben vom 21. Februar 2001 bei dem Landkreis R. (W.), die in Rede stehende Nebenbestimmung zu der ihm erteilten Baugenehmigung zu streichen bzw. deren Unwirksamkeit zu bescheinigen.

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Die vom Landkreis R. (W.) um Stellungnahme zum Antrag des Beigeladenen gebetene Klägerin führte mit Schreiben vom 29. März 2001 aus: Eine Rücknahme der Nebenbestimmung Nr. 3.7 zu der dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigung scheide von vornherein aus, weil die Nebenbestimmung rechtmäßig sei. Auch ein Widerruf der Nebenbestimmung komme nicht in Betracht. Zunächst sei zwingend zu berücksichtigen, dass die städtische Kläranlage Bestandsschutz genieße. Hinzu komme, dass das gemeindliche Einvernehmen zu dem Bauvorhaben des Beigeladenen ohne Aufnahme der Nebenbestimmung in die Baugenehmigung nicht erteilt worden wäre. In diesem Zusammenhang sei fraglich, ob die in Rede stehende Nebenbestimmung überhaupt isoliert aufhebbar sei. Obwohl die Kläranlage in jeder Hinsicht ordnungsgemäß betrieben werde, könnten Emissionen nicht völlig ausgeschlossen werden. Aus diesem Grunde seien Abwasserbehandlungsanlagen gemäß § 35 BauGB privilegiert. Die Privilegierung beinhalte auch den Schutz vor störungsempfindlicher Nachbarschaft. Im vorliegenden Fall sei dem Gebot der Rücksichtnahme nur deshalb Genüge getan, weil durch die Duldungspflicht sichergestellt sei, dass die Fortsetzung des bestandsgeschützten und privilegierten Betriebes nicht durch Immissionsabwehransprüche beeinträchtigt werden könne.

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Durch Bescheid vom 9. April 2001 lehnte der Landkreis R. (W.) den Antrag des Beigeladenen vom 21. Februar 2001 ab und führte zur Begründung u.a. aus: Die Nebenbestimmung Nr. 3.7 zu der dem Beigeladenen am 9. Februar 1993 erteilten Baugenehmigung sei nicht nichtig. Auch eine Rücknahme der Nebenbestimmung im Ermessenswege nach § 48 VwVfG komme nicht in Betracht. Der Beigeladene habe die in Rede stehende Nebenbestimmung über einen Zeitraum von acht Jahren weder beanstandet noch angefochten. Hinzu komme, dass die Klägerin im seinerzeitigen Baugenehmigungsverfahren ohne Aufnahme der Duldungspflicht in den Genehmigungsbescheid ihr gemeindliches Einvernehmen voraussichtlich nicht erteilt hätte. Gegen die Erteilung einer Baugenehmigung ohne die Nebenbestimmung Nr. 3.7 hätte sich die Klägerin damals mit Rechtsmitteln wehren und wegen des fehlenden Einvernehmens die Verwirklichung des Bauvorhabens in der Nähe des Klärwerkes möglicherweise sogar verhindern können. Würde die umstrittene Nebenbestimmung jetzt aufgehoben, könnte sich die Klägerin gegen die dann uneingeschränkte Baugenehmigung nicht mehr zur Wehr setzen.

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Gegen den Bescheid des Landkreises Rotenburg (Wümme) vom 9. April 2001 legte der Beigeladene mit Schreiben vom 12. April 2001 Widerspruch ein. Mit Bescheid vom

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22. Mai 2001 gab die Beklagte dem Widerspruch des Beigeladenen statt. Im Tenor dieser Entscheidung heißt es: „....auf Ihren Widerspruch hebe ich den Bescheid des Landkreises R. (W.) vom 09.04.2002....auf. Die unter Ziffer 3 (Besondere Auflagen und Bedingungen) aufgenommene Nebenbestimmung Nr. 7 wird auf Ihren Antrag vom 21.02.2001 aus der Baugenehmigung vom 09.02.1983 (Datum später korrigiert in 09.02.1993) ....gestrichen.....“.

