Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 11.09.2012, Az.: 311 SsRs 124/12
Berufung auf ein Fehlen der Bedienungsanleitung eines standardisierten Messgeräts in den Gerichtsakten i.R.d. Erhebung einer Gehörsrüge bei Möglichkeit zur Einsichtnahme in den Räumen der Bußgeldbehörde
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 11.09.2012
- Aktenzeichen
- 311 SsRs 124/12
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 36509
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2012:0911.311SSRS124.12.0A
Rechtsgrundlagen
- § 80 Abs. 2 OWiG
- § 147 StPO
- § 338 Nr. 8 StPO
- Art. 103 GG
Amtlicher Leitsatz
Befindet sich im Bußgeldverfahren die Bedienungsanleitung eines standardisierten Messgeräts nicht in den Akten, so kann auf ein unterlassenes Beiziehen der Anleitung ein Gehörsverstoß jedenfalls dann nicht erfolgreich gestützt werden, wenn das Gericht eine Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung in den Räumen der Bußgeldbehörde angeboten hat. Insoweit gilt der sogenannte formelle Aktenbegriff.
Tenor:
Der Zulassungsantrag wird verworfen.
Der Betroffene hat die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde war zu verwerfen, weil gegen den Betroffenen eine Geldbuße von nicht mehr als 100 EURO festgesetzt worden und es nicht geboten ist, die Nachprüfung des Urteils zur Fortbildung des sachlichen Rechts zu ermöglichen oder das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (§ 80 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 OWiG).
I.
Soweit der Betroffene die Rüge der Verletzung formellen Rechts erhebt, kann er nach Maßgabe von § 80 Abs. 2 OWiG in vorliegendem Verfahren hiermit kein Gehör finden.
II.
Soweit der Betroffene im Hinblick auf die ihm nicht mit den Akten übersandte Bedienungsanleitung des maßgeblichen Messgeräts eine Verletzung des rechtlichen Gehörs - sowie hiermit eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung - geltend macht, ist die Rüge nicht in der nach §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Form ausgeführt worden. Hierzu hat die Generalstaatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Zuschrift ausgeführt:
"Nach diesen Vorschriften muss bei einer Verfahrensrüge der Tatsachenvortrag so vollständig sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein auf Grund der Begründungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn das tatsächliche Vorbringen des Betroffenen zutrifft.
Rügt der Beschwerdeführer die Versagung des rechtlichen Gehörs, muss durch den Tatsachenvortrag in der Begründungsschrift schlüssig dargelegt werden, dass ein Verstoß gegen Art. 103 GG vorliegt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nur dann verletzt, wenn dem Betroffenen keine Möglichkeit eingeräumt wird, sich zu allen entscheidungserheblichen und ihm nachteiligen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern (vgl. Göhler, OWiG, 15. Aufl., § 80 Rdnr. 16a m.w.N.).
Die Beschwerdebegründung verhält sich bereits nicht zu der Frage, aus welchem Grund die vom Gericht angebotene Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung des Messgeräts beim Landkreis S. nicht möglich bzw. der hierfür gewährte Zeitraum von einer Woche nicht ausreichend gewesen sein soll.
Die in Rede stehende Bedienungsanleitung war vom Akteneinsichtsrecht der Verteidigung nach § 147 Abs. 1 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG nicht erfasst. Der Aktenbegriff dieser Vorschrift erfasst die von der Staatsanwaltschaft dem Amtsgericht gemäß § 69 Abs. 4 S. 2 OWiG vorgelegten Akten, die danach entstandenen Aktenteile und die vom Gericht herangezogenen oder von der Staatsanwaltschaft nachgereichten Beiakten (vgl. BGHSt 30, 131, 138f.). Die Bestimmung gibt keinen Anspruch auf Erweiterung des Aktenbestands ("formeller Aktenbegriff"). Die Bedienungsanleitung war weder mit den Akten vorgelegt noch vom Gericht beigezogen worden. Eine Verletzung des Akteneinsichtsrechts scheidet mithin aus. Die unterlassene Ergänzung des Aktenbestands durch Beiziehung weiterer Unterlagen kann nur über das Beweisantragsrecht bzw. die gerichtliche Aufklärungspflicht geltend gemacht werden. Eine solche Verfahrensrüge, die nicht dem Schutzbereich des rechtlichen Gehörs unterfällt, ist bei Verhängung einer Geldbuße von nicht mehr als 100 € von vorneherein nicht geeignet, die Zulassung der Rechtsbeschwerde zu gebieten (§ 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG).
Der Revisionsgrund des § 338 Nr. 8 StPO ist im Übrigen nur dann gegeben, wenn die Möglichkeit eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Verfahrensverstoß und Urteil konkret besteht. Bei der Rüge der Beschränkung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt durch Ablehnung eines Akteneinsichtsantrags bzw. Aussetzungsantrags ist daher - wie bei der Aufklärungsrüge - ein substantieller Vortrag erforderlich, welche Tatsachen sich ergeben hätten und welche Konsequenzen für die Verteidigung darauf folgten. Damit korrespondiert das Erfordernis eines möglichst konkreten Vortrags (vgl. BGH NStZ 2010, 530, 531 [BGH 23.02.2010 - 4 StR 599/09] m.w.N.). Auch diesen Anforderungen wird der Vortrag des Beschwerdeführers nicht gerecht. Er zeigt keine konkreten Anhaltspunkte auf, die Anlass für Zweifel an der Ordnungsgemäßheit des Messergebnisses geben könnten.
Das Amtsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass keinerlei Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung erkennbar seien. Gerade bei einem stationären standardisierten Messgerät, das nicht von Menschen bedient werde, ist die Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung des Geräts ohne konkrete Anhaltspunkte "ins Blaue hinein" nicht erforderlich und auch für die Verteidigung nicht notwendig."
Diesen zutreffenden Ausführungen tritt der Senat bei (vgl. auch jüngst OLG Hamm vom 3. September 2012, III RBs 235/12, und Senatsbeschluss vom 4. Mai 2011, 311 SsRs 52/11). In einer Prozesslage, wie sie bei Stellung des Antrags der Verteidigung bestand, erfasst der Aktenbegriff der Vorschrift des § 147 Abs. 1 StPO die von der Staatsanwaltschaft dem Amtsgericht gemäß § 69 Abs. 4 Satz 2 OWiG vorgelegten Akten, die danach in Fortführung der Ermittlungsakten entstandenen Aktenteile und die vom Gericht herangezogenen oder von der Staatsanwaltschaft nachgereichten Beiakten (vgl. BGHSt 30, 131, 138 f.). Für diesen Bestand gerichtlicher Verfahrensakten kann eine Beschränkung des Einsichtsrechts der Verteidigung grundsätzlich nicht in Frage kommen. Das und nichts anderes besagt § 147 Abs. 1 StPO. Die Bestimmung gibt keinen Anspruch auf Bildung eines größeren Aktenbestands (BGH aaO.). Zu den vorzulegenden Akten gehören - verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfGE 63, 45; hierzu auch Lüderssen/Jahn in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 147 Rdn. 35 ff.) - aber nur diejenigen Unterlagen, die durch die Identität der Tat und des Täters konkretisiert werden (vgl. BGHSt 30, 131, 138 f.; BGH StraFo 2009, 338 [BGH 18.06.2009 - 3 StR 89/09]). Danach muss das gesamte vom ersten Zugriff der Polizei an gesammelte Beweismaterial, einschließlich etwaiger Bild- und Tonaufnahmen nebst hiervon gefertigter Verschriftungen, zugänglich gemacht werden, das gerade in dem gegen den Betroffenen gerichteten Ermittlungsverfahren angefallen ist (; vgl. BGH aaO.; Meyer-Goßner, StPO 55. Aufl. § 147 Rn. 15). Hierzu gehört die nicht bei den Akten befindliche Bedienungsanleitung fraglos nicht.
III.
Die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge hat keine über den konkreten Einzelfall hinausgehende, abstraktionsfähige Rechtsfragen des materiellen Rechts aufgezeigt, die zur Fortbildung des Rechtsgeklärt werden müssten. Der Betroffene greift lediglich die Beweiswürdigung zur Annahme des Vorsatzes im Einzelfall an.
Soweit ihm das Messgerät GATSO-GS 11 als standardisiertes Messverfahren unbekannt ist, bedarf es hierzu keines klärenden Wortes des Senats; dies erschließt sich unschwer aus allgemein zugänglichen Quellen.