Sozialgericht Aurich
Urt. v. 03.02.2004, Az.: S 2 RJ 62/03

bisherige Tätigkeit; bisheriger Beruf; Ermessen; Ermessensfehler; Gefährdung; Gefährdung der Erwerbsfähigkeit; Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben; LTA; selbstständig; Verweisungstätigkeit

Bibliographie

Gericht
SG Aurich
Datum
03.02.2004
Aktenzeichen
S 2 RJ 62/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50642
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit ist auf die bisherige Tätigkeit eines Versicherten abzustellen; diese ist mit dem bisherigen Beruf im Sinne des § 240 SGB VI nicht identisch. Auf Verweisungstätigkeiten kann in diesem Zusammenhang nicht zurückgegriffen werden (vgl. schon BSG, Urteil vom 11.09.1980 - Az. 1 RA 47/79 -, SozR 2200 § 1237a Nr. 16).

2. Ein Selbstständiger verliert, auch wenn er keine freiwilligen Beiträge leistet, hierdurch nicht seinen Versicherungsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung hinsichtlich der Gewährung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben.

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 14.06.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.02.2003 verurteilt, dem Kläger dem Grunde nach eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

1

Der am G geborene Kläger begehrt die Gewährung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben.

2

Der Kläger hat keine Berufsausbildung absolviert. Er arbeitete nach eigenen Angaben von 1979 bis 1995 als Gärtnereigehilfe. Dann war er von Oktober 1995 bis Oktober 1996 als Ziegeleipacker tätig. Nach einer sich anschließenden Zeit der Arbeitslosigkeit machte sich der Kläger im März 1999 selbstständig und arbeitete bis Juli 2002 als selbstständiger Schrotthändler. Während dieser Zeit entrichtete er keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung. Seit August 2002 ist der Kläger arbeitslos gemeldet, ohne Leistungen vom Arbeitsamt zu beziehen.

3

Der Kläger erlitt im Laufe des Jahres 2001 mehrfach Frakturen der linken Kniescheibe und musste deshalb insgesamt sechsmal operiert werden. Die Beklagte gewährte dem Kläger auf seinen Antrag hin deshalb vom 05.03.2002 bis 26.03.2002 eine stationäre medizinische Reha-Maßnahme im Reha-Zentrum H., Abteilung Orthopädie. Der Reha-Entlassungsbericht vom 11.04.2002 attestierte dem Kläger noch ein Leistungsvermögen für mittelschwere Arbeiten von sechs Stunden und mehr täglich.

4

Im Mai 2002 stellte der Kläger einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beim Arbeitsamt I, das die Zuständigkeit der Beklagten für gegeben hielt und den Antrag daher an diese weiterleitete. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 14.06.2002 ab und verwies zur Begründung darauf, die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei nicht erheblich gefährdet oder gemindert, da er in der Lage sei, eine zumutbare Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin auszuüben. Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte ein orthopädisches Gutachten des Facharztes für Orthopädie J in I vom 28.11.2002 ein. Dieser diagnostizierte eine posttraumatische Femoropatellararthrose links sowie ein Cervikalsyndrom und hielt den Kläger für in der Lage, hiermit noch leichte bis mittelschwere Arbeiten sechs Stunden und mehr täglich verrichten zu können. Das Leistungsvermögen des Klägers sei deutlich gemindert, seine Erwerbsfähigkeit sei als gefährdet anzusehen, so dass berufsfördernde Maßnahmen orthopädischerseits angezeigt seien. Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers gleichwohl mit Widerspruchsbescheid vom 14.02.2003 zurück. Zur Begründung verwies sie darauf, der Kläger könne zwar seine bisherige Tätigkeit als Schrotthändler nicht mehr ausüben. Nach seinem beruflichen Werdegang sei er jedoch als ungelernter Arbeiter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt gewesen und im Rahmen seines Leistungsvermögens weiterhin befähigt, andere ungelernte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufzunehmen, ohne dass es eine Anlern- oder Umschulungsmaßnahme durch den Rentenversicherungsträger bedürfe.

