Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 24.10.2018, Az.: L 7 SF 1/18 B (KG)

Ansprüche auf Kindergeld nach dem EStG; Aufhebung eines Verweisungsbeschlusses; Grundsätzlicher Ausschluss einer Weiterverweisung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
24.10.2018
Aktenzeichen
L 7 SF 1/18 B (KG)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 50280
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - 24.05.2018 - AZ: S 26 BK 5/18

Amtlicher Leitsatz

Eine äußerst unsorgfältige richterliche Arbeit (hier: Verweisung einer finanzgerichtlichen Streitigkeit durch das Verwaltungsgericht an das Sozialgericht) ist für sich allein nicht geeignet, die Bindungswirkung des § 17a Abs. 2 S. 3 GVG auszuhebeln. Erforderlich ist vielmehr eine willkürliche Vorgehensweise, die den Verweisungsbeschluss als offensichtlich unhaltbar und abwegig erscheinen lassen und unter keinen Umständen zu rechtfertigen ist.

Redaktioneller Leitsatz

1. Eine äußerst unsorgfältige richterliche Arbeit allein kann nicht die gesetzlich zwingend vorgeschriebene Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses durchbrechen.

2. Eine Weiterverweisung ist ausgeschlossen, wenn die offenbare Unrichtigkeit des Verweisungsbeschlusses auf einem Subsumtionsirrtum des verweisenden Gerichts oder einer fehlerhaften Auslegung der maßgeblichen Rechtswegnormen beruht.

3. Für eine Aufhebung ist vielmehr erforderlich, dass sich das Verweisungsgericht durch willkürliche und unsachliche Erwägungen hat leiten lassen.

Tenor:

Der Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts Stade vom 24. Mai 2018 wird aufgehoben.

Gründe

I.

Der Rechtsstreit betrifft Ansprüche auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG). Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob ein bewilligtes Kindergeld für die zwei Kinder B. und C. ab Juni 2015 an den Kläger oder an seine getrenntlebende Ehefrau auszuzahlen ist.

Mit der beim Verwaltungsgericht Hannover eingereichten Klagschrift vom 28. Dezember 2017 hat der Kläger einen entsprechenden Auszahlungsantrag gegen die Beklagte gestellt. Nach seiner Ansicht sei das Verwaltungsgericht zuständig, weil kein Bescheid angefochten werde und es sich bei der Auszahlung nicht um einen reinen Verwaltungsakt handele. Der Klageschrift beigefügt waren u.a. der Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 24. April 2015 mit der Überschrift: "Bescheid über Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG)", weitere Korrespondenz der Beklagten an den Kläger mit der Betreffzeile: "Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG)" sowie zwei Einspruchsentscheidungen der Beklagten vom 18. August 2015 und vom 17. November 2015.

Der Vorsitzende der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover verfügte am 29. Dezember 2017 den Hinweis an die Beteiligten, dass für die Klage gemäß § 15 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) der Rechtsweg zum Sozialgericht eröffnet sei und beabsichtigt werde, das Verfahren an das zuständige Sozialgericht Stade zu verweisen. Die Beteiligten erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen. Wann diese Verfügung ausgeführt wurde, ist der Akte nicht zu entnehmen.

Der Kläger teilte mit Schreiben vom 23. Januar 2018 mit, dass es sich nicht um eine Streitigkeit nach dem BKGG handele, weil nur über die verwaltungstechnische Angelegenheit der Auszahlung einer bewilligten Leistung zu entscheiden sei. Die Klagschrift und die Verfügung des Kammervorsitzenden sind ausweislich des Empfangsbekenntnisses der Beklagten am 16. Januar 2018 zugestellt worden. Mit Schriftsatz vom 22. Januar 2018 hat die Beklagte dem Verwaltungsgericht widersprochen, dass das Sozialgericht zuständig sein solle. Der Kläger begehre Leistungen nach dem Einkommensteuergesetz. Der Verwaltungsrechtsweg sei für einen solchen Rechtsstreit nicht gegeben. Zuständig für Verfahren in Kindergeldangelegenheiten nach dem Einkommensteuergesetz sei das für den Wohnsitz des Klägers zuständige Finanzgericht. Der Rechtsstreit sei daher an das Niedersächsische Finanzgericht Hannover zu verweisen.

Ohne die Stellungnahme der Beklagten abzuwarten hat die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover mit Beschluss vom 16. Januar 2018 unter Bezugnahme auf § 15 BKGG beschlossen, dass der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten unzulässig sei und der Rechtsstreit an das Sozialgericht Stade verwiesen werde.

