Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 10.09.2012, Az.: 1 Ausl 26/12
Anforderungen an die Bewilligungsentscheidung zur Auslieferung eines polnischen Staatsangehörigen auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls; Voraussetzungen für das Überwiegen eines schutzwürdigen Interesses an einer Strafvollstreckung im Inland
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 10.09.2012
- Aktenzeichen
- 1 Ausl 26/12
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 36508
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2012:0910.1AUSL26.12.0A
Rechtsgrundlagen
- § 79 Abs. 2 IRG
- § 83b Abs. 2 S. 1b IRG
Fundstelle
- StV 2013, 315-316
Tenor:
1. Die Akten werden zur erneuten Entscheidung über die Geltendmachung von Bewilligungshindernissen an die Generalstaatsanwaltschaft Celle zurückgegeben.
2. Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten nach Polen wird zurückgestellt.
3. Die Anordnung der Auslieferungshaft bleibt aufrecht erhalten.
Gründe
I.
Die polnischen Justizbehörden betreiben auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls des Bezirksgerichts in G. vom 16. April 2012 (Az.: IV Kop 32/12) die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafvollstreckung. Danach ist der Verfolgte wie folgt verurteilt worden:
1. Durch Urteil des Amtsgerichts in W. vom 30. August 2006 (Az.: II K 87/06) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, von der noch ein Jahr, 11 Monate und 29 Tage zu vollstrecken sind, wegen folgender Tat:
"Am 10. Oktober 2005 in W. unter sofortiger Gewaltandrohung in Form von Körperverletzung gegenüber H. D. nahm er in Zueignungsabsicht vom Dienstleistungsbetrieb "E." Elektromaschinen: Sägemaschine und Bohrmaschine und Geld in Höhe von 30 Zloty vom Gesamtwert 500 Zloty zum Nachteil von J. S. weg."
2. Durch Urteil des Amtsgerichts in W. vom 4. Januar 2007 (Az.: II K 353/05) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, die noch vollständig zu vollstrecken ist, wegen folgender Tat:
"Am 3. September 2004 nahm er in W. in Zueignungsabsicht Mobiltelefon Siemens A 52 vom Wert 330 Zloty weg, wodurch er zum Nachteil von M. G. handelte."
3. Durch Urteil des Amtsgerichts in W. vom 15. März 2007 (Az.: II K 59/07) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten, von der noch zehn Monate und zwei Tage zu vollstrecken sind, wegen folgender Tat:
"Am 25. September 2006, nachdem er den Diebstahl von Mobiltelefon Sony Ericsson K300i vom Wert 300 Zloty zum Nachteil von I. T. begangen hatte, wendete er Gewalt zu dessen Erhaltung in dieser Form, dass er mit dem Faust sie ins Gesicht schlug, und dann drohte er mit sofortiger Gewaltanwendung mit einem Stockschlag minderjährigen S. T.."
4. Der Senat hat am 27. Juni 2012 einen Auslieferungshaftbefehl gegen den Verfolgten erlassen. Der Verfolgte wurde am 20. August 2012 festgenommen und am selben Tag der Ermittlungsrichterin des Amtsgerichts Hannover vorgeführt. Der Verfolgte hat sich mit einer vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt. Er hat weiter angegeben, dass er sich seit ca. zwei Jahren durchgehend in Deutschland aufhalte, hier mit seiner Lebensgefährtin und seiner Schwester zusammen wohne und ein angemeldetes Gewerbe als Fenstermonteur betreibe, in dem er viel auf Montage sei.
5. Die Generalstaatsanwaltschaft hat als zuständige Bewilligungsbehörde unter dem 20. August 2012 erklärt, dass sie nicht beabsichtige, Bewilligungshindernisse geltend zu machen, weil die durch eine Verbüßung der Freiheitsstrafe eintretenden Härten im Hinblick auf die Partnerschaft und das Gewerbe des Verfolgten auch bei einer Verbüßung in Deutschland eintreten würden.