5

Mit seiner am 17.03.2003 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist der Auffassung, die Beklagte habe ihm eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben zu gewähren. Seine letzte Tätigkeit als Schrotthändler könne er nicht mehr ausüben. Die Tatsache der Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit stehe einer Gewährung durch die Beklagte nicht entgegen, da der Gesetzgeber durch die Rechtsänderungen zum 01.01.2001 auch Selbstständigen die Möglichkeit habe geben wollen, gleiche Leistungen wie abhängig Beschäftigte in Anspruch nehmen zu können. Dies sei auch im Rehabilitationsrecht zu beachten.

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Der Kläger beantragt,

7

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 14.06.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.02.2003 zu verurteilen, dem Kläger dem Grunde nach eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben zu gewähren.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie hält die angegriffenen Bescheide für zutreffend. Ergänzend hat sie darauf hingewiesen, bei einem Selbstständigen wie dem Kläger könne nicht von einem Reha-Fall im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung gesprochen werden. Die Aufgabe einer selbstständigen Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen falle nicht in die Risikosphäre der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Feststellung einer Minderung oder erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit (BSG, Urteil vom 11.09.1980 – Az. 1 RA 47/79, SozR 2200 § 1237a Nr. 16) sei nicht anzuwenden, da sich zwischenzeitlich die Rechtslage durch das Inkrafttreten des neuen Rentenrechts, die Einführung des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs und die Relativierung des Arbeitsvermittlungsmonopols der Bundesanstalt für Arbeit durch die Hartz-Gesetze völlig verändert habe. Im vorliegenden Falle kämen aufgrund des beruflichen Werdegangs des Klägers Rehabilitationsmaßnahmen nicht in Betracht. Hier sei die reine Arbeitsplatzvermittlung der Bundesagentur für Arbeit notwendig.

11

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist begründet.

13

Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger dem Grunde nach eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben zu gewähren.

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Nach § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) kann der Rentenversicherungsträger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (vor dem 01.07.2001: berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation) sowie ergänzende Leistungen erbringen, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.

15

Der Kläger erfüllt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI; die Wartezeit von 15 Jahren ist erfüllt. Leistungen zur Teilhabe sind auch nicht ausnahmsweise gem. §§ 12, 13 Abs. 2 SGB VI von vornherein ausgeschlossen.

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Auch die persönlichen Voraussetzungen des § 10 SGB VI liegen im Falle des Klägers vor.

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Gemäß § 10 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte für Leistungen zur Teilhabe die persönlichen Voraussetzungen erfüllt,

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deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und

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bei denen voraussichtlich

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bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann,

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bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wieder hergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann,

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bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann.

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Die Erwerbsfähigkeit des Klägers ist deutlich gemindert. Von einer geminderten Erwerbsfähigkeit ist nicht nur dann auszugehen, wenn eine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 SGB VI vorliegt, sondern bereits dann, wenn die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben nicht unwesentlich eingeschränkt und der Versicherte daher nicht mehr in der Lage ist, seinen Beruf normal auszuüben. Die Minderung hat im Gegensatz zur Gefährdung bereits zu einer Einschränkung der Erwerbsfähigkeit geführt. Die Minderung darf sich nicht nur unter den Besonderheiten des Arbeitsplatzes auswirken; es reichen allerdings gesundheitliche Beeinträchtigungen, die nicht lediglich bei der Verrichtung von Tätigkeiten auftreten, die von vornherein atypisch für den ausgeübten Beruf sind (BSG, Urteil vom 11.09.1980 – Az. 1 RA 47/79 -, SozR 2200 § 1237a Nr. 16, zitiert nach Juris). Die erhebliche Minderung oder Gefährdung der Erwerbsfähigkeit muss zudem von gewissem Gewicht und gewisser Dauer sein (BSG SozR 2200 § 1236 Nr. 31).

