Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 14.09.2011, Az.: 4 K 207/11

Auswirkungen einer nachträglichen Festsetzung von Kindergeld auf die Einkommenssteuer

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
14.09.2011
Aktenzeichen
4 K 207/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 28257
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2011:0914.4K207.11.0A

Fundstellen

  • EFG 2012, 138-139
  • StX 2012, 101-102

Redaktioneller Leitsatz

Die nachträgliche Festsetzung und/oder Zahlung von Kindergeld ist kein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 2 AO, das den Anspruch auf Abzug von Freibeträgen nach § 32 Abs. 6 EStG begründen kann.

Keine Herabsetzung der Einkommensteuer wegen nachträglicher Festsetzung von Kindergeld

Tatbestand

1

Streitig ist, ob die Voraussetzungen für die Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids zugunsten des Steuerpflichtigen vorliegen.

2

Die Kläger sind Eheleute, die für das Streitjahr 2003 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Sie sind Eltern einer Tochter und eines Sohns. In dem Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2002 gewährte der Beklagte (das Finanzamt - FA -) für beide Kinder einen Kinderfreibetrag. Die volljährige Tochter wurde weiter als Kind berücksichtigt, weil sie sich in Berufsausbildung befunden und ihre eigenen Einkünfte unter dem seinerzeit geltenden Grenzbetrag gelegen hatten.

3

Mit der am 23. August 2004 abgegebenen Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2003, bei deren Anfertigung die jetzigen Prozessbevollmächtigten der Kläger mitgewirkt haben, wurde lediglich für den Sohn eine Anlage "Kind" eingereicht. Durch Einkommensteuerbescheid vom 11. November 2004 setzte das FA die Einkommensteuer unter Berücksichtigung eines Kinderfreibetrages i.H.v. 5.808 EUR fest. Unter dem 29. November 2004 wurde der Bescheid nach § 129 der Abgabenordnung (AO) berichtigt, weil die von den Klägern geltend gemachten Aufwendungen für haushaltsnahe Dienstleistungen versehentlich nicht berücksichtigt worden waren.

4

Nachdem die zuständige Familienkasse dem Kläger für den Zeitraum von Januar 2003 bis Juni 2004 Kindergeld für die Tochter bewilligt hatte, beantragten die Kläger am 23. Januar 2006 bei dem FA, den Einkommensteuerbescheid 2003 zu ändern und die Tochter als Kind zu berücksichtigen. Sie vertraten die Ansicht, dass der Kindergeldbescheid vom 12. Januar 2006 als Grundlagenbescheid für die Gewährung kindbedingter Steuerermäßigungen zu werten sei. Dem Schreiben war eine Anlage "Kind" beigefügt, aus der sich ergab, dass sich die Tochter während des gesamten Jahres 2003 in Berufsausbildung befunden und die eigenen Einkünfte und Bezüge nach Abzug der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung unter dem Grenzbetrag von 7.188 EUR gelegen hatten. Nachdem das FA die Auffassung vertreten hatte, dass die nachträgliche Festsetzung von Kindergeld kein rückwirkendes Ereignis im Sinne von § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO darstelle, machten die Kläger mit Schreiben vom 30. Januar 2006 geltend, dass auch die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO vorlägen. Da mit der Einkommensteuerklärung 2003 nur eine Anlage "Kind" für den Sohn eingereicht worden sei, sei das Vorhandensein eines weiteren zu berücksichtigenden Kindes für das FA eine nachträglich bekannt gewordene steuermindernde Tatsache.

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Durch Bescheid vom 2. Februar 2006 lehnte das FA den Änderungsantrag mit der Begründung ab, dass weder die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO noch für eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO vorlägen. Hiergegen legten die Kläger am 6. Februar 2006 Einspruch ein. Zu dessen Begründung machten sie ergänzend geltend, dass ihnen erst durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164) bekannt geworden sei, dass die eigenen Einkünfte und Bezüge ihrer Tochter den maßgeblichen Grenzbetrag von 7.188 EUR unterschritten hätten. Damit treffe sie kein grobes Verschulden daran, dass dem FA das Vorhandensein eines weiteren zu berücksichtigenden Kindes erst nach Bestandskraft des Steuerbescheides bekannt geworden sei.

6

Durch Einspruchsbescheid vom 28. Februar 2006 wies das FA den Einspruch als unbegründet zurück. Es hielt an der Auffassung fest, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides nicht vorlägen.

