Sozialgericht Aurich
Urt. v. 16.07.2004, Az.: S 14 SB 31/04
Ausstellung eines Beiblattes mit unentgeltlicher (kostenfreier) Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr; Berücksichtigung der Grundsätze zur Bedarfsgemeinschaft des Grundsicherungsgesetzes; Rechtsanspruch auf Hilfe nach Maßgabe seines individuellen sozialrechtlichen Bedarfs und des von ihm einzusetzenden Einkommens und Vermögens
Bibliographie
- Gericht
- SG Aurich
- Datum
- 16.07.2004
- Aktenzeichen
- S 14 SB 31/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 37434
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGAURIC:2004:0716.S14SB31.04.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- LSG Niedersachsen-Bremen - 07.09.2006 - AZ: L 13 SB 53/04
- BSG - 17.07.2008 - AZ: B 9/9a SB 11/06 R
Rechtsgrundlagen
- § 69 Abs. 5 SGB IX
- § 145 Abs. 1 S. 1 SGB IX
- § 2 Abs. 1 S. 1, 2 GSiG
In dem Rechtsstreit
...
hat das Sozialgericht Aurich - 14. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juli 2004
durch
die Richterin am Sozialgericht D. - Vorsitzende - sowie
die ehrenamtlichen Richter E.
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Ausstellung eines Beiblattes mit unentgeltlicher (kostenfreier) Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr.
Für den im Jahre 1932 geborenen Kläger ist mit Bescheid des Versorgungsamtes (VA) F. vom 16.02.1999 ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 ab dem 15.01.1998 festgestellt worden. Zugleich wurden die Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) und "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) anerkannt.
Im Dezember 2003 beantragte der Kläger, der für die Jahre 2002 und 2003 jeweils ein Beiblatt zum Schwerbehindertenausweis mit kostenloser Wertmarke vom Beklagten erhalten hatte, beim VA F. für den Zeitraum ab Januar 2004 erneut ein Beiblatt mit kostenloser Wertmarke, da er für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz erhalte. Den an ihn gerichteten Bescheid des Landkreises G. vom 05.11.2003 fügte er bei.
Das VA F. zog Horizontalberechnungen der Grundsicherungsleistungen für den Kläger und seine Ehefrau H. sowie eine Horizontalberechnung der Hilfe zum Lebensunterhalt für die Eheleute bei. Es lehnte den Antrag des Klägers dann mit Bescheid vom 16.01.2004 ab. Das VA verwies hierbei darauf, dass gemäß § 145 Abs. 1 Satz 3 und Satz 5 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) ein Beiblatt mit unentgeltlicher Wertmarke u.a. an Inhaber eines Schwerbehindertenausweises mit halbseitigem orangefarbenem Flächenaufdruck (Freifahrtausweis) ausgegeben werde, die Arbeitslosenhilfe oder für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG), dem Achten Buch Sozialgesetzbuch oder nach den §§ 27a und 27d des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erhalten. Beim Bezug von laufenden Leistungen zur Grundsicherung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 des Grundsicherungsgesetzes (GSiG) sei diese Regelung analog anzuwenden. Schwerbehinderten Menschen, die für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem BSHG oder dem GSiG erhalten, sei das Beiblatt aber nur dann mit einer kostenlosen Wertmarke auszustellen, wenn der Anspruch nach dem BSHG / GSiG allein aufgrund der Höhe ihres eigenen Einkommens / Vermögens begründet sei (originärer Anspruch). Der Kläger gehöre zu keiner der genannten Personengruppen.
Der Kläger erhob hiergegen fristgerecht Widerspruch mit der Begründung, er erhalte neben seiner Altersrente Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz; seine Ehefrau habe kein eigenes Einkommen. Seine Altersrente stehe nicht ihm allein zur Verfügung, sondern sichere mit der Grundsicherungsleistung ihren gemeinsamen Lebensunterhalt. Das Landesversorgungsamt des Beklagten wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 13.02.2004 zurück und verwies in der Begründung darauf, dass laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nur dem zu gewähren sei, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem eigenen Einkommen und Vermögen, beschaffen könne. Zur Prüfung dieser Voraussetzungen bildeten nicht getrennt lebende Ehegatten insofern eine Bedarfsgemeinschaft, als nach den Vorschriften des BSHG das Einkommen und Vermögen beider Ehegatten zu berücksichtigen sei. Nach den vorliegenden Bescheiden des Landkreises Aurich errechne sich jedoch für den Kläger selbst kein Zahlbetrag an laufender Hilfe zum Lebensunterhalt, da seine Renteneinkünfte seinen Bedarf überstiegen. Er habe demnach keinen eigenen (originären) Anspruch auf die Zahlung von Hilfe zum Lebensunterhalt, sondern diese werde nur aufgrund der Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau gewährt. Die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Beiblattes mit unentgeltlicher Wertmarke lägen daher nicht vor.