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Der Widerspruchsbescheid vom 22. Mai 2001 wurde der Klägerin am 25. Mai 2001 zugestellt. In ihrem mit einer Rechtsmittelbelehrung versehenen Begleitschreiben vom 22. Mai 2001 führte die Beklagte zur Begründung ihrer Entscheidung aus: Die Nebenbestimmung Nr. 3.7 zu der dem Beigeladenen am 9. Februar 1993 erteilten Baugenehmigung sei rechtswidrig. Der grundgesetzliche Anspruch auf körperliche Unversehrtheit könne nicht durch eine Duldungspflicht ausgehebelt werden. Die Grenze der Hinnehmbarkeit von Gerüchen werde durch die Vorschriften des Bundesimmissionsschutzgesetzes und Richtlinien bestimmt. Das hiernach Zumutbare könne durch eine Nebenbestimmung wie die hier in Rede stehende nicht weiter eingeschränkt werden. Da sich die Richter in dem beim Landgericht S. anhängigen Zivilprozess auf die Duldungspflicht berufen hätten, entfalte die Nebenbestimmung rechtliche Wirkung. Das Rücknahmeermessen sei daher auf Null reduziert. Soweit die Klägerin geltend mache, sie hätte ihr gemeindliches Einvernehmen ohne Aufnahme der Nebenbestimmung in die Baugenehmigung nicht erteilt, übersehe sie, dass im vorangegangenen Verfahren auf Erteilung eines Bauvorbescheides das gemeindliche Einvernehmen bedingungslos erteilt worden sei. Hierauf habe der Bauherr vertrauen können. Für eine nachträgliche Einschränkung des bereits erteilten Einvernehmens bleibe kein Raum.

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Am 8. Juni 2001 hat die Klägerin Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen ausführt: Der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 22. Mai 2001 sei rechtswidrig und verletze sie in ihren Rechten. Die Rechtswidrigkeit folge bereits daraus, dass der Widerspruchsbescheid eine Regelung enthalte, die nicht dem Bestimmtheitsgebot genüge. Die Formulierung, die Nebenbestimmung Nr. 3.7 zu der dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigung werde „gestrichen“, lasse nicht erkennen, ob mit Wirkung nur für die Zukunft oder aber bereits für die Vergangenheit. Diese Unterscheidung sei jedoch sowohl im Hinblick auf Schadensersatzforderungen des Beigeladenen gegen sie, die Klägerin, als auch im Hinblick auf Regressansprüche ihrerseits gegen die Beklagte von grundlegender Bedeutung. Der Widerspruchsbescheid sei aber auch aus dem Grunde rechtswidrig, weil eine isolierte Aufhebung der in Rede stehenden Nebenbestimmung nicht hätte erfolgen dürfen. Bei der Nebenbestimmung Nr. 3.7 handele es sich um eine Bedingung, die so eng mit der Hauptregelung - der Baugenehmigung - verbunden sei, dass letztere in ihrer Wirksamkeit von ersterer abhänge. Wie bereits im Verwaltungsverfahren ausgeführt, hätte die Baugenehmigung ohne Aufnahme der Duldungspflicht nicht erteilt werden können. Aber selbst dann, wenn man von einer isolierten Anfechtbarkeit der umstrittenen Nebenbestimmung ausginge, erweise sich der Widerspruchsbescheid der Beklagten als rechtswidrig. Eine Rücknahme der Nebenbestimmung gemäß § 48 VwVfG scheide von vornherein aus, weil die Nebenbestimmung rechtmäßig sei. Diese finde ihre Rechtsgrundlage in § 36 Abs. 1 VwVfG, wonach ein Verwaltungsakt mit einer Nebenbestimmung versehen werden könne, wenn dadurch die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt würden. Ein privilegiertes Vorhaben im Außenbereich - als solches sei dasjenige des Beigeladenen genehmigt worden – sei nur zulässig, wenn diesem keine öffentlichen Belange entgegenstünden. Eine Beeinträchtigung öffentlicher Belange liege u.a. vor, wenn ein Vorhaben schädlichen Umwelteinwirkungen ausgesetzt sein könne. Sei dies der Fall, müsse eine Abwägung des öffentlichen Belanges mit dem privaten Interesse des Bauherrn vorgenommen werden. Diese Interessenabwägung habe nur unter der Voraussetzung des Fortbestandes und uneingeschränkten Betriebs der der Allgemeinheit dienenden Kläranlage zu Gunsten des allein privaten Interessen dienenden Bauvorhabens des Beigeladenen ausfallen können. Die Baugenehmigungsbehörde habe den Konflikt gesehen und den dem Bauvorhaben des Beigeladenen entgegenstehenden öffentlichen Belang durch die Aufnahme der Duldungspflicht entkräftet. Erweise sich die umstrittene Nebenbestimmung nach dem Vorstehenden somit als rechtmäßig, so hätte diese, da sie sich als eine für sie – die Klägerin - begünstigende Regelung darstelle, allenfalls gemäß § 49 Abs. 2 VwVfG widerrufen werden können; Widerrufsgründe i.S.d. genannten Vorschrift lägen jedoch nicht vor. Ferner sei darauf hinzuweisen, dass die Bestandskraft der dem Beigeladenen im Jahr 1993 erteilten Baugenehmigung keine Berücksichtigung gefunden habe. Ebenfalls unbeachtet gelassen habe die Beklagte, dass sich der Beigeladene sehenden Auges in eine potentielle Konfliktlage begeben habe und schon deshalb die Beseitigung der ihm auferlegten Duldungspflicht nicht verlangen könne. Schließlich bestünden Zweifel daran, ob die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt habe. Dem Beigeladenen sei bereits vor Stellung seines an den Landkreis R. (W.) gerichteten Antrags auf Aufhebung der in Rede stehenden Nebenbestimmung fernmündlich mitgeteilt worden, dass die Nebenbestimmung rechtswidrig sei. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Beklagte bei Entscheidung über den Widerspruch an ihre bereits zuvor geäußerte Rechtsauffassung gebunden gefühlt habe.