Diese Erklärung ist dem Verfolgten am 21. August 2012 mit Gelegenheit zur Stellungnahme binnen einer Woche zugestellt worden. er hat sich dazu nicht geäußert.
6. Die Generalstaatsanwaltschaft Celle beantragt nunmehr, die Auslieferung für zulässig zu erklären und Haftfortdauer anzuordnen.
II.
Die Akten waren zur erneuten Entscheidung über die Geltendmachung von Bewilligungshindernissen an die Generalstaatsanwaltschaft Celle zurückzugeben, weil die Entscheidung vom 20. August 2012 der vom Senat nach § 79 Abs. 2 Satz 3 IRG vorzunehmenden Nachprüfung nicht standhält.
Das Oberlandesgericht überprüft die Bewilligungsentscheidung lediglich darauf, ob sie aufgrund einer vollständig und zutreffend ermittelten Tatsachengrundlage getroffen worden ist und keine Ermessenfehler enthält. Nach dem Willen des Gesetzgebers steht der Bewilligungsbehörde hierbei ein sehr weites Ermessen zu, dass gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüft werden kann (vgl. Senatsbeschluss vom 21. April 2008 - 1 ARs 44/08 (Ausl) -; OLG Stuttgart StV 2007, 258). Unter Berücksichtigung dieses weiten Ermessens ist aber erforderlich, dass die nach § 79 Abs. 2 Satz 2 IRG zu begründende Vorabentscheidung dem Oberlandesgericht die gebotene Überprüfung ermöglicht, ob die Bewilligungsbehörde die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 83 b IRG zutreffend beurteilt hat und sich bei Vorliegen von Bewilligungshindernissen des ihr eingeräumten Ermessens unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalls bewusst war (vgl. Senat aaO.; OLG Karlsruhe StV 2007, 149; KG NJW 2006, 3507 [KG Berlin 14.08.2006 - (4) Ausl.A. 378/06 (149/06)]; BT-Drucks. 16/1024 S. 11, 13). In die Ermessensabwägung dürfen einerseits keine die Entscheidung maßgeblich beeinflussenden unzulässigen Erwägungen eingestellt werden, andererseits müssen die wesentlichen Gesichtspunkte ausdrücklich bedacht und die in dem Bescheid aufgeführten und erkannten Gesichtspunkte müssen abwägend gegenüber gestellt werden (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2009, 107 [OLG Karlsruhe 16.12.2008 - 1 AK 51/07][OLG Karlsruhe 16.12.2008 - 1 AK 51/07]). Diesen Anforderungen wird die getroffene Entschließung nicht gerecht.
Sie hat nämlich nicht die infolge der Entscheidung des EuGH vom 17. Juli 2008 (NJW 2008, 3201 [EuGH 17.07.2008 - C 66/08]) und der nachfolgenden innerstaatlichen Rechtsprechung (vgl. hierzu ausführlich OLG Karlsruhe aaO.; OLG Stuttgart NStZ-RR 2007, 203 [OLG Stuttgart 06.03.2007 - 3 Ausl 52/06]; Böhm NJW 2008, 3183 [EuGH 17.07.2008 - C 66/08]) zu berücksichtigen Erwägungen zur Bedeutung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Unionsbürgers im ersuchten Staat eingestellt und mit den weiteren Gesichtspunkten abgewogen. Die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft vom 20. August 2012 geht zwar davon aus, dass die tatbestandliche Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland nach § 83 b Abs. 2 Buchst. b IRG erfüllt ist, in die Abwägung, ob hier ein schutzwürdiges Interesse an der Strafvollstreckung im Inland überwiegt, sind aber nicht alle relevanten Belange eingestellt worden.
