Oberlandesgericht Braunschweig
Urt. v. 07.10.1988, Az.: 4 U 2/88

Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Vorruhestandes; Zahlung eines ärztlichen Resthonorars; Anspruch auf Ersatz von Schmerzensgeld und Schadensersatz wegen einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung und fehlerhaften Diagnose "Krebs"

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
07.10.1988
Aktenzeichen
4 U 2/88
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1988, 20357
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:1988:1007.4U2.88.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - 26.11.1987 - AZ: 10 O 292/87

Fundstelle

  • VersR 1990, 57-59 (Volltext mit red. LS)

[...]
hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig
auf die mündliche Verhandlung vom 6. September 1988
durch
den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts ...,
die Richterin am Oberlandesgericht ... und
den Richter am Amtsgericht ...
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Berufungen der Klägerin und des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 26.11.1987 werden zurückgewiesen.

  2. 2.

    Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin 45 %, der Beklagte 55 %.

  3. 3.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

  4. 4.

    Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 10.200,- DM abwenden, wenn nicht der Beklagte vor Vollstreckung Sicherheitsleistung in derselben Höhe leistet. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 8.400,- DM abwenden, wenn nicht vor Vollstreckung die Klägerin in derselben Höhe Sicherheit leistet.

  5. 5.

    Die Parteien sind durch dies Urteil wie folgt beschwert:

    1. a)

      die Klägerin mit 44.916,40 DM,

    2. b)

      der Beklagte mit 56.000,- DM.

Tatbestand

1

I.

Die Klägerin ist etwa seit 1983 als bestallte Heilpraktikerin tätig. Vorher hat sie (seit etwa 1980) eine Ausbildung als Schwesternhelferin und danach als Heilpraktikerin absolviert.

2

Der Beklagte, der schon vorher wegen verschiedener Beschwerden im Magen- und Darmbereich einige Ärzte konsultiert hatte, begab sich am 2.5.1986 in die Behandlung der Klägerin, um Klarheit über die Ursachen dieser Beschwerden zu gewinnen und möglichst davon geheilt zu werden. Die Klägerin untersuchte den Beklagten mit der Methode der Elektroakupunktur nach Voll (EAV). Wegen der Einzelheiten dieser Methode wird auf die Darstellung in der von der Klägerin überreichten Arbeit von ... Grundlagen der Elektroakupunktur nach Voll, 1977, verwiesen.

3

Nach der Untersuchung, und zwar noch am 2.5.1986, eröffnete die Klägerin dem Beklagten, daß er Krebs habe. In der folgenden Zeit (bis zum 30.5.1986) behandelte die Klägerin den Beklagten mit Hilfe der EAV (Nosoden-Therapie) und mit einer Sauerstoffanwendung. Über ihre Bemühungen erteilte sie dem Beklagten am 30.5.1986 eine Rechnung über 1.066,40 DM, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird; der Beklagte bezahlte nur 160,- DM.

4

In der fraglichen Zeit war der Beklagte in gehobener Stellung im ... tätig (durchschnittliches Monatseinkommen mindestens 5.000,- DM). Bereits einen Tag nach der Untersuchung vom 2.5.1986 ließ er die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Vorruhestandes (sog. 58-er-Regelung) klären und unterzeichnete - ohne vorher eine Kontrolluntersuchung durchführen zu lassen - am 14.5.1986 einen Vertrag mit dem ... über die Aufhebung seines Arbeitsvertrages unter Inanspruchnahme der 58-er-Vorruhestandsregelung. Seit dem 1.7.1987 befindet sich der Beklagte im Vorruhestand. Er erhält bis zum 30.6.1989 Zahlungen, die 90 % seines letzten Nettogehaltes ausmachen. Der Beklagte hat eine Lebensversicherung, die an sich nach Vollendung seines 65. Lebensjahres am 1.10.1994 mit einem Betrag von rund 463.000,- DM ausgezahlt werden soll. Falls der Beklagte nach Auslaufen der Ubergangszahlungen sich die Lebensversicherung bereits am 1.10.1989 auszahlen läßt, wird er voraussichtlich nur einen Betrag von rund 276.000,- DM erhalten (vgl. Auskünfte der ... vom 27.6.1988, Bl. 251 f).

5

Nach der Untersuchung durch die Klägerin ließ der Beklagte sich noch im Mai 1986 zunächst von der Ärztin Dr. ... und sodann auch von dem Internisten Dr. ... untersuchen; nach der ärztlichen Bescheinigung von Dr. ... vom 18.5.1988 gab es keinen Anhalt für eine Krebserkrankung (Bl. 242 d.A.); nach der gutachtlichen Äußerung des Dr. ... vom 19.5.1988 ließ, sich zum Zeitpunkt der Untersuchung die Diagnose einer bösartigen Erkrankung im Bereich des oberen Magen-Darm-Traktes nicht bestätigen (Bl. 243 d.A.).

6

II.

Die Klägerin verlangt vom Beklagten Zahlung des Resthonorars von 916,40 DM. Der Beklagte verlangt Schmerzensgeld und weiter die Feststellung, daß die Klägerin allen Schaden aus der nach seiner Meinung fehlerhaften Behandlung ersetzen müsse.

7

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an sie 916,40 DM nebst 4 % Zinsen seit Zustellung des Mahnbescheides (19.12.1986) zu zahlen.

8

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen,

sowie widerklagend,

  1. 1.

    die Klägerin zu verurteilen, dem Beklagten aufgrund ihrer Fehlbehandlung ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt werden wird, mindestens jedoch 20.000,- DM nebst 4 % Zinsen seit Zustellung dei Widerklage zu zahlen,

  2. 2.

    festzustellen, daß die Klägerin dem Beklagten für allen weiteren aus dem fehlerhaften Verhalten resultierenden materiellen und immateriellen Schaden, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist, einstandspflichtig ist.

9

Der Beklagte hat geltend gemacht:

10

Die von der Klägerin angewendete Variation der Elektroakupunktur sei als Diagnosemaßnahme ohne nachgewiesenen Wert, weil die aus den Meßwerten gefolgerten Rückschlüsse nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft nicht mit den angegebenen Organsystemen und den Funktionsstörungen korrelierten. Die Therapie sei zur Tumorbehandlung ungeeignet. Die Diagnose ohne vorherige eingehende körperliche Untersuchung und ohne unterstützende Heranziehung der Labordiagnostik sei leichtfertig gewesen. Die Eröffnung der vermeintlichen Krebsdiagnose habe beim Beklagten einen Schock hervorgerufen und zu einer psychischen Veränderung geführt.

11

Die Klägerin hat beantragt,

die Widerklage abzuweisen.

12

Sie hat geltend gemacht:

13

Die von ihr angewandte Therapie sei geeignet gewesen. Die Diagnose habe beim Beklagten keinen Schock ausgelöst, der für seinen Entschluß, die Vorruhestandsregelung in Anspruch zu nehmen, ursächlich geworden sei.

14

III.

Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Urteil die Klage abgewiesen. Den mit der Widerklage geltend gemachten Schmerzensgeldanspruch des Beklagten hat es in Höhe von 4.000,- DM zugesprochen; weiter hat es unter Abweisung der weitergehenden Widerklage festgestellt, daß die Klägerin verpflichtet sei, dem Beklagten 50 % des materiellen Schadens zu erstatten, der auf die fehlerhafte Diagnose "Krebs" zurückzuführen ist, soweit der Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere übergegangen sei.

15

Wegen der Begründung wird auf das angefochtene Urteil (Bl. 153 ff d.A.) verwiesen.

16

IV.

Gegen dieses der Klägerin am 16.12.1987, dem Beklagten am 23.12.1987 zugestellte Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt, und zwar die Klägerin am 11.1.1988, der Beklagte am 14.1.1988. Die Klägerin hat ihre Berufung (nach zweimaliger Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 14.4.1988) am 12.4.1988 begründet; der Beklagte hat seine Berufung (nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 15.3.1988) am 14.3.1988 begründet.

17

Die Klägerin macht geltend:

18

Ihre Diagnose sei zutreffend gewesen. Mit Hilfe der bei der EAV angewendeten elektrischen Messungen sei es möglich, viel früher als die Schulmedizin Erkrankungen der Organe zu erkennen. Am 2.5.1986 hafte die Klägerin beim Beklagten verschiedene Messungen vorgenommen und dabei eine Schwächung im Bereich des Dünndarms und des Dickdarms festgestellt. Anschließend habe sie eine sog. Medikamententestung durchgeführt. Hierdurch habe sie Sicherheit erlangt, daß beim Beklagten ein "präkanzeröses Geschehen" vorgelegen, habe, und zwar ein verhältnismäßig starker Befall, wenn auch ohne Vorliegen eines Tumors. Die von ihr angewendete Methode erfordere keine Anamnese und auch keine Blutdruckmessung. Die Methode nach Voll sei anerkannt und werde von 12.000 Ärzten in Europa praktiziert. Selbst wenn die Diagnose unrichtig gewesen sei, treffe die Klägerin kein Verschulden, weil sie sie unter korrekter Anwendung der EAV getroffen habe. Verschweigen können habe sie die Diagnose dem Beklagten nicht, weil die Behandlung auf die Erkrankung abgestimmt und weil es nötig sei, den Patienten für die Therapie zu motivieren. Der Beweis der Unrichtigkeit der Diagnose sei durch die Angaben der Ärzte Dr. ... und Dr. ... nicht geführt. Im übrigen könne man mit den Methoden der Schulmedizin das präkanzeröse Geschehen nicht feststellen, weil das Röntgenbild nur Tumore und die Blutbilduntersuchung nur Metastasen sichtbar machen könne. Da der Beklagte sich in die Behandlung einer Heilpraktikerin begeben habe, habe er gewußt, daß andere als schulmedizinische Methoden angewendet würden. Das Mitverschulden des Beklagten durch die Inanspruchnahme des Vorruhestandes überwiege ein etwaiges Verschulden der Klägerin. Einen Schaden durch die Inanspruchnahme des Vorruhestandes habe der Beklagte nicht ausreichend durch Zahlen belegt. Im übrigen sei ein etwaiger Schaden des Beklagten durch die Inanspruchnahme des Vorruhestandes durch die Weiterzahlung der Versicherungsbeiträge vermeidbar.

19

Die Klägerin beantragt,

auf die Berufung der Klägerin das angefochtene Urteil abzuändern, die Widerklage abzuweisen und den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 916,40 DM nebst 4 % Zinsen seit Zustellung des Mahnbescheides zu zahlen.

20

Der Beklagte beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Landgerichts Braunschweig vom 26.11.1987

  1. 1.

    im Wege der Widerklage die Klägerin zu verurteilen, dem Beklagten aufgrund ihrer Fehlbehandlung ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt werden wird, mindestens jedoch 20.000,- DM nebst 4 % Zinsen seit Zustellung der Widerklage zu zahlen,

  2. 2.

    im Wege der Widerklage festzustellen, daß die Klägerin dem Beklagten für allen weiteren aus dem fehlerhaften Verhalten resultierenden materiellen Schaden, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger und andere Dritte übergegangen ist, einstandspflichtig ist.

21

Der Beklagte macht geltend:

22

Es sei unzutreffend, daß mit der EVA ein präkanzeröses Geschehen diagnostiziert werden könne. Bei der EVA handele es sich um ein Therapieverfahren ohne wissenschaftlichen Wert. Das von der Klägerin diagnostizierte Dünndarmkarzinom stelle medizinisch eine der allergrößten Raritäten dar. Seine Diagnose erfordere sehr spezielle Verfahren. Mit der EVA könne es nicht diagnostiziert werden (im einzelnen nimmt der Beklagte Bezug auf die Stellungnahme des Professor Dr. K. vom 14.5.1988, Bl. 239 ff d.A.). Eine ausreichende Anamnese und eine körperliche Untersuchung hätten nicht stattgefunden, ebensowenig eine spezifische Labordiagnostik. Eine Abklärung durch weitere Diagnoseverfahren (Röntgen- und Endoskopiediagnostik) sei nicht erfolgt. Wenn die Diagnose "Darmkrebs" richtig gewesen wäre, hätte es der Klägerin oblegen, den Beklagten sofort in ärztliche Behandlung weiter zu empfehlen. Daraus, daß dies nicht geschehen sei, sei zu schließen, daß die Klägerin selbst nicht an ihre Diagnose geglaubt habe. Das Landgericht habe den Umstand, daß es sich hier um eine "irrationale Pseudotherapie" handele, bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht ausreichend berücksichtigt. Unrichtig sei auch, daß das Landgericht davon ausgegangen sei, daß sich der Beklagte nur etwa sechs Wochen in einem akuten Angstzustand befunden habe. Die Diagnose Krebs wecke Ur- und Todesängste, die auch nach anderslautenden Diagnosen nicht so schnell verschwänden. Es sei dem Beklagten nicht als Mitverschulden anzulasten, daß er die Diagnose der Klägerin nicht durch andere Methoden habe überprüfen lassen. Bei der Entscheidung des Landgerichts über den Feststellungsantrag sei zu bemängeln, daß das Landgericht zum Nachteil des Beklagten berücksichtigt habe, daß er schon zwölf Tage nach der Diagnose den Aufhebungsvertrag geschlossen habe. Dem Beklagten habe sich aber nach Eröffnung der Diagnose keineswegs gleich aufdrängen müssen, daß die Untersuchung unzureichend war. Der künftige Schaden des Beklagten liege darin, daß er sich aufgrund der Einkommensverhältnisse nach Auslaufen der Überbrückungszahlungen am 30.6.1989 die Lebensversicherung auszahlen lassen müsse (voraussichtlich 275.664,22 DM), während bei Fortzahlung der Versicherungsprämien bis zum 1.10.1994 eine Auszahlung von 462.922,14 DM erfolgen werde.

23

Die Klägerin beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

24

A.

Die Berufungen sind zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§516, 518, 519 ZPO).

25

Sie haben jedoch in der Sache keinen Erfolg.

26

I.

Das Landgericht hat der Widerklage mit Recht insoweit stattgegeben, als es dem Beklagten Schmerzensgeld in Höhe von 4.000,- DM zugebilligt und darüber hinaus festgestellt hat, daß, die Klägerin verpflichtet sei, dem Beklagten 50 % des materiellen Schadens zu erstatten, der auf die fehlerhafte Diagnose "Krebs" vom 2.5.1986 zurückzuführen ist.

27

1.Feststellungsanspruch.

28

a) Die begehrte Feststellung ist zulässig.

29

Der Beklagte hat gegen die Klägerin einen Schadensersatzanspruch, wobei sich der Schaden zur Zeit noch nicht beziffern läßt.

30

Die Diagnose der Klägerin war mindestens mitursächlich für die Entscheidung des Beklagten, die Vorruhestandsregelung in Anspruch zu nehmen. Dies ergibt sich aus der vom Landgericht (S. 8 des Urteils) zutreffend gewürdigten Aussage des Zeugen Dr. ... vom 29.10.1987 (Bl. 140 ff d.A.). Die Inanspruchnahme der Vorruhestandsregelung durch den Beklagten hatte jedenfalls zur Folge, daß der Beklagte in der Zeit ab 1.7.1987 ein um 10 % geringeres Nettogehalt erhält bzw. erhalten hat. Der Beklagte kann den hier eintretenden Schaden zur Zeit noch nicht im Wege der Leistungsklage geltend machen. Denn wegen der Unklarheit der Einkommenseinbußen durch die Inanspruchnahme der Vorruhestandsregelung läßt sich eine abschließende Schadensberechnung zur Zeit noch nicht vornehmen.

31

b) Die Klägerin ist dem Beklagten aus dem Gesichtspunkt der positiven Forderungsverletzung dem Grunde nach zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der infolge der Behandlung am 2.5.1986 eingetreten ist.

32

(1)

Es kann offen bleiben, ob die EAV überhaupt geeignet ist, die Diagnose "Krebs" oder "präkanzeröses Geschehen" vorzubereiten und zu erarbeiten, ob die Klägerin von ihrer Ausbildung her in der Lage war, diese Methode richtig anzuwenden, ob sie sie auf der Grundlage der EAV tatsächlich richtig angewendet hat und ob die Klägerin bei der Diagnose auch die allgemein gültigen medizinischen Regeln für die Diagnosestellung beachtet hat. Denn ein wesentlicher Verstoß der Klägerin gegen die ihr obliegenden Sorgfaltspflichten liegt in der Eröffnung der Diagnose "Darmkrebs" oder "Dünndarmkrebs" gegenüber dem Beklagten.

33

In der Rechtsprechung ist mehrfach und mit Recht der Standpunkt vertreten worden, daß der Arzt den Patienten durch die Art der Diagnosemitteilung nicht in unnötige Ängste versetzen und ihn nicht unnötig belasten darf (vgl. OLG Celle VersR 1981, 1184; OLG Köln VersR 1988, 385 [386] = NJW 1988, 2306 [OLG Köln 26.11.1987 - 7 U 108/87]). Diese Pflicht gilt nach Ansicht des Senats auch für einen Heilpraktiker, wenn er sich in Bereiche begibt, in denen üblicherweise ein Arzt mit medizinischem Vollstudium diagnostisch und therapeutisch tätig wird (vgl. zur Gleichstellung von Arzt und Heilpraktiker bezüglich der Aufklärungspflicht OLG Hamm VersR 1987, 1019, Leitsatz).

34

Diese Pflicht ist jedenfalls verletzt, wenn die dem Patienten eröffnete Diagnose über eine lebensbedrohende Erkrankung objektiv falsch ist und außerdem beim Patienten in psychischer. Hinsicht Überreaktionen zu erwarten sind. Die dem Beklagten schon am 2.5.1986 eröffnete Diagnose "Darmkrebs" oder "Dünndarmkrebs" war - wie die. Nachuntersuchungen der Ärzte Dr. ... und Dr. ... ergeben haben - objektiv falsch. Berechtigt war allenfalls die Diagnose "präkanzeröses Geschehen". Die Klägerin hat selbst vorgetragen, daß sie eine Tumorbildung nicht festgestellt habe, sondern nur ein "präkanzeröses Geschehen", aus dem sich später einmal (im Verlauf von zwei bis siebzehn Jahren) ein akuter Krebs entwickeln könne. Es entspricht der Lebenserfahrung und den im medizinisch-wissenschaftlichen Schrifttum mitgeteilten Erkenntnissen, daß es sich bei der Mitteilung der Diagnose "Krebs" nicht um eine rein kognitiv aufgenommene Mitteilung handelt, sondern um eine existenzielle Aussage, die zu Schockreaktionen, panischem Verhalten und zu Trennungs-, Todes- und Verlustängsten führen kann, die nicht mehr ohne weiteres rückgängig zu machen sind (Diehl/Diehl, VersR 1982, 716 ff [720] m.N.).

35

Entgegen der - auch in der mündlichen Verhandlung geäußerten - Ansicht der Klägerin läßt sich die hier erfolgte Diagnose-Mitteilung auch nicht damit rechtfertigen, daß der Beklagte durch die ungeschminkte Diagnose zur Umstellung seines Lebens etc. habe motiviert werden müssen. Denn auch wenn man davon ausgeht, daß eine Diagnose "präkanzeröses Geschehen" tatsächlich berechtigt war und sich aus diesem Befund später einmal ein akuter Krebs entwickeln konnte, so ist es dennoch nicht gerechtfertigt, bei einem solchen Befund dem Patienten gegenüber bereits von "Krebs" zu sprechen. Die von der Klägerin für nötig gehaltene Motivation für, eine sinnvolle Therapie läßt sich vielmehr auch dadurch erreichen, daß zwar die Krebsgefahr erläutert wird, daß aber gleichzeitig die positiven Aspekte deutlich gemacht werden, nämlich die Möglichkeit, daß sich bei bestimmter Ernährungs- und/oder Verhaltensweise aus dem präkanzerösen Geschehen kein Krebs entwickelt, also in diesem Stadium erheblich höhere Heilungschancen bestehen usw.

36

(2)

Diese Diagnose der Klägerin hat die Inanspruchnahme der Vorruhestandsregelung durch den Beklagten adäquat verursacht.

37

Daß die Diagnose der Klägerin für den Beklagten der Auslöser für den Vorruhestandsantrag war, ist durch die Bekundungen des Zeugen Dr. ... (Protokoll vom 29.10.1987, Bl. 140 ff d.A.) zur Überzeugung des Gerichts bewiesen. Aus der Aussage des Zeugen ergibt sich, daß der Beklagte durch die mitgeteilte Diagnose so erschüttert war, daß ei sogleich den vorher nicht bestehenden Plan faßte, die Vorruhestandsregelung in Anspruch zu nehmen, um die noch erwartete Lebensspanne ohne berufliche Belastung zusammen mit seiner Familie ausnutzen zu können.

38

Die Diagnose ist auch adäquate Ursache. Es entspricht der wissenschaftlich-medizinischen Forschung (vgl. Diehl/Diehl a.a.O.), daß die Krebsdiagnose wegen ihrer existenziellen Bedeutung bei vielen Menschen Angst- und Panikreaktionen hervorruft, die einer distanzierten Überlegung entzogen sind. Es lag daher nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit, daß auch der Beklagte in der Weise reagierte, daß er entgegen seinen bisherigen Plänen den Vorruhestand in Anspruch nahm, um die noch erwartete - durch die eröffnete Krankheit begrenzt erscheinende - Lebensspanne zusammen mit seiner Familie ohne berufliche Belastung genießen zu können.

39

(3)

Die Klägerin hat fahrlässig gehandelt (§276 BGB). Denn sie mußte erkennen, daß die Diagnose "Krebs" bei jedem Patienten Panik- und Kurzschlußreaktionen bis hin zur kurzfristigen Aufgabe des Berufes auszulösen geeignet ist.

40

(4)

Durch das Verhalten der Klägerin ist ein Schaden entstanden. Dieser besteht jedenfalls darin, daß der Beklagte in der Zeit ab 1.7.1987 ein um 10 % geringeres Nettogehalt erhält bzw. erhalten wird.

41

c)Den Beklagten trifft ein Mitverschulden an diesem Schaden (§254 BGB). Der Mitverschuldensanteil ist vom Landgericht zutreffend mit 50 % bemessen worden.

42

Das Mitverschulden des Beklagten ergibt sich vor allem aus den folgenden Umständen:

43

Der Beklagte hat die für die Vorruhestandsregelung erforderlichen Schritte zu einem Zeitpunkt eingeleitet, zu dem er außer der Diagnose der Klägerin keine Anhaltspunkte für, eine Krebserkrankung hatte. Da der Beklagte - bevor er sich wegen seiner Beschwerden an die Klägerin wandte - mehrere Schulmediziner konsultiert hatte, ist davon auszugehen, daß er sich mit den unterschiedlichen Ansätzen von Schulmedizin und Naturheilkunde beschäftigt hatte; dies hat er in der mündlichen Verhandlung vom 10.6.1988 auch bestätigt. Im übrigen wird der Streit zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde auch in den Medien so offen ausgetragen, daß jeder hieran Interessierte weiß, daß Heilpraktiker im allgemeinen kein medizinisches Studium oder eine vergleichbare Ausbildung absolviert haben und daß sie Diagnosemethoden anwenden, die von der Schulmedizin nicht anerkannt werden und auch sonst umstritten sind Wenn unter diesen Umständen die Klägerin eine so einschneidende Diagnose wie "Krebs" und nicht nur "präkanzeröses Geschehen" stellte, also eine mit den Methoden der Schulmedizin überprüfbare Diagnose, mußte schon diese Umstrittenheit der Heilpraktiker-Diagnosemethoden es dem Beklagten nahelegen, eine Überprüfung mit den Mitteln der Schulmedizin (Röntgen, Endoskopie, Blutuntersuchung) herbeizuführen, bevor er weitreichende Schritte unternahm. Bedeutsam ist weiter, daß dem Beklagten nach seinen Angabe in den mündlichen Verhandlungen bei Einleitung des Vorruhestandsverfahrens bewußt war, daß die Vorruhestandsregelung für, ihn allein durch die geringere Lebensversicherungsleistung einen "sehr hohen Verlust" (Protokoll vom 10.9.1987, Bl. 111 d.A.) bringen würde und daß dieser Verlust nicht rückgängig zu machen war. Ohne über spezielle Vorkenntnisse zu verfügen, konnte sich der Beklagte darüber hinaus ausrechnen, daß in der Zeit zwischen dem Ende der Überbrückungszahlungen (30.6.1989) und dem Beginn der Rente im Jahre 1994 ein bedrükkender finanzieller Engpaß eintreten würde.

44

Der Umstand, daß (nach dem Vortrag des Beklagten) der Vorruhestandsantrag bis zum 14.5.1986 gestellt werden mußte, wenn der Beklagte noch in den Genuß der 58-er-Regelung gelangen wollte, spielt dabei keine wesentliche Rolle. Denn es bestanden für den Beklagten ausreichende Möglichkeiten, sich der Notwendigkeit zu entziehen, eine einschneidende Entscheidung auf der Grundlage einer einzigen und nicht schulmedizinisch abgesicherten Diagnose abzugeben: Es war unter den gegebenen dringlichen Umständen durchaus möglich, zwischen dem 2.5.1986 und dem 14.5.1986 noch einen Tarmin bei einem Internisten oder Krebsspezialisten zu finden. Weiter erscheint es unwahrscheinlich, daß es dem Beklagten in seiner Position nicht gelingen konnte, den Vorruhestandsantrag unter dem Vorbehalt einer abschließenden Klärung zu stellen.

45

Bei der Abwägung des Gewichts der Sorgfaltspflichtverletzungen der Klägerin und des Mitverschuldens des Beklagten gelangt der Senat zu einer Quote von 50 : 50. Entgegen der Ansicht des Beklagten läßt sich nicht feststellen, daß die Klägerin den Beklagten vorsätzlich geschädigt habe; es fehlen ausreichende Anhaltspunkte dafür, daß die Klägerin mit einer so tiefgehenden Wirkung ihrer Diagnose mindestens rechnete und diese auch billigend in Kauf nahm. Die Sorgfaltspflichtverletzung der Klägerin ist aber - auch wenn man im Gegensatz zum Landgericht offen läßt, ob die Diagnosemethode überhaupt geeignet war, im Bereich der Krebsentstehung Erkenntnisse zu bringen - so schwer, daß es bei der vom Landgericht für richtig gehaltenen Quote bleiben muß.

46

2.Schmerzensgeldanspruch.

47

Auch den mit der Widerklage geltend gemachten Schmerzensgeldanspruch des Beklagten hat das Landgericht mit Recht dem Grunde nach bejaht und der Höhe nach mit 4.000,- DM bemessen.

48

a) Der Anspruch folgt dem Grunde nach aus §§823 I, 847 I 1 BGB.

49

(1)

Die Mitteilung der Diagnose "Krebs" an den Beklagten stellt eine Gesundheitsverletzung im Sinne des §823 I BGB dar.

50

Gesundheitsverletzung ist auch die Störung der inneren Lebensvorgänge. Diese kann auch durch rein seelische Einwirkungen entstehen, insbesondere durch einschneidende Schockerlebnisse; dies ist insbesondere für Schockerlebnisse anerkannt, die dadurch entstehen können, daß jemandem der Tod eines nahen Angehörigen bekannt wird (vgl. BGHZ 93, 351). Nichts anderes kann nach Ansicht des Senats für Schockerlebnisse gelten, die durch eine fehlerhafte Diagnose entstehen.

51

Ein solches Schockerlebnis lag beim Beklagten vor. Wie sich aus der Bekundung des Zeugen Dr. ... vom 29.10.1987 (Bl. 140 ff) ergibt, war dei Beklagte bei dem im Anschluß an die Diagnosestellung erfolgenden Gespräch erkennbar sehr bedrückt und den Tränen nahe und brachte zum Ausdruck, daß er keine sehr große Lebenserwartung mehr habe. Wie tief dieser Schock des Beklagten ging, zeigt vor allem der Umstand, daß der Beklagte innerhalb weniger Tage die Vorruhestandsregelung einleitete, obwohl er davon ausging, daß dies möglicherweise sehr erhebliche finanzielle Einbußen haben würde. Die beim Beklagten feststellbaren Reaktionen stehen in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen medizinischen Forschung (vgl. Diehl/Diehl a.a.O. m.N.), wonach die Folge der Krebsdiagnose oft Schockreaktionen, emotionale Ohnmacht, seelische Leere, Panikreaktionen sowie Trennungs-, Todes- und Verlustängste der verschiedensten Art sind.

52

(2)

An der Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Klägerin und an ihrem Verschulden, bestehen keine Zweifel.

53

b) Bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes ist einerseits die Intensität des Eingriffs zu berücksichtigen, der beim Beklagten zumindest für einige Wochen einen Zustand der Todesangst mit Schlafstörungen und Nervosität herbeigeführt hat. Zu berücksichtigen ist auch, daß nach den Ergebnissen der medizinischpsychologischen Wissenschaft derartige Mitteilungen ihre Wirkung auch nach Korrektur der Diagnose nicht ohne weiteres verlieren, sondern daß sie in ihrer tiefgehenden angstauslösenden Wirkung nicht mehr ganz rückgängig gemacht werden können (vgl. Diehl/Diehl, a.a.O. S. 719).

54

Andererseits wirkt sich mindernd auf die Höhe des Schmerzensgeldes insbesondere aus, daß der Beklagte nicht sofort eine Kontrolluntersuchung veranlaßt hat, obwohl ihm die Umstrittenheit der Heilpraktiker-Methoden bekannt sein mußte; die sofortige Kontrolluntersuchung eines kompetenten Arztes hätte die Zeit der Ungewißheit und Angst erheblich abkürzen können.

55

Hiernach erscheint dem Senat der vom Landgericht festgesetzte Betrag von 4.000,- DM unter Berücksichtigung der Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes angemessen.

56

II.

Die Klage (Honorarforderung der Klägerin) hat das Landgericht mit Recht abgewiesen.

57

Ein Honoraranspruch der Klägerin besteht nicht.

58

Dabei kann die vom Landgericht bejahte Frage, ob das von der Klägerin angewandte Diagnose- und Therapieverfahren generell ungeeignet war, offen bleiben. Denn wie bereits im einzelnen ausgeführt ist (vgl. oben I. 1 b (2)), hat die Klägerin bei der Stellung und bei der Mitteilung der Diagnose an den Beklagten erheblich gegen ihre Sorgfaltspflicht verstoßen.

59

Hierdurch ist der Honoraranspruch der Klägerin entfallen. Denn durch die schweren Sorgfaltspflichtverstöße der Klägerin war der Vertragszweck derartig gefährdet, daß dem Beklagten unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles nach Treu und Glauben die Fortsetzung des Vertrages und die Bewirkung der ihm an sich obliegenden Leistungen nicht mehr zugemutet werden kann (vgl. Münchener Kommentar-Emmerich, BGB, 2. Aufl., 1985, vor §275, Rdn. 135 ff m.N.). Durch die Sorgfaltspflichtverletzungen der Beklagten und die anschließende Feststellung, daß im Gegensatz zur Diagnose der Klägerin Krebs nicht vorlag, war nicht nur die Diagnose der Klägerin, sondern auch ihre Therapie für den Beklagten derart entwertet, daß der Honoraranspruch entfällt. Nachdem sich gezeigt hatte, daß die Klägerin eine durch ihre Feststellungen nicht gedeckte, weit überzogene Diagnose gestellt hatte, konnte der Beklagte nicht mehr darauf vertrauen, daß die therapeutischen Maßnahmen der Klägerin irgendeinen Wert hatten.

60

Das Landgericht hat den Honoraranspruch daher im Ergebnis mit Recht verneint.

61

III.

Die Berufungen beider Parteien waren zurückzuweisen.

62

B.

Die Kostenentscheidung folgt aus §97 ZPO.

63

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§708 Nr. 10, 711 ZPO.

64

Die Beschwer war gemäß §546 II 1 ZPO festzusetzen. Dabei geht der Senat bezüglich des Feststellungsanspruchs von einem Streitwert von 80.000,- DM aus. Anhaltspunkt ist der zu erwartende Schaden, der durch die Inanspruchnahme der Vorruhestandsregelung nach der Schadensberechnung des Beklagten entsteht, nämlich die Differenz der Rückkaufwerte in der Lebensversicherung (rund 187.000,- DM), rund 40 % hiervon erscheinen dem Senat als Wert des Feststellungsanspruches angemessen.