7

Hiergegen richtet sich die am 24. März 2006 erhobene Klage. Die Kläger halten an der Auffassung fest, dass die Voraussetzungen für eine Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO bzw. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO erfüllt seien. Im Einzelnen führen sie aus: Sie hätten der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2003 zunächst keine Anlage "Kind" für ihre Tochter beigefügt, da sie davon ausgegangen seien, dass deren Einkünfte und Bezüge den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschritten hätten. Erst nachdem das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 11. Januar 2005 festgestellt habe, dass die Einkünfte um die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung zu kürzen seien, hätten sie bei der Familienkasse einen Antrag auf Gewährung von Kindergeld für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis 30. Juni 2004 gestellt, dem durch Bescheid vom 12. Januar 2006 entsprochen worden sei. Die nachträgliche Bewilligung des Kindergeldes stelle ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar. Abgesehen davon lägen auch die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO vor. Dem FA sei erst nach Erlass des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides bekannt geworden, dass ein weiteres berücksichtigungsfähiges Kind vorhanden gewesen sei. An dem erst nachträglichen Bekanntwerden dieser steuermindernden Tatsache treffe sie - die Kläger - kein grobes Verschulden, weil sie bis zum Bekanntwerden der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht davon hätten ausgehen können, dass ihre Tochter als Kind zu berücksichtigen sei.

8

Die Kläger beantragen,

den Beklagten unter Aufhebung seines Ablehnungsbescheids vom 2. Februar 2006 und des dazu ergangenen Einspruchsbescheids vom 28. Februar 2006 zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 2003 zu ändern und die Einkommensteuer unter Berücksichtigung eines weiteren Kinderfreibetrags von 5.808 EUR herabzusetzen.

9

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Er hält an der seinem Einspruchsbescheid zugrundeliegenden Auffassung fest. Ergänzend führt er aus, dass den steuerlich beratenen Klägern bei Abgabe der Einkommensteuererklärung 2003 hätte bekannt sein müssen, dass zu der Frage, ob die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes um Sonderausgaben zu verringern seien, ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig gewesen sei.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist unbegründet. Die von den Klägern begehrte Änderung des mit Ablauf der Einspruchsfrist bestandskräftig gewordenen Einkommensteuerbescheids 2003 ist ausgeschlossen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind.

12

1.

Die nachträgliche Festsetzung von Kindergeld begründet für die Kläger keinen Anspruch aus § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO auf Änderung der festgesetzten Einkommensteuer.

13

Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein für ihn bindender Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO) erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Grundlagenbescheide sind gemäߧ 171 Abs. 10 Satz 1 AO Feststellungsbescheide, Steuermessbescheide oder sonstige für eine Steuerfestsetzung bindende Verwaltungsakte. Für die Annahme einer Bindungswirkung ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) grundsätzlich eine gesetzliche Regelung erforderlich (BFH-Urteil vom 10. Juni 1988 III R 232/84, BFHE 154, 68, BStBl. II 1988, 981), an der es im Verhältnis zwischen Kindergeldbescheid und Einkommensteuerfestsetzung fehlt.

14

2.

Auch eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist im Streitfall nicht möglich.

15

Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Ein rückwirkendes Ereignis im Sinne von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO liegt vor, wenn sich nach Ergehen eines Steuerbescheids der rechtserhebliche Sachverhalt in der Weise ändert, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. Entsprechendes gilt für Merkmale, auf welche das Steuergesetz abstellt und die durch eine behördliche Entscheidung rückwirkend umgestaltet werden. Ob ein Ereignis in die Vergangenheit zurückwirkt, ist den Normen des materiellen Steuerrechts zu entnehmen (BFH-Urteil vom 28. Juli 2005 III R 48/03, BFHE 210, 393, BStBl. II 2005, 865).