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Die Klägerin beantragt,

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den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 22. Mai 2001 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie macht geltend: Darauf, dass der Widerspruchsbescheid vom 22. Mai 2001 inhaltlich unbestimmt sei, könne sich die Klägerin nicht mit Erfolg berufen. In der an die Klägerin gerichteten Begründung sei ausdrücklich auf das bedingungslose gemeindliche Einvernehmen im Verfahren auf Erteilung eines Bauvorbescheides verwiesen worden. Durch die Bezugnahme auf den Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung sowie die Begründung mit dem grundrechtlichen Anspruch auf körperliche Unversehrtheit ergebe sich eindeutig, dass eine Aufhebung der Nebenbestimmung mit Wirkung für die Vergangenheit ausgesprochen worden sei. Unzutreffend sei auch die Auffassung der Klägerin, dass die umstrittene Nebenbestimmung rechtmäßig sei. Abwehransprüche gegen unzumutbare Immissionen ließen sich grundsätzlich über das Immissionsschutzrecht realisieren; diese könnten nicht durch eine Nebenbestimmung wie die hier in Rede stehende ausgehebelt werden. Soweit die Klägerin darauf verweise, der Beigeladene habe sich sehenden Auges in eine Konfliktlage begeben, verkenne sie, dass sich Geruchsbelästigungen durch eine Kläranlage hinsichtlich ihrer Intensität und der Häufigkeit bzw. Dauer ihres Auftretens ändern könnten. Schließlich könne die Klägerin nicht mit Erfolg geltend machen, dass die Baugenehmigung für den Neubau eines landwirtschaftlichen Betriebes auf dem Grundstück W. 1 ohne die umstrittene Nebenbestimmung nicht hätte erteilt werden können. Im ungünstigsten Fall hätte die Baugenehmigung versagt werden müssen. Im Übrigen sei dem Nachbarn des Beigeladenen eine Wohnbebauung auf seinem Grundstück ohne entsprechende Nebenbestimmung genehmigt worden, obwohl dessen Wohnhaus näher an der Kläranlage liege als das Wohngebäude des Beigeladenen.

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Der Beigeladene beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er zieht die Klagebefugnis der Klägerin in Zweifel und schließt sich im Übrigen den Ausführungen der Beklagten an.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitgegenstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der zu dieser beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und des Landkreises R. (W.) verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat Erfolg.

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1. Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist die Klägerin klagebefugt, denn sie kann i.S.v. § 42 Abs. 2 VwGO geltend machen, durch die Aufhebung der Nebenbestimmung Nr. 3.7 zu der dem Beigeladenen unter dem 9. Februar 1993 erteilten Baugenehmigung in ihren Rechten verletzt zu sein. Eine Verletzung des die Klägerin als Betreiberin eines gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 Ziffer 3 BauGB im Außenbereich zulässigen privilegierten Bauvorhabens schützenden, in § 35 Abs. 3 Ziffer 3 BauGB enthaltenen baurechtlichen Gebotes der Rücksichtnahme durch künftige Betriebseinschränkungen infolge der Aufhebung der hier in Rede stehenden Duldungspflicht erscheint jedenfalls nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder denkbaren Betrachtungsweise unmöglich.

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2. Die Klage ist auch begründet. Der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 22. Mai 2001 erweist sich als rechtswidrig und ist aufzuheben.

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Wenn es im Tenor des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 22. Mai 2001 auch heißt „Die unter Ziffer 3....aufgenommene Nebenbestimmung Nr. 7 wird ....aus der Baugenehmigung ....gestrichen“, so ergibt die gebotene Auslegung unter Berücksichtigung der Begründung, die Nebenbestimmung Nr. 3.7 zu der dem Beigeladenen am 9. Februar 1993 erteilten Baugenehmigung sei rechtswidrig, dass die Beklagte die Rücknahme der in Rede stehenden Nebenbestimmung ausgesprochen hat.