24

In Anwendung dieser Grundsätze kann im Falle des Klägers festgestellt werden, dass dessen Erwerbsfähigkeit durch seine orthopädischen Beschwerden deutlich und auf Dauer gemindert ist. Der im Widerspruchverfahren von der Beklagten hinzugezogene Facharzt für Orthopädie J hat in seinem Gutachten vom 28.11.2002 eine posttraumatische Femoropatellararthrose links sowie ein Cervikalsyndrom diagnostiziert. Der Kläger kann nach den überzeugenden Feststellungen des Gutachters J damit nur noch leichte bis mittelschwere Arbeiten, vorwiegend im Sitzen, jedoch mit der Möglichkeit der Streckhaltung des linken Knies, sechs Stunden und mehr täglich verrichten. Die zumutbare Gehstrecke beträgt mehr als 3000 Meter.

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Ausgehend von diesem Leistungsvermögen des Klägers ergibt sich mit Blick auf dessen letzte versicherungspflichtig ausgeübte Tätigkeit als Ziegeleipacker, aber auch als selbstständiger Schrotthändler (Ein-Mann-Unternehmen) eine deutliche Minderung der Erwerbsfähigkeit. Der Kläger ist den starken körperlichen Beanspruchungen, die eine Tätigkeit als Ziegeleipacker (aber auch als körperlich mitarbeitender selbstständiger Schrotthändler) regelmäßig mit sich bringt, nicht mehr gewachsen. Außerdem lässt sich mit sämtlichen von ihm bisher verrichteten Tätigkeiten die nunmehr erforderliche Arbeitshaltung überwiegend im Sitzen nicht vereinbaren.

26

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers kann entgegen der Auffassung der Beklagten nicht mit der Begründung verneint werden, der Kläger sei als selbstständiger Schrotthändler kein „Reha-Fall“ im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung, d. h. die Aufgabe einer selbstständigen Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen falle nicht in die Risikosphäre der gesetzlichen Rentenversicherung. Diese Argumentation findet keine Stütze im Gesetz. Der Kläger hat durch die dreijährige Ausübung einer Tätigkeit als selbstständiger Schrotthändler, ohne hierfür freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten, nicht jegliche Rechte auf Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung verloren. Er erfüllt nach wie vor die Wartezeit von 15 Jahren für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe, also z.B. auch für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Es ist gerade nicht Voraussetzung für die Gewährung von Teilhabeleistungen (ob medizinischer oder beruflicher Art), innerhalb der letzten fünf Jahre vor Eintritt der geminderten Erwerbsfähigkeit – wie bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI) – drei Jahre Pflichtbeitragszeiten für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nachweisen zu können.

27

Die festgestellte (deutliche) Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers lässt sich entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht durch eine Verweisung des Klägers auf andere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verneinen. Denn bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (z.B. Urteil vom 11.09.1980 – Az.: 1 RA 47/79 –, a.a.O., m.w.N.), der sich das Gericht anschließt, nur auf die bisherige Tätigkeit des Versicherten abzustellen. Dieser ist mit dem bisherigen Beruf im Sinne des § 240 Abs. 2 SGB VI nicht identisch. Leistungen zur Teilhabe können daher – anders als Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit – nicht mit der Begründung verweigert werden, die Erwerbsfähigkeit sei zwar für die bisherige Tätigkeit, nicht aber für Verweisungstätigkeiten im Sinne des § 240 Abs. 2 SGB VI gefährdet oder eingeschränkt (z. B. BSG, Urt. vom 11.09.1980, a.a.O; Niesel in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 10 SGB VI Rn. 3 ff m.w.N.). Abzustellen ist damit grundsätzlich auf den zuletzt ausgeübten Beruf. Im vorliegenden Falle kann offen bleiben, ob als bisheriger Beruf des Klägers dessen letzte versicherungspflichtig ausgeübte Tätigkeit als Ziegeleipacker oder die des selbstständigen Schrotthändlers anzusehen ist. Beide Tätigkeiten kommen für den Kläger mit dem dargestellten Restleistungsvermögen nicht mehr in Betracht.

28

Die auch aus anderen Verfahren bekannte Argumentation der Beklagten, der Versicherte könne noch andere zumutbare Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben, so dass seine Erwerbsfähigkeit nicht als erheblich gefährdet oder gemindert anzusehen sei, überzeugt nicht. Die dargestellte Rechtsprechung des BSG (zuletzt aus dem Jahre 1980) ist nicht durch zwischenzeitliche Rechtsänderungen überholt. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Leistung zur Teilhabe, früher berufsfördernde oder medizinische Leistung zur Rehabilitation, haben sich bis heute nicht wesentlich geändert. Persönliche Voraussetzung ist nach wie vor insbesondere eine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit, die durch die Leistung / Maßnahme voraussichtlich erhalten, wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann. Ein Rückgriff auf die Verweisbarkeit eines Versicherten bei Leistungen zur Teilhabe würde im Ergebnis auch zu einer unverhältnismäßig starken Einschränkung der Leistungspflicht der Rentenversicherungsträger führen, die vom Gesetzgeber so nicht vorgesehen worden ist. Denn ein großer Teil der gesetzlich Rentenversicherten hätte dann von vornherein keinerlei Ansprüche auf Leistungen zur Teilhabe durch die gesetzliche Rentenversicherung, da alle ungelernten Arbeiter und jedenfalls auch alle angelernten Arbeiter mit einer Einarbeitungs- oder Anlernphase bis zu einem Jahr nach dem zum Erwerbsminderungsrecht entwickelten Mehrstufenschema, das die Beklagte auf die Leistungen zur Teilhabe übertragen will, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sind. Abgesehen davon bestehen auch für die meisten Angelernten im oberen Bereich und viele Facharbeiter vielfältige Verweisungsmöglichkeiten, so dass auch für sie nur in sehr eingeschränktem Umfang eine Leistungspflicht der Beklagten für Leistungen zur Teilhabe bestünde. Da die persönlichen Voraussetzungen für berufsfördernde und medizinische Leistungen zur Teilhabe zudem gleich sind, käme damit auch die Gewährung von medizinischen Leistungen zur Rehabilitation durch die Beklagte in weiten Bereichen nicht mehr in Betracht. Eine so weitreichende Einschränkung der Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers widerspricht zur Überzeugung des Gerichts dem Sinn und Zweck der Regelungen der Leistungen zur Teilhabe (und wird von der Beklagten bei medizinischen Reha-Maßnahmen offenbar auch nicht erwogen).

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Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang auf die Gesetzesbegründung zu § 10 Nr. 2 Buchst. c des Rentenreformgesetzes 1999 (RRG 1999, BT-Drs. 13/8011) verweist, zeigt gerade diese Gesetzesbegründung, dass die Leistungspflicht der gesetzlichen Rentenversicherung nicht eingeschränkt, sondern erweitert werden sollte. Diese ursprüngliche Gesetzesbegründung zur Einführung von § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c SGB VI verweist ausdrücklich darauf, dass Leistungen zur Rehabilitation aufgrund dieser Ergänzung nunmehr auch dann erbracht werden können, wenn bei leistungsgeminderten Versicherten, bei denen aufgrund der Neuordnung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit davon auszugehen ist, dass sie noch einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen können, zwar eine die Rentenzahlung vermeidende wesentliche Besserung ihrer Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur Rehabilitation nicht zu erwarten ist, durch Leistungen zur Rehabilitation jedoch der bisherige, ggf. zu einem Teilzeitarbeitsplatz umgestellte Arbeitsplatz erhalten oder ein neuer Arbeitsplatz bei demselben oder einem anderen Arbeitgeber erlangt werden kann. Zu diesem Zweck sollen ausweislich der Gesetzesbegründung – dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entsprechend – vorrangig mit Arbeitgebern und allen an der Arbeitsvermittlung Beteiligten, die für die Eingliederung oder Wiedereingliederung in das Erwerbsleben, insbesondere für eine Teilzeitbeschäftigung, notwendigen Leistungsmöglichkeiten festgestellt werden; vor Leistungen zur Ausbildung und Weiterbildung sollen vorrangig Eingliederungshilfen geleistet werden. Keineswegs ist dieser Gesetzesbegründung aber zu entnehmen, dass sich die Rentenversicherung nunmehr auf das Ziel der Erhaltung des Arbeitsplatzes beschränken soll. Vielmehr blieben durch die Einführung des § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe c SGB VI zum 01.01.2001 durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (BGBl. I, S. 1827 ff.) dessen erstgenannte Alternativen, d. h. die Buchstaben a und b, inhaltlich unverändert. Die Rentenversicherungsträger sind also (wenn die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind) weiterhin bei einer deutlichen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe zuständig.

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Die deutlich geminderte Erwerbsfähigkeit des Klägers kann auch durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben voraussichtlich wesentlich gebessert werden. Wesentliche Besserung bedeutet, dass die Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zumindest teilweise und nicht nur vorübergehend behoben werden kann. Die Leistung zur Teilhabe muss unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles im Hinblick auf die beabsichtigte Erhaltung bzw. Besserung der Erwerbsfähigkeit erfolgversprechend sein. Der Kläger ist derzeit arbeitslos. In seinen bisher ausgeübten Berufen als Gärtnereigehilfe, als Ziegeleipacker und auch als Schrotthändler (ob selbstständig oder angestellt) kann er nicht mehr tätig sein. Durch eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben – insbesondere etwa durch eine Eingliederungshilfe – kann die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers zur Überzeugung des Gerichts wesentlich gebessert werden. Der Kläger ist zur Überzeugung des Gerichts aufgrund seiner Vorbildung und der dargestellten gesundheitlichen Einschränkungen in seiner Leistungsfähigkeit so gemindert, dass es zur Überzeugung des Gerichts einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben dringend bedarf, um den Kläger überhaupt wieder in das Erwerbsleben eingliedern zu können.

31

Schließlich ist auch das gemäß § 9 Abs. 2 SGB VI der Beklagten eingeräumte Ermessen zur Erbringung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zur Überzeugung des Gerichts soweit reduziert, dass dem Grunde nach eine derartige Leistung zu bewilligen ist.

32

Die Entscheidung der Frage, ob dem Kläger Leistungen zur Teilhabe zu gewähren sind (sog. Eingangsprüfung), steht nicht im Ermessen der Beklagten, sondern ist lediglich davon abhängig, ob die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen des § 10 SGB VI (persönliche Voraussetzungen) und des § 11 SGB VI (versicherungsrechtliche Voraussetzungen) vorliegen und kein Leistungsausschluss (§§ 12, 13 Abs. 2 SGB VI) gegeben ist. Die Formulierung des § 9 Abs. 2 SGB VI („können erbracht werden“) steht dem nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urt. v. 23.02.2000 – Az. B 5 RJ 8/99 R -, SozR 3 – 2600 § 10 Nr. 2 m.w.N.) nicht entgegen. Dieser Rechtsprechung zufolge, der sich das Gericht ausdrücklich anschließt, steht nur die in einem zweiten Schritt zu treffende Entscheidung, wie die Rehabilitation (jetzt Leistung zur Teilhabe) nach Art, Dauer, Umfang und Begründung durchzuführen ist, d.h. welche Leistungen in Betracht kommen, im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten.

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Bei der im ersten Schritt notwendigen Eingangsprüfung („Ob“ der Reha) hat die Beklagte demnach lediglich zu prüfen, ob im konkreten Falle eine Wiedereingliederungschance (Reha-Bedarf) besteht und ob es Mittel gibt, den in ihre Zuständigkeit fallenden Reha-Zweck zu fördern. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, begründet dies für den Rentenversicherungsträger die verfahrensrechtliche Pflicht, nach pflichtgemäßem Ermessen in den Grenzen seiner Aufgaben als Träger der Leistungen zur Teilhabe zu entscheiden, ob die beantragte Leistung nach den Umständen des Einzelfalles geeignet, erforderlich, zumutbar, wirtschaftlich und sparsam ist, die im Einzelfall bestehende Rehabilitationschance zu nutzen (z.B. BSG, Urt. v. 14.12.1994 - Az.: 4 RA 42/94 -, SozR 3-1200 § 39 Nr. 1). Wenn es derartige Mittel gibt, wird das (anschließend auszuübende) Ermessen der Beklagten faktisch regelmäßig auch insoweit reduziert sein, dass eine der geeigneten Maßnahmen (oder eine Kombination davon) zu bewilligen sein wird (so BSG, Urt. vom 15.12.1994 – Az. 4 RA 44/93 -, SozR 3-5765 § 10 Nr. 3). Eine Betätigung des Handlungsermessens mit dem Ergebnis der Ablehnung des Rehabilitationsantrages ist daher grundsätzlich nur rechtmäßig, wenn es im Aufgabenbereich des Rentenversicherungsträgers keine Rehabilitationschance gibt oder keine im Einzelfall geeignete, erforderliche und dem Versicherten zumutbare Leistung in Betracht kommt (BSG, Urt. v. 16.11.1993, Az. 4 RA 22/93, und Urt. v. 15.12.1994 – Az. 4 RA 44/93, SozR 3-5765 § 10 Nr. 1 und 3).

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Ausgehend hiervon sind die in der Eingangsprüfung zu berücksichtigenden Voraussetzungen (das „Ob“) der Leistungen zur Teilhabe im vorliegenden Falle – wie bereits dargestellt – erfüllt, da der Kläger die begehrte Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben wirksam beantragt hat, er die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der §§ 10, 11 SGB VI erfüllt sowie gesetzliche Leistungsausschlussgründe nicht bestehen. Zu Unrecht hat die Beklagte insbesondere die persönlichen Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 SGB VI im Falle des Klägers in den angegriffenen Bescheiden verneint. Aber auch das sich damit anschließende Handlungsermessen der Beklagten ist zur Überzeugung des Gerichts soweit reduziert, dass dem Kläger dem Grunde nach eine Leistung zur Teilhabe zu bewilligen ist.

35

Der Kläger hat bisher keine konkrete Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben bezeichnet; sein Begehren ist ersichtlich nur darauf gerichtet, überhaupt durch eine Teilhabe-Leistung der Beklagten die Chance zu erhalten, wieder in das Arbeitsleben integriert zu werden. Im vorliegenden Falle wird angesichts des beruflichen Werdegangs des Klägers voraussichtlich keine komplette Umschulungsmaßnahme in Betracht kommen, sondern eher eine Eingliederungshilfe. Sofern die Beklagte unter Berücksichtigung der Grundsätze der Erforderlichkeit, Zumutbarkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit weiterhin Bedenken haben sollte, welche Leistung zur Teilhabe für den Kläger in Betracht kommt, könnte auch zunächst eine Arbeitserprobung durchgeführt werden, um festzustellen, welche Leistung für den Kläger in Frage kommt. Da eine Betätigung des Handlungsermessens der Beklagten im Sinne einer Ablehnung des klägerischen Antrags jedoch nur rechtmäßig sein könnte, wenn es im Aufgabenbereich der Beklagten keine Teilhabe-Chance gäbe oder keine im Einzelfall geeignete, erforderliche und dem Versicherten zumutbare Leistung in Betracht käme, was für den Kläger jedoch ersichtlich nicht zutrifft, war die Beklagte antragsgemäß zu verurteilen.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.

Sonstiger Langtext

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Rechtsmittelbelehrung

38

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.

39

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Str. 1, 29223 Celle oder bei der Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, Contrescarpe 32, 28203 Bremen, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

40

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem Sozialgericht Aurich, Kirchstr. 15, 26603 Aurich, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

41

Die Berufungsschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

42

Auf Antrag kann vom Sozialgericht durch Beschluss die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen werden, wenn der Gegner schriftlich zustimmt. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Aurich, Kirchstr. 15, 26603 Aurich schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen.

43

Ist das Urteil im Ausland zuzustellen, so gilt anstelle der oben genannten Monatsfristen eine Frist von drei Monaten.

44

Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.

45

Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.