Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 27.01.2000, Az.: 6 A 177/99

Asylfolgeverfahren; inländ. Abschiebungshindernis; Reiseunfähigkeit; Traumatisierung; Zeuge; Zeuge vom Hörensagen

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
27.01.2000
Aktenzeichen
6 A 177/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2000, 41869
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Haft- u. Reiseunfähigkeit aufgrund posttraumatischer Belastungsstörung ist inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis. Unglaubhafter Zeuge im Asylfolgeverfahren.

Gründe

1

Die Klage hat keinen Erfolg.

2

Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG ist auf einen nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags gestellten neuen Asylantrag ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn sich nach rechtskräftiger Ablehnung des Asylantrags die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- und Rechtslage zu Gunsten des Betroffenen geändert hat, neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden, oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind. Der Antrag ist darüber hinaus nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, den Grund für das Wiederaufgreifen geltend zu machen (§ 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 2 VwVfG). Der Antrag muss ferner binnen drei Monaten gestellt werden, gerechnet von dem Tag, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen des Verfahrens Kenntnis erhalten hat (§ 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 3 VwVfG). Werden mehrere Wiederaufgreifensgründe geltend gemacht, läuft diese Frist für jeden der Gründe gesondert. Dies gilt auch dann, wenn im Hinblick auf einen Wiederaufgreifensgrund ein Antrag auf Durchführung eines Folgeverfahrens bereits gestellt worden ist und zu einem späteren Zeitpunkt weitere Wiederaufgreifensgründe nachgeschoben werden (BVerwG, Urt. vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 -; Urt. vom 27.01.1994 - BVerwGE 95, 86). Die gerichtliche Prüfung der Wiederaufgreifensgründe hat sich überdies nur auf die von dem Betroffenen selbst geltend gemachten Gründe zu beschränken (BVerwG, Urt. vom 30.08.1988 - EZAR 212 Nr. 6).

3

Die Kläger haben keine Gründe glaubhaft gemacht, die unter diesen Voraussetzungen ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens rechtfertigen.

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Soweit die Kläger den Asylfolgeantrag damit begründen, dass nunmehr Zeugen für die vom Kläger zu 1) in der Türkei erlittene politische Verfolgung verfügbar seien, rechtfertigt dies die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht. Einer Vernehmung dieser Zeugen bedurfte es aus Rechtsgründen nicht, so dass auch dem noch einmal ausdrücklich für den Zeugen N. gestellten schriftlichen Beweisantrag - ungeachtet der Frage, ob dieser Antrag den Anforderungen eines ordnungsgemäßen Beweisantrages entsprochen hat (vgl. Verfügung des Gerichts vom 24. Januar 2000) - nicht nachzukommen war. Abgesehen davon, dass - worauf das Bundesamt in dem Bescheid vom 19. Juli 1999 zutreffend hingewiesen hat - der Kläger zu 1) mit dem Zeugen V. zu einem Zeitpunkt zusammengetroffen ist, der mehr als drei Monate vor Beantragung des Asylfolgeverfahrens zurückliegt, sollen mit den benannten Zeugen Vorgänge unter Beweis gestellt werden, denen der erforderliche zeitliche Zusammenhang mit der später erfolgten Ausreise aus der Türkei fehlte (für die Vorgänge aus den Jahren bis 1992); hinsichtlich der vom Kläger zu 1) als Anlass für die Ausreise aus der Türkei geschilderten Begebenheit aus dem Jahre 1994, zu dem die benannten Zeugen nach ihren schriftlichen Erklärungen ohnehin aus eigenen Wahrnehmungen keine Angaben machen könnten, hat die Kammer im Urteil vom 14. Januar 1999 (6 A 6111/98) festgestellt, dass der vom Kläger zu 1) in seinen Einzelheiten geschilderte Vorfall, sofern er sich tatsächlich in dieser Weise zugetragen haben sollte, den Kläger zu 1) nicht derart in das Blickfeld der Sicherheitskräfte gerückt hatte, dass er hierdurch in den ernsthaften und fortdauernden Verdacht einer gefährlichen Nähe zur PKK geraten war. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger zu 1) außerhalb seines Herkunftsbereichs in den westlichen Teilen der Türkei weiterhin vorübergehenden Festnahmen und Drangsalierungen ausgesetzt sein könnte, hat das Gericht nicht festgestellt. Die von den Klägern benannten Zeugen sind deshalb keine neuen Beweismittel, die eine ihnen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden, sofern sie dem Gericht schon im Verfahren 6 A 6111/98 bekannt gewesen wären. Dies hat das Gericht bereits in dem Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Einzelnen ausgeführt. Die aus Anlass des Klageverfahrens durchzuführende erneute rechtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage führt zu keinem anderen Ergebnis.