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Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein begünstigender Verwaltungsakt darf nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden (§ 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG). Ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder Sachleistung gewährt oder hierfür Voraussetzung ist, darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (§ 48 Abs. 2 Satz 1 VwVfG). Die Rücknahme sonstiger begünstigender rechtswidriger Verwaltungsakte steht grundsätzlich im freien Ermessen der Behörde; diese hat allerdings im Falle der Rücknahme dem Betroffenen auf Antrag den Vermögensnachteil auszugleichen, den dieser dadurch erleidet, dass er auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat, soweit sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse schutzwürdig ist (§ 48 Abs. 3 Sätze 1 und 2 VwVfG).

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Es kann dahinstehen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen, unter denen die Nebenbestimmung Nr. 3.7. zu der Baugenehmigung vom 9. Februar 1993 zurückgenommen werden kann - wobei vorliegend nur die Rücknahme eines sonstigen begünstigenden Verwaltungsaktes i.S.v. § 48 Abs. 3 Satz 1 VwVfG in Betracht kommt - erfüllt sind; die Beklagte hat jedenfalls das ihr eingeräumte Rücknahmeermessen, welches vom Gericht (nur) hinsichtlich der Frage, ob die Grenzen des Ermessens eingehalten wurden und ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde, zu überprüfen ist (§ 114 Satz 1 hier i.V.m. § 115 VwGO), nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Dies ergibt sich jedenfalls aus Folgendem:

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Die Beklagte hat zwar ihr Ermessen hinsichtlich der Frage betätigt, ob überhaupt eine Rücknahme erfolgen soll. So heißt es in der Begründung der Widerspruchsentscheidung vom 22. Mai 2001: „Nach Angaben des Widerspruchsführers hat sich die Richterin in dem Verfahren vor dem Landgericht S. wegen der Hinnehmbarkeit von Gerüchen auf diese Nebenbestimmung berufen. Dadurch entfaltet die rechtswidrige Nebenbestimmung eine rechtliche Wirkung. Das Ermessen zur Rücknahme der rechtswidrigen Nebenbestimmung ist daher auf Null reduziert“. Dagegen hat die Beklagte ihr Ermessen hinsichtlich der Frage, ob die in Rede stehende Nebenbestimmung mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden soll, nicht ausgeübt. Ermessenserwägungen betreffend den Zeitpunkt der Rücknahme finden sich an keiner Stelle. Entgegen der von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung lässt sich der Begründung der Widerspruchsentscheidung nicht einmal ansatzweise entnehmen, dass eine Auseinandersetzung mit der Frage des Zeitpunkts der Rücknahme stattgefunden hat. Dies aber wäre zwingend erforderlich gewesen, insbesondere weil die Frage Rücknahme ex tunc oder ex nunc im Hinblick auf die vom Beigeladenen gegen die Klägerin geltend gemachten Schadensersatzforderungen von grundlegender Bedeutung ist. Da die Beklagte nach dem soeben Dargelegten ihr Ermessen bezüglich der Frage Rücknahme für die Vergangenheit oder für die Zukunft nicht betätigt hat und auch kein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, erweist sich die Rücknahmeverfügung der Beklagten als ermessensfehlerhaft - konkret: ermessensdefizitär -.

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Wenn es für die hier zu treffende Entscheidung auch nicht entscheidend darauf ankommt, so weist die Kammer zur Vermeidung weiterer Streitigkeiten doch noch auf Folgendes hin: Entgegen der von der Klägerin vertretenen Auffassung dürfte sich die Nebenbestimmung Nr. 3.7 zu der dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigung als rechtswidrig erweisen. Nach § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB gehört die Vermeidung schädlicher Umwelteinwirkungen zu den öffentlichen Belangen, an denen unter Umständen auch ein privilegiertes Vorhaben scheitern kann. Auf den Schutz, der zu Gunsten von Belästigungen von diesen öffentlichen Belangen ausgeht, können die Belästigten nicht wirksam „verzichten“. Öffentliche Belange - wie der öffentliche Belang der Vermeidung schädlicher Umwelteinwirkungen ebenso wie der (weitergehende) öffentliche Belang gebotener Rücksichtnahme - sind als solche privaten Verzichtserklärungen nicht zugänglich (vgl. BVerwG, Urteil vom

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28. April 1978 - IV C 53.76 -, DÖV 1978, 774; Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 7. Auflage, § 35 Rn. 48) und können somit auch nicht zum Gegenstand einer „Freizeichnungsklausel“ gemacht werden.