Mit seiner hiergegen am 19.02.2004 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er hat in der mündlichen Verhandlung betont, dass ihm aufgrund der beengten finanziellen Verhältnisse der Erwerb einer entgeltlichen Wertmarke zur Beförderung im öffentlichen Personenverkehr nicht möglich sei. Seine Ehefrau, die das Beiblatt mit unentgeltlicher Wertmarke aufgrund ihrer gesundheitlichen Verhältnisse (und mangels eigener Einkünfte) erhalten könne, sei nicht mehr in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Ihm dagegen werde diese letzte Möglichkeit nunmehr genommen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
- 1.
den Bescheid des Versorgungsamtes Oldenburg vom 16.01.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes vom 13.02.2004 aufzuheben,
- 2.
den Beklagten zu verpflichten, ihm ein Beiblatt mit unentgeltlicher Wertmarke auszustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält die angefochtenen Bescheide für zutreffend. In der mündlichen Verhandlung hat er auf Nachfrage mitgeteilt, dass aufgrund einer geänderten Verwaltungspraxis nunmehr auf den originären Anspruch des Hilfeempfängers abgestellt werde. Die Notwendigkeit hierzu ergebe sich aus dem Gesetz.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist nicht begründet.
Der Bescheid vom 16.01.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2004 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Ausstellung eines Beiblattes mit unentgeltlicher Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr. Die Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich befördert. Voraussetzung hierfür ist, dass der Ausweis mit einer gültigen Wertmarke versehen ist, die gegen Entrichtung eines Betrages von 60 EUR für ein Jahr oder 30 EUR für ein halbes Jahr ausgegeben wird (§ 145 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB IX). Nach Abs. 1 Satz 5 der Vorschrift wird auf Antrag eine für ein Jahr gültige Wertmarke, ohne dass der Betrag nach § 145 Abs. 1 Satz 3 SGB IX zu entrichten ist, an schwerbehinderte Menschen unter bestimmten Voraussetzungen ausgegeben. Dazu zählen gemäß § 145 Abs. 1 Satz 5 Nr. 2 SGB IX in der Fassung ab dem 01.05.2004 (BGBl. I Seite 606) u.a. die schwerbehinderten Menschen, die Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz oder Arbeitslosenhilfe oder für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem BSHG, dem Achten Buch des Sozialgesetzbuches oder den §§ 27a und 27d BVG erhalten. Zu diesem Personenkreis gehört der Kläger jedoch nicht. Er erhält insbesondere selbst keine Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz.
Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 GSiG haben Antragsberechtigte Anspruch auf Leistungen der beitragsunabhängigen, bedarfsorientierten Grundsicherung, soweit sie ihren Lebensunterhalt nicht aus ihrem Einkommen und Vermögen beschaffen können. Dabei sind Einkommen und Vermögen des nicht getrennt lebenden Ehegatten und des Partners einer eheähnlichen Gemeinschaft, die den Bedarf und die Grenzen des § 3 GSiG übersteigen, zu berücksichtigen. Der Kläger, der das 65. Lebensjahr vollendet hat, sowie seine Ehefrau, die erwerbsunfähig ist, zählen zu den Antragsberechtigten gemäß § 1 GSiG. Nach dem vorliegenden Bescheid des Grundsicherungsamtes des Landkreises Aurich vom 05.11.2003 einschließlich der vom Beklagten hinzugezogenen Bedarfsberechnung und der Horizontalberechnung hat der Kläger aber selbst keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Sinne der §§ 2 und 3 GSiG; er kann vielmehr seinen eigenen Lebensunterhalt aus seinem eigenen Einkommen bestreiten. Denn aus den vorliegenden Berechnungsbögen geht eindeutig hervor, dass das monatliche Einkommen des Klägers (Altersruhegeld) in Höhe von zuletzt 641,06 EUR den auf den Kläger entfallenden Bedarfssatz (Regelbedarf mit 15% Erhöhung, Mehrbedarf wegen Gehbehinderung, Mietanteil sowie Heizkostenanteil) in Höhe von insgesamt 534,63 EUR übersteigt und ihm deshalb selbst keine laufenden Grundsicherungsleistungen zustehen.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Kläger mit seiner Ehefrau einen gemeinsamen Haushalt führt und das Ehepaar als "Bedarfsgemeinschaft" im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 GSiG Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz in Höhe von derzeit monatlich 358,18 EUR erhält. Zwar wird bei einer "Bedarfsgemeinschaft" im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 GSiG - ebenso wie bei der "Bedarfsgemeinschaft" im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG im Sozialhilferecht, an die die Regelung angelehnt ist - das Einkommen und Vermögen beider Ehegatten berücksichtigt. Gleichwohl hat jeder einzelne Hilfesuchende einen eigenen Rechtsanspruch auf Hilfe nach Maßgabe seines individuellen sozialrechtlichen Bedarfs und des von ihm einzusetzenden Einkommens und Vermögens (ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum BSHG, vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 22.10.1992 - Az.: 5 C 65/88, und Urteil vom 15.12.1977 - Az.: V C 35.77, zitiert nach [...], jeweils m.w.N.). Als sozialhilfeberechtigt ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Sozialhilferecht nicht die Bedarfsgemeinschaft mehrerer sozialhilfebedürftiger Personen anzusehen. Vielmehr hat nach § 11 Abs. 1 BSHG jeder einzelne Hilfesuchende einen eigenen Anspruch auf Hilfe. Daran ändert sich auch nichts, wenn eine Familie hilfebedürftig ist (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 22.10.1992, Az.: 5 C 67/88, a.a.O., m.w.N.). Im Zusammenschluss von miteinander in einem Haushalt zusammenlebenden Familienangehörigen zeigt sich als Erfahrung des täglichen Lebens, dass die eng miteinander Lebenden "aus einem Topf wirtschaften". Deshalb ist es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zwar geboten, auch in gewissem Umfang die Mittel zusammenzufassen, die einzelnen Mitgliedern der Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft zufließen. Eine solche Zusammenfassung lässt aber die rechtliche Selbständigkeit des individuellen Hilfeanspruchs eines jeden Familienangehörigen und die ihr entsprechende Selbständigkeit der jeweiligen Leistungsbeziehung unberührt (BVerwG, a.a.O.).
Dies ist auf das Grundsicherungsrecht zu übertragen. Denn das Grundsicherungsgesetz ist dem Bundessozialhilfegesetz nachgebildet. Änderungen ergeben sich zwar insbesondere bzgl. des erhöhten Bedarfs und bzgl. der nur in Ausnahmefällen möglichen Heranziehung von Kindern und Eltern zu Unterhaltsleistungen (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 3 GSiG). Die Regelung des § 2 Abs. 1 Satz 2 GSiG entspricht bzgl. des Prinzips der Bedarfsgemeinschaft aber der sozialhilferechtlichen Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG; und auch im Grundsicherungsrecht gewährt § 2 Abs. 1 Satz 1 GSiG einen eigenen Anspruch auf Leistungen der beitragsunabhängigen Grundsicherung nur demjenigen, soweit er seinen Lebensunterhalt nicht aus seinem Einkommen und Vermögen beschaffen kann. Es bestehen also auch hier rechtlich selbstständige Hilfeansprüche der einzelnen Familienangehörigen. Ausgehend hiervon besteht kein Anspruch des Klägers auf Ausstellung eines Beiblattes mit unentgeltlicher Wertmarke gemäß § 145 Abs.1 Satz 5 Nr. 2 SGB IX, da ihm selbst kein eigener Anspruch auf Leistungen nach dem GSiG zusteht.
Das Gericht verkennt hierbei nicht, dass es für den Kläger aufgrund der Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau außerordentlich schwierig sein dürfte, den Betrag von 60 EUR für ein Jahr oder 30 EUR für ein halbes Jahr für die entgeltliche Wertmarke zur Beförderung im öffentlichen Personenverkehr aufzubringen. Auch die Tatsache, dass der Beklagte dem Kläger zweimal ein Beiblatt mit unentgeltlicher Wertmarke ausgestellt hatte, vermag der Klage allerdings nicht zum Erfolg zu verhelfen. Denn die unentgeltliche Wertmarke wird jeweils nur für ein Jahr ausgegeben (§ 145 Abs. 1 Satz 5 SGB IX), so dass dem Kläger kein Vertrauensschutz wie bei der Aufhebung von Dauerverwaltungsakten (§§ 45, 48 SGB X) zugute kommt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Die Berufung wurde zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX). Denn auch wenn "nur" die Erlangung einer unentgeltlichen Wertmarke für ein Jahr im Wert von 60 EUR im Streit ist, beruht die Versagung des Beiblattes mit unentgeltlicher Wertmarke gegenüber dem Kläger auf einer geänderten Verwaltungspraxis des Beklagten, die auch zahlreiche andere bisherige Inhaber unentgeltlicher Wertmarken betrifft.
Rechtsmittelbelehrung
Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.