Hält sich der Verfolgte in der Bundesrepublik Deutschland in Einklang mit dem nach dem FreizügG/EU zu beurteilenden nationalen Aufenthaltsrecht auf und verfügt damit über einen gewöhnlichen Aufenthalt i.S.d. § 83 b Abs. 2 Buchst. b IRG, so ist zu prüfen, ob ein schutzwürdiges Interesse des Verfolgten an einer Strafvollstreckung im Inland überwiegt. Auch wenn der Europäische Gerichtshof die diese Bewertung betreffende zweite Vorlagefrage des Oberlandesgerichts Stuttgart im Beschluss vom 14. Februar 2008 mangels Entscheidungserheblichkeit nicht ausdrücklich beantwortet hat, geben die Urteilsgründe gleichwohl Anhaltspunkte für die Auslegung. Danach ist ein solches Überwiegen der schutzwürdigen Interessen des Verfolgten dann anzunehmen, wenn ein legitimes Interesse besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird. In der hierfür notwendigen umfassenden Abwägung sind vorwiegend die persönlichen Belange des Verfolgten zu berücksichtigen, wobei als maßgebliches Kriterium darauf abzustellen ist, ob die Resozialisierungschancen des Verfolgten durch eine Inlandsvollstreckung erhöht werden können (vgl. Senatsbeschluss vom 5. Oktober 2010 - 1 Ausl 35/10; OLG Karlsruhe aaO.). Demgegenüber würde die alleinige Erwägung, dass die durch eine Verbüßung der Freiheitsstrafe eintretenden Härten im Hinblick auf Partnerschaft und Gewerbe des Verfolgten auch bei einer Verbüßung in Deutschland eintreten würden, zu einem generellen Ausschluss der Anwendung von § 83 b Abs. 2 Buchst. b IRG führen, weil sie immer angeführt werden könnte.
Bei der Beurteilung, ob durch eine Inlandsvollstreckung die Resozialisierungschancen des Verfolgten merklich erhöht werden können, ist vielmehr insbesondere zu beachten, ob und inwieweit sich dieser bereits in der Bundesrepublik Deutschland gesellschaftlich integriert hat, wobei dies auch davon abhängen kann, ob er der deutschen Sprache hinreichend mächtig ist (vgl. Senat aaO.; OLG Karlsruhe aaO.). Andererseits darf durchaus berücksichtigt werden, ob der Verfolgte an sein Heimatland ausgeliefert werden soll und für ihn in diesem Falle bei der Vollstreckung keine der Resozialisierung entgegenstehenden sprachlichen und kulturellen Probleme bestehen. Auch können in die Bewertung des Tatbestandsmerkmals des "Überwiegens der schutzwürdigen Interessen" - ohne dass diese für sich gesehen jeweils entscheidungserheblich sein können (EuGH aaO. Rn. 49) - weitere persönliche Umstände des Verfolgten mit eingestellt werden. So kann etwa der Gesichtspunkt Bedeutung erlangen, ob dieser in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt ist, um sich der ihm drohenden Strafvollstreckung zu entziehen (vgl. Senat aaO.; OLG Hamburg, Beschluss vom 20. März 2008 - Ausl. 3/08), weil dieser Aspekt der Annahme seiner Schutzwürdigkeit entgegensteht. Auch kann bei der Bewertung ungeachtet der grundsätzlichen Pflicht zur Bewilligung zulässiger Auslieferungsersuchen eines Mitgliedstaates (§ 79 Abs. 1 IRG) berücksichtigt werden, ob es sich bei dem Verfolgten um einen EU-Bürger handelt, welcher innerhalb der Europäischen Union grundsätzlich Freizügigkeit genießt (vgl. OLG Stuttgart NJW 2007, 1702 [OLG Stuttgart 06.03.2007 - 3 Ausl 52/06]).
Da die Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft vom 20. August 2012 danach ergänzungsbedürftig ist, kann eine Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung derzeit noch nicht getroffen werden (§ 79 Abs. 2 Satz 1 IRG).
Es besteht allerdings kein Grund zur Abänderung des Haftbefehls, weil aus den dort genannten Gründen weiterhin die Gefahr der Flucht besteht.