16

Nach diesen Maßstäben ist die nachträgliche Festsetzung und/oder Zahlung von Kindergeld kein rückwirkendes Ereignis, das den Anspruch auf Abzug von Freibeträgen nach § 32 Abs. 6 EStG begründen kann. Zwar besteht zwischen den Freibeträgen nach § 32 Abs. 6 EStG und der Zahlung von Kindergeld insofern eine Wechselbeziehung, als der Abzug der Freibeträge davon abhängt, dass die nach § 31 Satz 1 EStG gebotene steuerliche Freistellung durch das Kindergeld nicht in vollem Umfang bewirkt wird (§ 31 Satz 4 EStG), und bei der Verminderung des Einkommens um einen Kinderfreibetrag das gezahlte Kindergeld im entsprechenden Umfang der Einkommensteuer hinzugerechnet wird (§ 2 Abs. 6 Satz 3; 36 Abs. 2 Satz 1 EStG). Insofern unterscheiden sich die Verhältnisse bei der Einkommensteuer von denen beim Solidaritätszuschlag, bei dessen Bemessung die nach § 32 Abs. 6 EStG zustehenden Freibeträge unabhängig von der Kindergeldzahlung zu berücksichtigen sind (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 des Solidaritätszuschlaggesetzes; vgl. dazu BFH-Urteil vom 27. Januar 2011 III R 90/07, BFHE 232, 485; BStBl. II 2011, 543). Im Hinblick auf diese Verknüpfung kann sich die nachträgliche Zahlung von Kindergeld aber nur insofern als rückwirkendes Ereignis auf die Einkommensteuerfestsetzung auswirken, als sie zur Erhöhung der Einkommensteuer um das gezahlte Kindergeld führt oder der Abzug der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG aufgrund der Günstigerprüfung nach § 31 Satz 4 EStG gänzlich rückgängig zu machen ist (vgl. Abschnitt 175 Abs. 5 Satz 2 der für das Streitjahr maßgeblichen Einkommensteuerrichtlinien 2003). Ein Einfluss in dem von den Klägern geltend gemachten Sinn, dass durch die nachträgliche Kindergeldzahlung die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Abzug von Freibeträgen nach § 32 Abs. 6 EStG entstehen, ist hingegen ausgeschlossen.

17

Der nachträglich ergangene Kindergeldfestsetzungsbescheid entfaltet auch keine Tatbestandswirkung in dem Sinne, dass das FA bei der Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 32 EStG erfüllt sind, das Ergebnis der Familienkasse übernehmen müsste; die Tatbestandswirkung des Kindergeldfestsetzungsbescheids beschränkt sich auf seinen verfügenden Teil ("Tenor"), umfasst aber nicht seine Begründung. Das FA hat daher selbständig und ohne Bindung an die im Kindergeldfestsetzungsbescheid enthaltene Begründung das Vorliegen der Voraussetzungen des § 32 EStG zu prüfen (BFH-Urteil in BFHE 232, 485, [BFH 27.01.2011 - III R 90/07] BStBl. II 2011, 543).

18

3.

Schließlich scheidet auch eine Korrektur des Einkommensteuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO aus. Zwar war dem FA bei Durchführung der Einkommensteuerveranlagung nicht bekannt, dass die volljährige Tochter der Kläger die Voraussetzungen für die Berücksichtigung als Kind erfüllte, weil sie für einen Beruf ausgebildet wurde (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a EStG) und ihre eigenen Einkünfte und sonstigen Bezüge unter Abzug der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht überstiegen. Ein Steuerbescheid darf aber nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu Gunsten des Steuerpflichtigen aufgehoben oder geändert werden, wenn die Finanzbehörde bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel nicht anders entschieden hätte. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 AO scheidet danach aus, wenn die Unkenntnis der später bekannt gewordenen Tatsache für die ursprüngliche Veranlagung nicht ursächlich (rechtserheblich) gewesen ist. Wie die Finanzbehörde bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt im ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde, und der die Finanzbehörden bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheiderlasses durch das FA gegolten haben (BFH-Beschluss vom 23. November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl. II 1988, 180; BFH-Urteil vom 22. April 2010 VI R 40/08, BFHE 229, 57, BStBl II 2010, 951). Nach der bei Erteilung des Einkommensteuerbescheids vom 11. November 2004 geltenden, in H 180e "Versicherungsbeiträge des Kindes" des Amtlichen Einkommensteuer-Handbuchs 2004 niedergelegten und vom BFH (Urteil vom 4. November 2003 VIII R 59/03, BFHE 204, 126, BStBl. II 2004, 584) gebilligten Verwaltungspraxis minderten die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung nicht die Einkünfte und Bezüge des Kindes, so dass diese im Fall der Tochter den Grenzbetrag von 7.188 EUR überschritten hätten. Der gegenteilige Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164 [BVerfG 11.01.2005 - 2 BvR 167/02] ist erst am 11. Januar 2005 und damit nach Bescheiderteilung ergangen.

19

4.

Die Klage ist daher abzuweisen. Die Kosten sind den Klägern als den unterlegenen Beteiligten aufzuerlegen (§ 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung).