Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 04.12.2008, Az.: Ss 99/08
Beweiswürdigung bei wiederholtem Wiedererkennen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 04.12.2008
- Aktenzeichen
- Ss 99/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 38118
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2008:1204.SS99.08.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 5 Ns 244/07 (037) - 12.6.2008
- AG Goslar - 26.03.2007 - AZ: 22 Ds 902 Js 38187/06
Fundstelle
- StV 2010, 126
Redaktioneller Leitsatz
Der Beweiswert dieses wiederholten Erkennens kann jedoch in der nunmehr zweiten Hauptverhandlung über ein Jahr nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung durch das vorangehende Wiedererkennen in der Form beeinflusst worden sein, dass der hierbei gewonnene Eindruck der Zeugin das ursprüngliche Erinnerungsbild überlagert hat, so dass die Zeugin in Wahrheit (unbewusst) den Angeklagten in der Berufungsverhandlung nicht mehr mit dem Täter des Diebstahls, sondern mit dem ihr in der ersten Hauptverhandlung präsentierten Angeklagten verglich; daher ist dieser Beweiswert eines derartigen Wiedererkennens nach den gesicherten Erfahrungen und Erkenntnissen der kriminalistischen Praxis sehr häufig fragwürdig.
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 12. Juni 2008 insoweit mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, als dadurch die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Goslar vom 26. März 2007 bezüglich der dortigen Verurteilung wegen Diebstahls verworfen wurde.
Die Aufhebung umfasst auch den Gesamtstrafenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen.
Im Übrigen (soweit es den Schuldspruch wegen Beleidigung sowie die zugehörige Einzelstrafe betrifft) wird die Revision verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zurückverwiesen.
Gründe
Die Revision hat überwiegend Erfolg.
I. Gegen den Angeklagten ist durch Urteil des Amtsgerichts Goslar vom 26. März 2007 wegen Diebstahls und Beleidigung eine Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verhängt worden. Gegen dieses Urteil haben sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt; letztere hat ihr Rechtsmittel auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Durch das angefochtene Urteil ist die Berufung der Staatsanwaltschaft verworfen worden; die Berufung des Angeklagten ist mit der Maßgabe verworfen worden, dass die Gesamtfreiheitsstrafe auf 8 Monate und 2 Wochen ermäßigt worden ist. Das Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte am 05.07.2006 in Goslar aus den Geschäftsräumen der Firma L, Filiale straße, einen LCD-Fernseher im Wert von 959,00 € entwendet habe, indem er ihn in einen Einkaufswagen gelegt und ihn in diesem Einkaufswagen unbezahlt aus den Geschäftsräumen mitgenommen habe. Außerdem habe er am 03.07.2006 auf dem Goslarer Schützenfest die dort anwesende Platzanweiserin M u. a. mit dem Ausdruck "Scheiß deutsche Kartoffel" betitelt. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte unter Erhebung der Verfahrens- und Sachrüge Revision eingelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision bezüglich der Verurteilung wegen Beleidigung zu verwerfen und im Übrigen das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen.
II. Soweit sich die Revision gegen die Verurteilung wegen Beleidigung richtet, war sie auf Antrag der Staatsanwaltschaft und nach Anhörung des Verteidigers zu verwerfen, weil der Senat das Rechtsmittel einstimmig als unbegründet i. S. d. § 349 Abs. 2 StPO erachtet.
III. Soweit sich die Revision gegen die Verurteilung wegen Diebstahls richtet, hat sie bereits auf die Sachrüge hin Erfolg. Einerseits ist die Beweiswürdigung zu der Frage, ob die Zeugin K den Angeklagten als Täter des Diebstahls wiedererkennen konnte, lückenhaft. Andererseits kann der Senat nicht ausschließen, dass die Strafkammer die anerkannten Grundsätze zum Beweiswert des wiederholten Wiedererkennens in der Hauptverhandlung (BGHSt 16, 204; Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., § 58 Rz. 17 m. w. N.) nicht angewandt hat.