5

Das von den Klägern beigebrachte ärztliche Gutachten vom 21. April 1999 rechtfertigt ebenfalls nicht die Durchführung eines Asylfolgeverfahrens. Soweit dem Kläger zu 1) darin eine Haft- und Reiseunfähigkeit bescheinigt wird, handelt es sich um ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, das nicht gegenüber der Beklagten, sondern allenfalls gegenüber der Ausländerbehörde geltend gemacht werden kann und durch die Erteilung einer Duldung nach § 55 AuslG zu berücksichtigen ist, sofern die geltend gemachten Umstände einer Ausreise oder Abschiebung entgegenstehen (vgl. hierzu: BVerwG, Urt. vom 11.11.1997, BVerwGE 105, 322; Urt. vom 16.03.1998 - 9 C 17.97 -; Urt. vom 21.09.1999, AuAS 2000, 14). Eine solche Duldung mit dem Zweck einer medizinischen Klärung der geltend gemachten gesundheitlichen Hinderungsgründe für eine Ausreise oder Abschiebung wurde den Klägern inzwischen vom Landkreis Helmstedt erteilt. Ob im Hinblick darauf, dass ein gegen die Beklagte gerichteter Antrag nach § 53 AuslG ebenfalls nur zu einer Duldung führen könnte, für einen solchen Antrag deshalb ein schutzwürdiges Interesse nicht gegeben sein könnte, kann dahingestellt bleiben (vgl. hierzu: Nds. OVG Lüneburg, Urt. vom 15.09.1998, 11 L 6086/96).

6

Die anlässlich der Untersuchung festgestellten Anzeichen für die Anwendung von Folter belegen zudem keine neue Sachlage im Verhältnis zu den Erkenntnissen, wie sie in den bisherigen gerichtlichen Verfahren zum Gegenstand der Entscheidungsfindung gemacht wurden. Dass die von den Klägern zu 1) und 2) in den Asylverfahren bisher geschilderten Misshandlungen zu Traumatisierungen geführt haben, ist für das Asylfolgeverfahren ohne rechtliche Auswirkung. Eine solche medizinische Einschätzung hebt zwar die Schwere der erlittenen Folterungen hervor, wie sie in der Vergangenheit im Südosten der Türkei nicht selten bei Vernehmungen von der Unterstützung der PKK verdächtigten Personen angewandt worden sind. Mit dieser medizinischen Beurteilung der gesundheitlichen Folgen der von den Klägern zu 1) und 2) erlittenen Misshandlungen wird jedoch nicht die bisherige gerichtliche Einschätzung widerlegt oder entkräftet, dass sich die Kläger weiteren Misshandlungen dieser Art durch einen Wegzug aus der Heimatregion und ein Übersiedeln in die Gebiete der Westtürkei, insbesondere in die großen Städte, hätten entziehen können (sog. inländische Fluchtalternative). Abgesehen davon, dass die auf die benannten Zeugen Heimeshoff und Voigt bezogenen Beweisanträge nicht den Anforderungen an einen den gesetzlichen Erfordernissen entsprechenden Beweisantrag entsprochen haben (vgl. auch Verfügung des Gerichts vom 18. Januar 2000) und - wie in der mündlichen Verhandlung deutlich geworden ist - die vermeintlich bisher noch nicht dargestellten Misshandlungen und Folterungen der Kläger zu 1) und 2) schon aktenkundig sind, bedurfte es einer förmlichen Vernehmung auch dieser Personen als Zeugen oder Sachverständigen (der Arzt Heimeshoff) nicht. Das Gericht hat lediglich im Hinblick auf das von der Ausländerbehörde eingeleitete Verfahren über das Vorliegen eines gesundheitlichen Abschiebungshindernisses den Arzt Heimeshoff zur Frage, ob bei den Klägern zu 1) und 2) eine behandlungsbedürftige Traumatisierung angenommen werden müsse, informatorisch angehört. Angesichts der fehlenden rechtlichen Bedeutung der präzisen medizinischen Diagnose für das Asylfolgeverfahren kann schließlich dahingestellt bleiben, ob die Kläger zu 1) und 2) ohne eigenes Verschulden an einer früheren Vorlage eines solchen Gutachtens gehindert gewesen sind, zumal die gesundheitliche Beeinträchtigungen bereits im Zeitpunkt ihrer Einreise nach Deutschland im Jahre 1994 vorgelegen haben sollen. Der Kläger zu 1) hatte bereits bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 15. Juli 1996 (Seite 8 der Niederschrift) geltend gemacht, wegen der Folterungen nachts immer aufzuwachen und ein "psychisch gestörter Mensch" zu sein, ohne dies allerdings zum Anlass für eine ärztliche Untersuchung und Behandlung genommen zu haben. Hierauf kommt es jedoch - wie bereits dargelegt worden ist - aus Rechtsgründen nicht maßgeblich an.

7

Soweit die Kläger zu 1) und 2) erstmals in der mündlichen Verhandlung durch ihren Beistand geltend gemacht haben, dass die bei ihnen festgestellte Traumatisierung wegen der damit verbundenen Haft- und Reiseunfähigkeit nicht nur ein Vollzugshindernis für aufenthaltsbeendende Maßnahmen darstelle, sondern wegen der im Heimatland nur unzureichend oder gar nicht vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis sei (vgl. hierzu: BVerwG, Urt. vom 21.09.1999, AuAS 2000, 14; Urt. vom 29.07.1999, 9 C 2/99; Urt. vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383 m.w.N.), teilt das Gericht diese von den Klägern auf eine von der Ärztekammer Berlin herausgegebene Abhandlung aus dem Jahr 1996 gestützte Auffassung nicht. Dem Gericht liegen nicht nur eine Reihe aktuellerer Auskünfte hinsichtlich der medizinischen Versorgungslage in der Türkei vor (vgl. unter XI. der Erkenntnismittelliste Türkei - Stand: 15. Dezember 1999); es finden sich darüber hinaus gerade in neuerer Zeit Berichte über Gerichtsverfahren wegen ärztlichen Vertuschungen von Folterspuren (IMK vom 10.06.1999) und eine zunehmende medizinische Betreuung von Folteropfern durch Vertrauensärzte der Menschenrechtsvereine in der Türkei, so dass eine unzureichende medizinische Behandlungsmöglichkeit traumatisierter Folteropfer in der Türkei nicht angenommen werden kann. Außerdem befasst sich die Abhandlung der Ärztekammer Berlin ausschließlich mit der medizinischen Versorgungslage in den kurdischen Herkunftsgebieten im Südosten der Türkei, nicht aber - worauf maßgeblich abzustellen ist - mit den Behandlungsmöglichkeiten in den westlichen Landesteilen und Großstädten. Hätte diese Frage einer weitergehenden Aufklärung bedurft, hätte dieses Vorbringen der Kläger als verspätet zurückgewiesen werden müssen (§ 87b Abs. 3 VwGO). Denn den Klägern ist schon im Beschluss vom 11. August 1999 (6 B 178/99) dargelegt worden, dass im Verfahren gegenüber der Beklagten nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse geltend gemacht werden können, während die als Haft- und Reiseunfähigkeitsgrund hervorgehobene Traumatisierung von der Ausländerbehörde zu prüfen sei. Gleichwohl haben die Kläger im Klageverfahren weder danach noch innerhalb der ihnen noch einmal zum abschließenden Vorbringen ihrer Gründe gesetzten Frist (17. Januar 2000) eine solche Behauptung aufgestellt. Da die Kläger anwaltlich vertreten sind, ist ein Grund, der das verspätete Vorbringen entschuldigen könnte, nicht zu erkennen.

8

Soweit mit der von den Klägern zu den Gerichtsakten gereichten eidesstattlichen Erklärung des Zeugen M. T. behauptet worden ist, dass dieser Zeuge von einer Denunziation des Klägers zu 1) und anderer Personen durch einen früheren PKK-Aktivisten gehört habe, die bereits zu zahlreichen Verhaftungen geführt habe, handelt es sich allerdings um einen neuen Wiederaufgreifensgrund. Aus diesem Grunde hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung den an Gerichtsstelle anwesenden Zeugen T. vernommen. Diese Zeugenvernehmung und die Würdigung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Aktenteile aus dem Asylverfahren dieses Zeugen vor dem Bundesamt und beim Verwaltungsgericht Gießen haben jedoch ergeben, dass die Behauptung eine unzutreffende Darstellung ist. Dies wird darin deutlich, dass der Zeuge in seinem eigenen Asylverfahren von den Denunziationen des vorgeblichen Überläufers mit dem Codenamen Z. nichts erwähnt hat, obwohl sich diese Vorgänge nach seinen Bekundungen schon mehrere Monate vor der Ausreise aus der Türkei zugetragen haben sollen und mit ein Grund für das Verlassen des Heimatlandes gewesen sein sollen. Die bei einem Zeugen vom Hörensagen gebotene besonders kritische Prüfung des Beweiswertes der Bekundungen (vgl. hierzu: BVerfG, Beschl. vom 11.04.1991, BayVBl 1992, 111; BVerwG, Urt. vom 20.11.1996, 9 B 653.96; Nds. OVG Lüneburg, Beschl. vom 11.09.1998, 2 L 4080/98) und des Vorhandenseins von Anknüpfungstatsachen hat außerdem ergeben, dass der Zeuge solche Angaben nicht zu machen vermochte. Bei den Fragen nach Einzelheiten, aus denen er sein Wissen bezogen haben will, hat er sich darauf zurückgezogen, dass "man nach vielen Leuten gesucht" habe, die er nicht kenne, und dass "viele festgenommen" worden seien, deren Zahl und Namen er auch nicht angeben könne. Auch nach ihm habe man gesucht; er sei dann aber geflohen. Auf den Vorhalt, dass er hierüber in seinem eigenen Asylverfahren nichts berichtet habe, hat der Zeuge behauptet, dass der Einzelentscheider beim Bundesamt ihn nicht habe zu Wort kommen lassen, er die Sprache nicht verstanden habe und das Vorbringen in seinem Klageverfahren von seinen Prozessbevollmächtigten ausgegangen sei, zu denen er bisher keinen persönlichen Kontakt gehabt habe. Das Gericht wertet diese Darstellung als Schutzbehauptung, wie vor allem die sehr ausführliche Anhörung vor dem Bundesamt in Gießen deutlich macht.

9

Nach alledem geht das Gericht davon aus, dass die Angaben des Zeugen T. über eine Denunziation des Klägers zu 1) durch einen Überläufer der PKK nicht den Tatsachen entsprechen. Ein Wiederaufgreifensgrund, der in Bezug auf den Kläger zu 1) zu einer Änderung der früher ergangenen Entscheidungen hätte führen können, liegt infolgedessen nicht vor.

10

Hinsichtlich der Kläger zu 3) bis 6) ist schon aufgrund ihres geringen Alters nicht überwiegend wahrscheinlich, dass sie bei einer Abschiebung in die Türkei asylrechtlich relevanten Maßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte ausgesetzt sein könnten.

11

Die Klage ist deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b Abs. 1 AsylVfG abzulehnen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.