Landgericht Göttingen
Urt. v. 28.07.1994, Az.: 2 O 286/93

Bibliographie

Gericht
LG Göttingen
Datum
28.07.1994
Aktenzeichen
2 O 286/93
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1994, 30254
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

In dem Rechtsstreit
wegen Schmerzensgeld und Feststellung
hat die 2. Zivilkammer des Landgerichts Göttingen auf die mündliche Verhandlung vom 02. Juni 1994 durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht XXX die Richterin am Landgericht XXX und den Richter am Landgericht XXX
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 6.500,--DM nebst 4% Zinsen seit dem 22.10.1993 zu zahlen.

Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtlichen materiellen und immateriellen Schaden aus der Operation vom 13.5.1992 zu ersetzen, soweit die entsprechenden Ansprüche der Klägerin nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen.

Wegen der geringfügig weitergehenden Zinsforderung wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen. Dies gilt jedoch nicht für die Kosten, die dadurch entstanden sind, daß die Klägerin ursprünglich Klage gegen Prof. Dr. med. ... erhoben hat; hierdurch angefallene Mehrkosten hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicher heitsleistung von 8.250,--DM vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die ... Jahre alte Klägerin klagt mit der Behauptung, daß bei einem gynäkologischen Eingriff, dem sie sich in der von der Beklagten betriebenen Frauenklinik unterziehen mußte, dem bei der Beklagten anstellten und bei ihr als Universitätsprofessor tä tigen Arzt XXX ein ärztlicher Kunstfehler unterlaufen sei.

Unter Leitung des o.g. Arztes wurde bei der Klägerin am 13.5.1992 eine Laparatomie mit Entfernung der linken Adnexe vorgenommen und dazu die Bauchhöhle der Klägerin eröffnet. Zum Stillen der dadurch entstehenden Blutungen wurden sog. Bauchtücher verwandt und in den Wundbereich eingelegt, wobei die Bauchtücher mit einem anhängenden Gewebestreifen armiert waren, um dem Operateur auf diese Weise eine optische Kontrolle gegen ein Zurücklassen von Tüchern im Wundbereich zu ermöglichen. Zugleich war diesem Risiko, nämlich nach Abschluß der Operation ein solches Tuch im Körper der Patientin zu vergessen, dadurch entgegengetreten worden, daß zwei bei dem Eingriff assistierende Pflegekräfte, nämlich der instrumentierende Pfleger XXX und die als sog. Springerin eingesetzte Krankenschwester XXX, die Zahl der bei der Operation verwendeten und alsdann als benutzt und aus der Wunde wieder entnomnenen Bauchtücher zu vergleichen hatten.

Um diesen Zahlenabgleich zu unterstützen, werden bei Operationen, die von XXX geleitet werden, insoweit generell folgende organisatorische Maßnahnen ergriffen und Anordnungen getroffen, die nach der Behauptung der Beklagten auch im vorliegenden Fall beachtet wurden:

Die bei der vorliegenden Operation verwandten Bauchtücher wurden vor der Operation in Paketen zu jeweils fünf Stück auf dem Instrumententisch bereitgelegt, wobei die Gesamtzahl der so vorgehaltenen Tücher bei den jeweiligen Operationen variiert und generell, und so auch hier, durch die Erfahrung der instrumentierenden Pflegekraft vorgegeben wird. Deren Aufgabe, also hier Aufgabe des Pflegers XXX, war es insbesondere auch, sich zu merken, wie groß der Anfangsbestand der bereitgelegten Tücher war. Reichte die Zahl der bereitgelegten Tücher nicht aus, war es Aufgabe der Springerin, weitere Tücher herbeizuschaffen und sich deren Zahl zu merken. Benutzte und aus der Wunde wieder entfernte Tücher wurden deutlich sichtbar an einem neben dem OP-Tisch stehenden Ständer aufgehängt. Vor Verschließen der Wunde fragte der Operateur die beiden genannten Pflegekräfte, ob alle Bauchtücher wieder entfernt seien. Dies wurde von ihnen übereinstimmend bejaht, nachdem keine Differenz zwischen der Zahl der verwendeten und der Zahl der wieder aus dem Körper entnommenen Bauchtüchern festgestellt worden war.

Tatsächlich war jedoch ein Bauchtuch in der Bauchhöhle der Klägerin verblieben. Ob dies damit erklärt werden kann, daß der Anfangsbestand der vor der Operation bereitgelegten Tücher oder ob demgegenüber die Zahl der als benutzt und als aus dem Körper entfernt vermerkten Tücher fehlerhaft ermittelt worden ist, konnte und kann nicht aufgeklärt werden.

Der den Eingriff leitende Arzt, der die Zahl der verwendeten und wieder entfernten Bauchtücher nicht. selbst kontrolliert hatte, vertraute den Angaben seiner Mitarbeiter, vernähte daraufhin die Wunde und verschloß die Bauchhöhle. Am 21.5.1992 wurde die Klägerin aus der Klinik entlassen. Wegen sich aufgrund des in der Bauchhöhle zurückgelassenen Bauchtuches alsbald einstellender und sich stetig verstärkender Bauchschmerzen begab sich die Klägerin in die Behandlung ihres Hausarztes, der sie am 10.6.1992 erneut in die Frauenklinik zwecks weiterer Untersuchungen überwies, Nachdem zunächst eine Ultraschall-Untersuchung keinen Befund geliefert hatte, wurde am 16.6.1992 durch ein Computer-Tomogramm das bei der Erstoperation vergessene Bauchtuch dann doch noch erkannt und sodann am 18.6.1992 im Verlauf einer Nachoperation entfernt. Insgesamt verblieb die Klägerin im Anschluß an diesen zweiten Eingriff noch bis zum 26.6.1992 in stationärer Behandlung. Anschließend war sie für weitere drei Wochen arbeitsunfähig.

Die Klägerin vertritt die Ansicht, daß die bei dem Eingriff durch den operierenden Arzt angeordneten organisatorischen Kontrollmaßnahmen nicht ausreichend gewesen seien, um derartige Fehler bei der Ermittlung der Zahl der verwendeten Bauchtücher auszuschließen. Als Schmerzensgeld hält sie einen Betrag von 10.000,--DM für angemessen, auf den sie 3.500,-- DM in Anrechnung bringt, die vorprozessual bereits von der Haftpflichtversicherung des Arztes XXX an sie gezahlt worden sind.

Die zunächst allein gegen XXX erhobene Klage hat die Klägerin gegen diesen zurückgenommen, nachdenm der ehemalige Beklagte sich auf das Verweisungsprivileg nach § 839 I 2 BGB beufen und die Klägerin daraufhin Klage gegen die jetzige Beklagte erhoben hat.

Mit dem vom Tenor nur insoweit abweichenden Begehren, Zinsen bereits ab dem 18.3.1993 zu erhalten, beantragt die Klägerin,

wie erkannt.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie vertritt die Ansicht, für ein etwaiges Verschulden ihrer bei der Operation eingesetzten Mitarbeiter deshalb nicht einstehen zu müssen, weil sie diese sorgfältig ausgewählt und bei ihrer Tätigkeit überwacht habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet. Nach Ansicht der Kammer folgt dies aus einer Verantwortlichkeit der Beklagten nach §§ 831, 847 BGB, ohne daß es darauf ankommt, nämlich weil der Beklagten der Entlastungsbeweis nach § 831.I Satz 2 BGB nicht gelungen ist, ob sie stattdessen - ohne die Möglichkeit eines Entlastungsbeweises - sogar nach §§ 31, 89 BGB haftet (vgl. hierzu BGHZ 77, Seite 74f).

Daß bei der Operation, der sich die Klägerin unterziehen mußte, ein ärztlicher Kunstfehler dergestalt unterlaufen ist, daß ein Bauchtuch vergessen wurde, was eine Nachoperation erforderlich gemacht hat, ist unstreitig. Hierfür hat die Beklagte auch einzustehen. Darauf, daß sie die bei der Operation eingesetzten Pflegekräfte sorgfältig ausgewählt hat, kommt es nicht an. Denn die vorliegend generell angeordneten Maßnahmen, ein derartiges Mißgeschick zu vemeiden, sind nach Ansicht der Kamner ungenügend. Der Vorwurf dieses Organisationsverschuldens, der sich zunächst an den behandelnden Operateur richtet, trifft daher die Beklagte als Geschäftsherrin, bei der der fragliche Arzt, nämlich XXX angestellt ist.

Die Feststellung, ob die Zahl der nach Entfernen aus dem Körper des Patienten weggelegten (bzw. vorliegend: weggehängten) Bauchtücher mit der Zahl der insgesamt verwendeten Bauchtücher übereinstimmt, ist für den Patienten womöglich von schicksalhafter Bedeutung, weil im Körper vergessene Operationsutensilien regelmäßig zu ernsthaften Komplikationen und sehr oft sogar zum Tode des Patienten führen. Daher entspricht es ständiger Rechtsprechung, daß alle möglichen und zumutbaren Sicherüngsvorkehrungen gegen ein solches Versäumnis getroffen werden müssen. Obwohl bei der Operation armierte ("bewehrte") Bauchtücher verwandt wurden und auch eine Zählung der Tücher durch zwei Mitarbeiter erfolgte, wurden im vorliegenden Fall nicht alle möglichen und zumutbaren Sicherungsvorkehrungen getroffen.

Bei der hier fraglichen Erstoperation handelte es sich nicht um eine Notfalloperation, auch Komplikationen traten nicht auf, so daß der Eingriff geplant und ohne Zeitdruck durchgeführt werden konnte, Es hätte daher genau gezählt werden können und müssen. An den Umstand, daß dies vorliegend ersichtlich nicht geschehen ist, kann nach Ansicht der Kammer der Vorwurf geknüpft werden, daß vorliegend die Zahl der verwendeten Tücher nur aufgrund der - trügerischen - Merkfähigkeit der beiden eingesetzten Mitarbeiter ermittelt worden ist und nach den angeordneten Maßnahmen auch nur so ermittelt werden konnte, Hier wäre es aber unumgänglich gewesen, solche organisatorischen Maßnahmen zu treffen, daß im Verlaufe der Operation jederzeit - ggf. auch durch andere Mitarbeiter, insbesondere den operierenden Arzt - festgestellt und überprüft werden kann, wieviele Bauchtücher von dem bei Beginn der Operation vorhandenen Bestand tatsächlich verwendet und wieviele nach Abschluß der Operation noch als unbenutzt vorhanden sind, um sodann einen genauen Vergleich mit der Zahl der aus dem Körper entfernten Tücher zu ermöglichen. Hierzu wäre es aber erforderlich gewesen, nämlich um Merkfehler auszuschließen, entweder die eingesetzten Tücher in von den beiden mit dem Zahlabgleich betrauten Mitarbeitern unabhängig voneinander zu führenden Strichlisten zu vermerken und zudem zusätzlich noch auf andere Weise sicherzustellen, daß die Zahl der verwendeten Tücher durch Abgleich mit einem entweder generell genau definierten und damit feststehenden oder aber auf andere Weise, z.B. durch Verwendung feststehender Gebindegrößen und Aufheben der jeweiligen Verpackungen, dokumentierten Anfangsbestand unter Vergleich mit den als Rest vorhandenen - unbenutzten - Tücher unschwer durch Abzählen berechnet werden konnte. Denn nur durch Ergreifen derartiger Maßnahmen wäre es für den Operateur überhaupt möglich gewesen, die Arbeit der mit dem Zählabgleich beauftragten Mitarbeiter für den Fall zu überprüfen, daß diese voneinander abweichende Zahlen der verwendeten Tücher ermittelten. Da durchgeblutete Bauchtücher auch dann in der Bauchhöhle für den Operateur augenscheinsmäßig nicht mehr feststellbar sind, wenn sie "armiert", also mit einem Band versehen sind, zeigt der vorliegende Fall. Denn es kann niemals ausgeschlossen werden, daß - wie hier - auch die Armierung des Tuches unbemerkt mit in die Leibeshöhle des Patienten gerät. Eine durch geeignete organisatorische Maßnahmen abgesicherte und nicht allein auf die - wie sich vorliegend gezeigt hat: trügerische - Merkfähigkeit der eingesetzten Mitarbeiter gestützte Bestandsführung der eingesetzten Bauchtücher ist daher unumgänglich, weil allein dazu geeignet sicherzustellen, daß alle Bauchtücher auch aus dem Körper des Patienten wieder entfernt werden. Diese Sicherungsmaßnahmen, die nach Ansicht der Kammer angesichts der weitreichenden Folgen derartiger Versehen unumgänglich sind, wurden vorliegend jedoch nicht ergriffen. Die Beklagte hätte diesen Organisationsmangel erkennen und abstellen können. Daß bei Operationen des operierenden Arztes bislang derartige Versäumnisse womöglich nicht vorgekommen sind, entlastet sie nicht. Bereits das LAG Berlin (VersR 1983, 937ff) hat bereits vor über 10 Jahren die Forderung aufgestellt, daß bei derartigen Operationen solche Vorkehrungen zu treffen seien (u.a. das Führen von Strichlisten), daß die Bestandskontrolle bzgl. benutzter Bauchtücher nicht allein von der Merkfähigkeit der eingesetzten Mitarbeiter abhängt. Diese Entscheidung hätte die Beklagte zum Anlaß nehmen können und müssen, sicherzustellen, daß bei in ihrem Hause durchgeführten Operationen -entsprechend verfahren wird. Die Beklagte haftet daher, ist also verpflichtet, Schmerzensgeld zu leisten.

Das von der Klägerin geforderte Schmerzensgeld hält die Kammer für angemessen. Die Klägerin hatte langanhaltende, mehrere Wochen andauernde Schmerzen, was allein der Umstand dokumentiert, daß sie sich drei Wochen nach der ersten Entlassung wieder bei der Beklagten wegen anhaltender Schnmerzen vorstellte, worauf dann eingehende ünd - auch wegen der Anreise vom Wohnort der Klägerin nach XXX anstrengende Untersuchungen erfolgten, um die Ursachen dieser Schmerzen zu ermitteln. Der zweite Eingriff war zudem nicht nur mit weiteren 11 Tagen Krankenhausaufenthalt (ab Diagnosestellung) sondern nach aller Lebenserfahrung auch mit weiteren Schmerzen, Aufregungen, Sorgen und Ängsten verbunden. Der Genesungsprozeß wurde insgesamt um mehr als einen Monat verzögert.Die Forderung, zum Ausgleich dieser immateriellen Schäden insgesamt 10.000,--DM zu erhalten, ist daher nach Ansicht der Kammer nicht überzogen.

Da derzeit noch nicht übersehbare Spätfolgen derartiger Kunstfehler nicht unwahrscheinlich sind, ist auch der Festellungsantrag zulässig und begründet.

Der Zinsanspruch folgt aus §§ 288 Abs. 1, 291 ZPO. Die geringfügig weitergehend - nänmlich bereits ab dem 18.3.1993 - begehrten Zinsen stehen der Klägerin hingegen nicht zu, da nicht ersichtlich ist, daß sich die Klägerin bereits zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Schmerzensgeldforderung an die (jetzige) Beklagte gewandt und sie in Verzug gesetzt hatte. Die vorprozessuale Korrespondenz ist ersichtlich nur mit dem ehemaligen Beklagten und dessen Haftpflichtversicherung geführt worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91, 92 Abs. 2 ZPO. Hinsichtlich der Kosten des Verfahrens hinsichtlich des ehemaligen Beklagten folgt die Kostenentscheidung aus § 269 Abs. 3 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit findet seine Grundlage in § 709 ZPO.