Das Landgericht hat die folgende Beweistatsache zu Gunsten des Angeklagten als wahr unterstellt: Die Zeugin K habe beim Erblicken des Angeklagten in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht auf die Frage hin, ob es sich beim Angeklagten um den Täter gehandelt habe, Unsicherheiten gezeigt und geantwortet, dass sie sich nicht ganz sicher sei, jedoch letztlich der Meinung gewesen sei, es würde sich um diese Person handeln (Formulierung laut Ablehnungsbeschluss der Kammer, der über die entsprechende zulässige Verfahrensrüge der Kognitionspflicht des Revisionsgerichts unterliegt; in den Urteilsgründen wurde diese als wahr unterstellte Tatsache nur in abgeschwächter Form dargestellt, UA S. 7, 2. Abs.). Welcher Art diese "Unsicherheiten" waren und wie sie sich für die Beteiligten der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht nach außen hin darstellten, ist allerdings nicht mitgeteilt worden. Die Strafkammer sieht es im Hinblick auf den Zeitablauf von ca. 8 Monaten und angesichts "auch" der Belehrung zur wahrheitsgemäßen Aussage als "nicht verwunderlich" an, "dass die Zeugin zunächst bei ihrer Identifizierung (des Angeklagten) nicht völlig sicher war, diese Sicherheit dann aber im Verlauf gewonnen hat". Da die Frage des zuverlässigen Wiedererkennens durch diese Zeugin, die insoweit das einzige Beweismittel darstellt, entscheidend für die Verurteilung des Angeklagten als Täter des Diebstahls war, hätte geprüft werden müssen, welcher Art diese "Unsicherheiten" beim Wiedererkennen waren, wie sie sich für die Beteiligten der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht nach außen hin darstellten und aus welchen Gründen die Zeugin "diese Sicherheit dann aber im Verlauf gewonnen hat".
Letztlich hat sich die Strafkammer darauf gestützt, dass die Zeugin "nunmehr bei ihrer Aussage vor der Kammer den Angeklagten sicher als den von ihr beobachteten Mann vor der L-Filiale erkannt hat". Der Beweiswert dieses wiederholten Erkennens kann jedoch in der nunmehr zweiten Hauptverhandlung über ein Jahr nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung durch das vorangehende Wiedererkennen in der Form beeinflusst worden sein, dass der hierbei gewonnene Eindruck der Zeugin das ursprüngliche Erinnerungsbild überlagert hat, so dass die Zeugin in Wahrheit (unbewusst) den Angeklagten in der Berufungsverhandlung nicht mehr mit dem Täter des Diebstahls, sondern mit dem ihr in der ersten Hauptverhandlung präsentierten Angeklagten verglich; daher ist dieser Beweiswert eines derartigen Wiedererkennens nach den gesicherten Erfahrungen und Erkenntnissen der kriminalistischen Praxis sehr häufig fragwürdig (BGH, aaO.; Meyer-Goßner, aaO.). Dass sich die Strafkammer der Fragwürdigkeit des Beweiswerts eines derartigen Wiedererkennens bewusst war, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen.
Hierbei hat der Senat durchaus berücksichtigt, dass es die Strafkammer in vorangegangenen Erwägungen als "entscheidend für die Wiedererkennungsfähigkeit der Zeugin" angesehen hat, dass die Zeugin den Täter 7 Tage nach der Tat in einer ganz anderen Bäckereifiliale ohne sonstige Hinweise von sich aus wiedererkannt hat. Ob dieses damalige Wiedererkennen seinerzeit dazu führte, dass sich die Ermittlungen gegen den Angeklagten richteten, kann den Urteilsgründen nicht entnommen werden, kann aber naheliegen. Der Senat hat die Möglichkeit nicht verkannt, dass es - ein sicheres Wiedererkennen 7 Tage nach der Tat vorausgesetzt - unter Zugrundelegung der Beweiskette, dass das Wiedererkennen bereits damals (unmittelbar oder über andere Personen) ggfs. zur sicheren Feststellung der Person des Angeklagten als Täter führte, gar nicht mehr zwingend darauf ankommen muss, dass die Zeugin den Angeklagten auch noch 8 Monate später in der Hauptverhandlung oder gar noch ein weiteres Jahr später in der Berufungsverhandlung als den damaligen Täter wiedererkannt hat. Indes konnte der Senat dies nicht zugrunde legen, da zum einen (ggfs.) die genannte Beweiskette nicht festgestellt worden war und zum anderen die Strafkammer die oben im Einzelnen dargestellte Beweisgrundlage des Wiedererkennens in der Berufungsverhandlung unter Berücksichtigung der vorherigen Wahrunterstellung gewählt hat.
IV. Aufgrund der genannten Rechtsfehler war das angefochtene Urteil gem. § 353 StPO im angegebenen Umfang aufzuheben. Da von der Aufhebung auch die Einzelstrafe wegen Diebstahls betroffen ist, unterliegt auch die Gesamtstrafe mit den zugehörigen Feststellungen der Aufhebung. Die Zurückverweisung der Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts Braunschweig beruht auf § 354 Abs. 2 StPO.
Die Entscheidung über die Kosten war dem Landgericht vorzubehalten, da derzeit der endgültige Erfolg der Revision nicht abzusehen ist.