Das Sozialgericht Stade hat nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 24. Mai 2018 entschieden, dass der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit unzulässig sei und den Rechtsstreit an das zuständige Niedersächsische Finanzgericht weiter verwiesen. In den Gründen hat das Sozialgericht ausgeführt, dass der Verweisungsbeschluss des Verwaltungsgerichts Hannover keine Bindungswirkung entfalte, da er jeglicher rechtlichen Grundlage entbehre. Gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stade hat der Kläger am 15. Juni 2018 Beschwerde eingelegt und beantragt, den Beschluss aufzuheben und das Verfahren fortzusetzen, hilfsweise die Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht. Die Beklagte hält die Beschwerde für unbegründet.

II.

Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet und führt zur Aufhebung des Verweisungsbeschlusses des Sozialgerichts Stade vom 24. Mai 2018.

Originär war der Rechtsweg zu den Finanzgerichten gegeben (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 Finanzgerichtsordnung). Denn das Kindergeld nach dem EStG dient der steuerlichen Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung und wird als Steuervergütung gezahlt (§ 31 EStG). Bei der Bearbeitung von Angelegenheiten über Kindergeld nach §§ 62 - 78 EStG sind die Familienkassen der Bundesagentur für Arbeit gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 6 Abgabenordnung (AO) Finanzbehörden. Gleichwohl ergibt sich die Zuständigkeit des Sozialgerichts Stade zur Entscheidung über diesen Rechtsstreit aus der Bindungswirkung des (insoweit fehlerhaften) Verweisungsbeschlusses des Verwaltungsgerichts Hannover vom 16. Januar 2018 (Aktenzeichen: 3 A 12819/17).

Gemäß § 17a Abs. 2 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) spricht das Gericht für den Fall, dass der beschrittene Rechtsweg unzulässig ist, dies nach Anhörung der Parteien von Amts wegen aus und verweist den Rechtsstreit zugleich an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtsweges. Dieser Beschluss ist für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtsweges bindend (§ 17a Abs. 2 Satz 3 GVG). Mit dieser Regelung will der Gesetzgeber zum Schutze einer funktionierenden Rechtspflege Rechtswegstreitigkeiten abkürzen und damit für alle Beteiligten Rechtssicherheit schaffen. Das Gericht, an das gemäß § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG verwiesen wird, kann die Sache, auch wenn es anderer Auffassung ist als das verweisende Gericht, nicht an dieses zurückverweisen und auch nicht, wenn es einen anderen weiteren Rechtsweg als den, zu dem es gehört, für zulässig ansieht, in diesem weiteren Rechtsweg weiter verweisen. Die Bindungswirkung tritt grundsätzlich auch bei einem fehlerhaften Verweisungsbeschluss ein, weil die Verweisung sachlich ungerechtfertigt war, das verweisende Gericht also zu Unrecht den beschrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und deswegen die Verweisung an den anderen Gerichtszweig ausgesprochen hat oder wenn die Verweisung auf einem Verfahrensfehler beruht (Bundesgerichtshof -BGH-, Urteil vom 2. Mai 1955 - 1 ARZ 2013/55; zuletzt Bundesverwaltungsgericht -BVerwG-, Beschluss vom 15. Oktober 2013 - 1 WB 46/12 -).

Nur in außergewöhnlichen Ausnahmefällen kann die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses für das Adressatgericht entfallen. Das wird z.B. angenommen, wenn der Verweisungsbeschluss mit den Grundprinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung im Widerspruch steht, wenn er auf Willkür des verweisenden Gerichts beruht (BGH, Urteil vom 13. Februar 1980 - 3 StR 5/80 -) oder bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständig erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 1970 - 2 BvR 48/70 -), ferner wenn der Verweisungsbeschluss unter Verletzung des in Artikel 103 Abs. 1 Grundgesetz verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör ergangen ist (Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 17. Februar 1971 - 5 AR 376/70 -). Diese Ausnahmevoraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

