Landgericht Verden
Beschl. v. 26.11.2003, Az.: 1 Qs 279/03
Rechtmäßigkeit eines Kostenfestsetzungsbeschlusses; Entstehen von Gebühren bei Einstellung des Strafverfahrens vor der Hauptverhandlung ; Voraussetzungen für die Entstehung einer Vorverfahrensgebühr
Bibliographie
- Gericht
- LG Verden
- Datum
- 26.11.2003
- Aktenzeichen
- 1 Qs 279/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 32842
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGVERDN:2003:1126.1QS279.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Osterholz-Scharmbeck - 03.07.2003 - AZ: 21 Gs 471/02
Rechtsgrundlagen
- § 84 Abs. 1 BRAGO
- § 84 Abs. 2 Nr. 2 BRAGO
- § 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO
Fundstellen
- JurBüro 2005, 259-260 (Volltext mit amtl. LS)
- JurBüro 2005, 246 (Kurzinformation)
Verfahrensgegenstand
Diebstahl
hier: Beschwerde gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss
Die 1. große Strafkammer des Landgerichts Verden hat
auf die Beschwerde des Verteidigers XXX vom 9. Juli 2003 und auf die Beschwerde des
Bezirksrevisors bei dem Landgericht Verden vom 15. Juli 2003
gegen den Beschluss des Amtsgerichts Osterholz-Scharmbeck vom 3. Juli 2003 (21 Gs 471/02)
durch
den Vorsitzenden Richter am Landgericht XXX,
den Richter am Landgericht XXX und
Richterin XXX
am 25. November 2003
beschlossen:
Tenor:
- 1.
Die Beschwerde des Verteidigers XXX vom 9. Juli 2003 wird auf seine Kosten (§ 473 StPO) als unbegründet verworfen.
- 2.
Die Beschwerde des Bezirksrevisors bei dem Landgericht Verden wird auf Kosten der Landeskasse (§ 473 StPO) als unbegründet verworfen.
- 3.
Die Entscheidung unterliegt keiner weiteren Anfechtung (§ 310 Abs. 2 StPO).
- 4.
Der Beschwerdewert wird für beide Beschwerden auf jeweils bis zu 300,00 EUR festgesetzt.
Hinweis: verbundenes Verfahren
Verbundverfahren:
LG Verden - 26.11.2003 - AZ: 1 Qs 280/03
Gründe
I.
Dem in Bremen wohnhaften ehemaligen Angeklagten XXX wurde zur Last gelegt, am 7. Februar 2002 im Fotohaus Lilienthal in Lilienthal zusammen mit einem weiteren Mittäter einen Fotoapparat entwendet zu haben. Die Ermittlungen führte das PK Lilienthal, welches am 13. März 2002 über die Staatsanwaltschaft Bremen einen Durchsuchungsbeschluss erwirkte. Am 3. Juni 2002 übersandte das PK Lilienthal die Akten an die Polizei Bremen mit der Bitte um verantwortliche Vernehmung, welche durch das Polizeikommissariat Süd-Neustadt am 24. Juni 2002 durchgeführt wurde. Am 10. Juli 2002 gab das PK Lilienthal die Akten an die Staatsanwaltschaft Verden ab, die mit Schriftsatz vom 6. August 2002, eingegangen am 19. August 2002, Anklage vor dem Amtsgericht Osterholz-Scharmbeck - Strafrichter - erhob.
Mit Datum vom 16. August 2002 erhob wegen derselben Tat auch die Staatsanwaltschaft Bremen Anklage vor dem Amtsgericht Bremen. Am 20. August 2002 wurde dort dem ehemals Angeklagten XXX Rechtsanwalt XXXzum Pflichtverteidiger bestellt.
Das Amtsgericht Osterholz-Scharmbeck eröffnete das Hauptverfahren mit Beschluss vom 28. Oktober 2002. Am 22. November 2002 fand eine Hauptverhandlung statt, zu der der ehemals Angeklagte XXX nicht erschienen war. Das Amtsgericht Osterholz-Scharmbeck erließ am 10. Dezember 2002. einen Vorführungsbefehl für die erneute Hauptverhandlung am 12. Februar 2003. Auch hier erschien der ehemals Angeklagte XXX nicht, so dass mit Datum vom 13. Februar 2003 Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO gegen ihn erlassen wurde.
Mit Datum vom 18. Februar 2003 meldete sich Rechtsanwalt XXX erstmals für den ehemals Angeklagten XXX zu den Akten und beantragte Akteineinsicht. Mit Schriftsatz vom 24. Februar 2003 beantragte er die Aufhebung des Haftbefehls des Amtsgerichts Osterholz-Scharmbeck vom 13. Februar 2003 und wies darauf hin, dass beim Amtsgericht Bremen ein Verfahren wegen desselben Tatvorwurfs anhängig sei.
Das Amtsgericht Osterholz-Scharmbeck stellte daraufhin das dort anhängige Verfahren durch Beschluss vom 24. Februar 2003 gemäß § 206 a StPO wegen des Verfahrenshindernisses des Verbots der Doppelverfolgung ein und hob den Haftbefehl vom 13. Februar 2003 auf.
Der Verteidiger beantragte mit Schriftsatz vom 6. März 2003 die Kostenfestsetzung und machte u.a. eine Mittelgebühr gemäß § 84 Abs. 1 BRAGO + 25 % für das Vorverfahren in Höhe von 221,88 EUR sowie eine Mittelgebühr gemäß §§ 84 Abs. 2 Nr. 2, 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO + 20 % für das gerichtlich anhängige Verfahren in Höhe von 426,00 EUR geltend.
Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 3. Juli 2003 hat das Amtsgericht Osterholz-Scharmbeck die geltend gemachte Gebühr gemäß §§ 84 Abs. 2, 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO in Höhe von 426,00 EUR festgesetzt und die beantragte Vorverfahrensgebühr abgesetzt. Der Kostenfestsetzungsbeschluss wurde Rechtsanwalt XXX am 7. Juli 2003 und dem Bezirksrevisor bei dem Landgericht Verden am 15. Juli 2003 zugestellt.
Der Verteidiger legte mit Datum vom 9. Juli 2003, eingegangen beim Amtsgericht Osterholz-Scharmbeck am 11. Juli 2003, sofortige Beschwerde gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss ein wegen der nicht festgesetzten Vorverfahrensgebühr.
Der Bezirksrevisor legte gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss am 15. Juli 2003, eingegangen beim Amtsgericht Osterholz-Scharmbeck am 16. Juli 2003, Beschwerde ein, die mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2003 begründet wurde. Die Beschwerde richtet sich gegen die Festsetzung der vollen Gebühr gemäß § 84 Abs. 2 BRAGO. Nach Ansicht des Bezirksrevisors sei lediglich eine halbe Gebühr für das gerichtlich anhängige Verfahren gemäß § 84 Abs. 1 BRAGO entstanden.
II.
1.
Die sofortige Beschwerde des Verteidigers ist zwar zulässig, insbesondere ist sie gemäß § 9 Abs. 2 BRAGO statthaft sowie innerhalb der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO frist- und formgerecht eingelegt worden. Sie hat aber in der Sache keinen Erfolg, da die Voraussetzungen für die Entstehung einer Vorverfahrensgebühr gemäß § 84 Abs. 1 1. Alternative BRAGO nicht vorliegen.
Der Verteidiger weist zwar unter Berufung auf die Kommentierung in: Gerold/Schmidt - Madert, BRAGO, 15. Auflage, § 84 Rz. 14 zutreffend darauf hin, dass die entsprechende Gebühr bereits entsteht, wenn der Rechtsanwalt einen Verteidigungsauftrag für das Strafverfahren erhalten und in Ausführung dieses Auftrags irgendetwas getan hat. Hier ist aber entsprechend den Ausführungen des angefochtenen Beschlusses zu trennen zwischen dem bei der Staatsanwaltschaft Bremen und dem bei der Staatsanwaltschaft Verden anhängigen Verfahren, auch wenn diese dieselbe prozessuale Tat betreffen. Der Verteidiger hat offensichtlich von dem bei der Staatsanwaltschaft Verden bzw. dem Amtsgericht Osterholz-Scharmbeck anhängigen Verfahren erst nach Erlass des Hauptverhandlungshaftbefehls vom 13. Februar 2003 erfahren. Erstmalig mit Schriftsatz vom 18. Februar 2003 hat er sich hier zu den Akten gemeldet. Der Umstand, dass er seinem Beschwerdevorbringen entsprechend bei der Staatsanwaltschaft Bremen bereits im Vorverfahren Tätigkeiten entfaltet hat, lässt zwar dort die Vorverfahrensgebühr entstehen, stellt aber keinen gebührenauslösenden Tatbestand hinsichtlich des bei der Staatsanwaltschaft Verden anhängigen Verfahrens dar. Andernfalls würde es zu dem unbilligen Ergebnis führen, dass dem Verteidiger zwei Vorverfahrensgebühren zustünden, obwohl er nur in einem Vorverfahren tätig geworden ist und ihm das weitere Ermittlungsverfahren nicht bekannt war.
2.
Auch die sofortige Beschwerde des Bezirksrevisors ist zwar zulässig, da sie statthaft sowie frist- und formgerecht eingelegt wurde. Auch dieser Beschwerde bleibt aber der Erfolg versagt, da der Verteidiger einen Anspruch auf die volle Gebühr gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO hat.
a)
Die Entstehung einer solchen Gebühr nach Stattfinden einer Hauptverhandlung ist äußerst umstritten. Während beispielsweise das OLG Oldenburg (Nds. Rpfl. 2003, 74), das LG Kempten (JurBüro 2003, 365), das AG Koblenz (JurBüro 2000, 473) sowie Madert (in: Gerold/Schmidt, BRAGO, 15. Auflage, § 84 Rz. 8) und Hartmann (in: Kostengesetze, 33. Auflage, § 84 Rz. 15) eine Gebühr nach § 84 Abs. 2 Satz 1 BRAGO ablehnen, sobald eine Hauptverhandlung stattgefunden hat, vertreten beispielsweise das LG Frankfurt/Oder (JurBüro 2002, 524), das LG Hamburg (JurBüro 2001, 301) sowie das LG Saarbrücken (JurBüro 2001, 302) die Auffassung, dass eine Gebühr nach § 84 Abs. 2 Satz 1 BRAGO auch nach durchgeführter Hauptverhandlung anfallen könne, wenn später eine nicht nur vorläufige Einstellung des Verfahrens erfolge, zu der der Verteidiger beigetragen habe.
b)
Der Wortlaut der Vorschrift: "...eine Hauptverhandlung..." ist nicht zwingend, spricht aber eher für eine Auslegung im Sinne der zweiten Auffassung, da sich der Gesetzgeber in demselben Abschnitt der BRAGO teils der Formulierung: "...der (bzw. die) Hauptverhandlung..." bedient, bspw. in § 83 Abs. 1, § 83 Abs. 2 Satz 1 und § 85 Abs. 2 Satz 1 BRAGO, teils das Gesetz aber auch von: "...einer Hauptverhandlung..." spricht, bspw. in § 85 Abs. 3, § 86 Abs. 3 und eben § 84 Abs. 2 Satz 1 BRAGO. Dies legt nahe, dass der Gesetzgeber auch in der letztgenannten Vorschrift die Formulierung: "...die Hauptverhandlung..." gewählt hätte, wenn er die Gebühren nach § 83 Abs. 1 BRAGO nur für den Fall vorsehen wollte, dass überhaupt keine Hauptverhandlung stattfindet.
c)
Die teleologische Auslegung des § 84 Abs. 2 Satz 1 BRAGO führt zu dem Ergebnis, dass eine bereits stattgefundene Hauptverhandlung die Entstehung dieser Gebühr nicht ausschließt. Nach dem Sinn und Zweck des mit der Gesetzesnovelle 1994 neu eingeführten § 84 Abs. 2 BRAGO sollte für die Verteidigung ein Anreiz geschaffen werden, möglichst frühzeitig einen Beitrag zur Beschleunigung und Erledigung des Verfahrens zu leisten, um eine Hauptverhandlung zu vermeiden und auf diese Weise eine Entlastung der Gerichte zu bewirken. In der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 12/6962 S. 106) heißt es, dass die bisherigen Abrechnungsweisen im Strafverfahren eher einen Anreiz boten, die Verteidigungsbemühungen auf die Hauptverhandlung zu konzentrieren. Gebührenrechtlich wenig attraktiv war daher bis zur Gesetzesänderung eine intensive und zeitaufwändige Mitwirkung des Verteidigers zur Vermeidung einer Hauptverhandlung.
Diesem gesetzgeberischen Ziel läuft eine starre Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 1 BRAGO dahin, eine solche Gebühr abzulehnen, soweit eine Einstellung des Verfahrens erst nach durchgeführter Hauptverhandlung erfolgt, zuwider. Darüber hinaus bleiben bei einer solchen Handhabung die Besonderheiten des Einzelfalles unberücksichtigt.
Im vorliegenden Fall hat der Verteidiger Kenntnis von dem (auch) bei der Staatsanwaltschaft Verden anhängigen Ermittlungsverfahren und dem sich daran anschließenden Hauptverfahren vor dem Amtsgericht Osterholz-Scharmbeck erst nach Anberaumung zweier Hauptverhandlungstermine erhalten, zu denen der ehemals Angeklagte XXX nicht erschienen war. Der Verteidiger hatte mithin keine Möglichkeit, in dem hier anhängigen Verfahren bereits während des Vorverfahrens Tätigkeiten zu entfalten.
Zum Einen ist dieser Fall anders zu beurteilten als der, in dem der Verteidiger bereits an einer Hauptverhandlung mitgewirkt hat oder in Kenntnis derselben nicht erschienen ist. Denn dort hatte der Verteidiger bereits vor der ersten Hauptverhandlung die Gelegenheit, auf eine Einstellung des Verfahrens hinzuwirken, was ihm hier nicht möglich war. Zum Anderen wird eine dem Gesetzeszweck entsprechende Entlastung der Gerichte auch dann bewirkt, wenn eine ansonsten erforderliche weitere Hauptverhandlung durch die Bemühungen des Verteidigers verhindert wird. Insoweit vermögen die Ausführungen des Landgerichts Kempten (a.a.O.) nicht zu überzeugen, wonach der durch § 84 Abs. 2 BRAGO bezweckte Anreiz für den Anwalt, zur Beendigung des Verfahrens beizutragen, seinen Sinn verliere, wenn bereits eine Hauptverhandlung stattgefunden habe. Danach hätte der Verteidiger vorliegend, um in dem Verfahren vor dem Amtsgericht Osterholz-Scharmbeck die volle Gebühr zu verdienen, die neu anzuberaumende Hauptverhandlung abwarten müssen, um erst dann auf eine Einstellung hinzuwirken. In diesem Fall wäre eine Gebühr gemäß § 83 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO entstanden. Hier hat der Verteidiger aber bereits vor einer Neuansetzung der Hauptverhandlung zu einer endgültigen Einstellung des Verfahrens und mithin zu einer Entlastung der Rechtspflege beigetragen. Auch die Vermeidung einer weiteren Hauptverhandlung liegt im Interesse der Landeskasse, da bspw. Kosten für Zeugen- und Sachverständigenladungen gespart werden (LG Saarbrücken, a.a.O.). Für die Kammer ist kein Grund ersichtlich, den Verteidiger gebührenrechtlich schlechter zu stellen, als denjenigen, der frühzeitig Kenntnis von dem Verfahren erhält und dadurch in der Lage ist, bereits vor Anberaumung der ersten Hauptverhandlung eine Verfahrenseinstellung zu bewirken.
III.
Die Beschwerden des Verteidigers und des Bezirksrevisors waren kostenrechtlich getrennt zu behandeln. Die Berücksichtigung etwaiger durch die Beschwerde des Bezirksrevisors verursachter ausscheidbarer notwendiger Auslagen des ehemals Angeklagten 4NH9 erfolgt im Verfahren nach § 464 b StPO (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Auflage, § 473 Rz. 18 m.w.N.).
Streitwertbeschluss:
Der Beschwerdewert wird für beide Beschwerden auf jeweils bis zu 300,00 EUR festgesetzt.