Die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover hat jede richterliche Sorgfalt außer Acht gelassen, die ein Spruchkörper im Hinblick auf die Bindungswirkung dieser Art von Beschlüssen zu beachten hatte. Das Verwaltungsgericht hat nämlich ohne nähere rechtliche Prüfung und ohne Ansehen der Akten lediglich § 15 BKGG zur Kenntnis genommen, welcher für Streitigkeiten nach dem BKGG die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit als zuständig bestimmt. Das Verwaltungsgericht hat aber übersehen, dass das Bundeskindergeldgesetz nur Anwendung findet, wenn Kindergeld, welches grundsätzlich den Eltern als Familienleistung für die Mehraufwendungen der Kindererziehung zusteht, ausnahmsweise von den Kindern selbst beansprucht werden kann, weil das Kind sich in Deutschland aufhält, die Eltern aber keinen steuerrechtlichen Wohnsitz in Deutschland haben, oder Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BKGG). Für alle anderen 99,99% der Fälle richtet sich der Anspruch der Eltern auf Kindergeld nach § 62 ff. EStG. Darüber hinaus hätte das Verwaltungsgericht auch selbst auf die streitige Leistungsart kommen können, wenn der dreiköpfige Spruchkörper vor der Unterschrift in die Akte geschaut hätte. Aus der vom Kläger eingereichten Korrespondenz mit der Beklagten geht nämlich in der Betreffzeile, redaktionell durch Fettschrift hervorgehoben, hervor, dass Streitgegenstand ein Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG und nicht nach dem BKGG ist. Ferner zeigen die eingereichten Einspruchsentscheidungen, dass der Rechtsweg zu den Finanzgerichten gegeben sein muss, weil die Sozialgerichte sich mit Widerspruchsbescheiden beschäftigen (§ 85 Abs. 3, § 95 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sofern die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover bei der Beurteilung von gerichtsfremden Rechtsfragen überfordert ist, hätte es zumindest die angeforderte Stellungnahme der Beklagten abwarten müssen, die schon deshalb den richtigen Rechtsweg kennt, weil sie diesen in ihren Rechtsmittelbelehrungen angeben muss. Es mag sein, dass die Unterscheidung zwischen dem sozialrechtlichen und dem finanzrechtlichen Kindergeld nicht jedem Bürger geläufig ist. Sie müsste aber bei einem richterlichen Gremium als bekannt vorausgesetzt werden. Es muss zumindest von einem dreiköpfigen Richtergremium erwarten werden, welchem die Bindungswirkung seiner Entscheidung im Falle einer Rechtswegverweisung bewusst ist, dass es nicht von einer inhaltlichen Prüfung absieht, nur weil der Kammervorsitzende das BKGG überflogen hat.

Allerdings hat der Senat zu berücksichtigen, dass eine äußerst unsorgfältige richterliche Arbeit allein nicht die gesetzlich zwingend vorgeschriebene Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses durchbrechen kann. Es ist allgemein anerkannt, dass eine Weiterverweisung ausgeschlossen ist, wenn die offenbare Unrichtigkeit des Verweisungsbeschlusses auf einem Subsumtionsirrtum des verweisenden Gerichts oder einer fehlerhaften Auslegung der maßgeblichen Rechtswegnormen beruht (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 30. Juli 1970 - 2 BvR 48/70 -). Erforderlich ist vielmehr, dass sich das Verweisungsgericht durch willkürliche und unsachliche Erwägungen hat leiten lassen. Dies kann vorliegend nicht festgestellt werden. Von Willkür kann nur dann die Rede sein, wenn sich die Entscheidung eines Gerichts bei der Auslegung und Anwendung einer Zuständigkeitsnorm soweit von dem sie beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass sie nicht mehr zu rechtfertigen ist. Richterliche Inkompetenz ist aber nicht einem willkürlichen Vorgehen gleichzusetzen. Das gilt auch, obwohl das Verwaltungsgericht den Verweisungsbeschluss unter Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beklagten erlassen hat. Wenn das Verwaltungsgericht bei Erlass des Beschlusses einfach übersehen hat, dass noch kein Empfangsbekenntnis der Beklagten aktenkundig war und erst recht keine Stellungnahme vorlag, so würdigt der Senat diesen weiteren Umstand als exemplarisch für die oberflächliche Bearbeitung durch das Verwaltungsgericht. Ein willkürliches Vorgehen, um der Beklagten den gesetzlichen Richter zu entziehen, ist darin jedoch nicht zu sehen.

Der erkennende Senat verkennt insbesondere nicht, dass eine offenbar unrichtige und voreilige Entscheidung - wie die vorliegende vom Verwaltungsgericht Hannover - geeignet ist, die Justiz in Misskredit zu bringen, zudem das Niedersächsische Finanzgericht wahrscheinlich keine Einwände erheben würde, den zur Finanzgerichtsbarkeit gehörenden Rechtsstreit zu entscheiden. Diese Erwägungen sind jedoch nicht geeignet, die gesetzgeberischen Entscheidungen in § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG auszuhebeln. Jedenfalls kann der Kläger versichert sein, dass er mit seinem Begehren beim Sozialgericht Stade bestens aufgehoben sein wird. Das Adressatgericht hat nämlich die volle Rechtsschutzfunktion wie das originär zuständige Gericht zu übernehmen, das einschlägige materielle Recht anzuwenden und wenn ihm mehrere Prozessordnungen zur Verfügung stehen, in derjenigen Verfahrensart zu entscheiden, die am meisten dem Rechtsschutzbegehren des Klägers entspricht (BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1967 - 4 C 216.65 -). Beide Beteiligten können sich schließlich darauf verlassen, dass die beim Sozialgericht Stade für Ansprüche auf das sozialrechtliche Kindergeld zuständige Kammer bei Anwendung der hier einschlägigen Vorschrift des § 64 EStG im Hinblick auf die auffallende Ähnlichkeit mit § 3 BKGG nicht überfordert sein, sondern eine anständige professionelle Arbeit abliefern wird.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht anfechtbar.