Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 15.03.2012, Az.: 6 K 43/10

Anforderungen an die Bildung von Steuerrückstellungen in der Höhe einer später festgesetzten Steuer wegen ungewisser Umsatzsteuerverbindlichkeiten; Möglichkeit der Bildung einer Rückstellung in der Steuerbilanz nach § 5 Abs. 1 S. 1 EStG bei unrechtmäßiger Nichtbildung der Rückstellung in der Handelsbilanz

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
15.03.2012
Aktenzeichen
6 K 43/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 13317
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2012:0315.6K43.10.0A

Fundstellen

  • BB 2012, 1854
  • BBK 2012, 630
  • EFG 2012, 1390-1392
  • GStB 2012, 225
  • KoR 2012, 434
  • StX 2012, 407-408
  • StuB 2012, 719

Amtlicher Leitsatz

Steuerrückstellungen sind nicht zwingend in Höhe der später festgesetzten Steuer zu bilden, sondern in der Höhe, in der am Bilanzstichtag mit einer Steuerfestsetzung gerechnet werden muss.

Tatbestand

1

Streitig ist eine Änderung des Körperschaftsteuerbescheids für 2002, die auf § 174 Abs. 4 Abgabenordnung (AO) gestützt wurde.

2

Die Klägerin betreibt ein Elektrizitätswerk ... Im Streitjahr (2002) nahm die Klägerin im Auftrag der Firma X die Abrechnung und Beitreibung von Entgelten für Erdgaslieferungen der X vor. In ihren Abrechnungen führte die Klägerin sowohl ihre eigene Lieferung von Strom als auch die Lieferung von Erdgas durch X als "unsere Lieferung" jeweils mit offenem Umsatzsteuerausweis aus.

3

Für das Streitjahr (2002) wies die Klägerin in ihrem Jahresabschluss Steuerrückstellungen i.H.v. ... € aus. Die Klägerin wurde zunächst mit Bescheid vom 05.02.2004, der unter Vorbehalt der Nachprüfung stand, zur Körperschaftsteuer veranlagt. Am 04.06.2004 erfolgte eine Änderung nach § 164 Abs. 2 AO.

4

In der Zeit vom 05.12.2007 bis 19.02.2008 führte das FA für Großbetriebsprüfung ... bei der Klägerin eine Außenprüfung durch. Der Prüfer stellte fest, dass die Klägerin die Entgelte für Erdgaslieferungen in eigenem Namen in Rechnung gestellt und insoweit auch Umsatzsteuer offen ausgewiesen hatte. Er vertrat die Ansicht, der unberechtigte Steuerausweis sei "nach § 14 Abs. 3 u. § 14c Abs. 2 UStG geschuldet" (Tz. 13 des Bp-Berichts vom 16.04.2008). Eine Berichtigung der Rechnung sei möglich. Der Prüfer war der Ansicht, für das Jahr 2002 schulde die Klägerin aus unberechtigtem Steuerausweis Umsatzsteuer i.H.v. ... €. Der Prüfer war ferner der Ansicht, bei der Klägerin sei aufgrund dieses Sachverhalts und einer weiteren (unstreitigen) Prüfungsfeststellung (Tz. 14 des Bp-Berichts) eine Umsatzsteuerverbindlichkeit lt. Prüfung zum 31.12.2002 i.H.v. ... € zu erfassen (Anlage 5 zum Bp-Bericht). Ferner traf der Prüfer weitere Prüfungsfeststellungen, die zwischen den Beteiligten nicht streitig sind.

5

Aufgrund des Ergebnisses der Außenprüfung erließ der Beklagte am 24.07.2008 einen geänderten Bescheid über Körperschaftsteuer 2002, durch den die Körperschaftsteuer auf ... € herabgesetzt wurde. Gleichzeitig wurde der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben.

6

Ebenfalls am 24.07.2008 erließ der Beklagte einen geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2002. Gegen diesen Umsatzsteuerbescheid legte die Klägerin Einspruch ein, den sie wie folgt begründete: Gemäß § 14c Abs. 2 Satz 3 Umsatzsteuergesetz (UStG) könne der geschuldete Mehrbetrag in Fällen des unberechtigten Steuerausweises berichtigt werden, soweit eine Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt worden sei. Eine solche Gefährdung des Steueraufkommens liege gemäß § 14c Abs. 2 Satz 4 UStG unter anderem dann nicht vor, wenn der Empfänger der Rechnung aus dieser keinen Vorsteuerabzug geltend gemacht habe. § 14c Abs. 2 Satz 5 UStG lasse in einem solchen Fall eine Berichtigung des geschuldeten Steuerbetrags für den Besteuerungszeitraum zu, in dem die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt worden sei. Die Klägerin habe im Jahr 2002 ca. 92 % der betroffenen Gaslieferungen gegenüber Nicht-Unternehmern erbracht, bei denen kein Vorsteuerabzug in Frage gekommen sei. Insoweit sei die Umsatzsteuer schon in dem Veranlagungszeitraum 2002 zu berichtigen, in dem diese Steuer nach § 13 Abs. 1 Nr. 4 UStG entstanden sei. Die Klägerin verwies ergänzend auf Abschnitt 190d Abs. 4 Satz 6 der Umsatzsteuerrichtlinien 2008 (UStR 2008) und auf ein BMF-Schreiben vom 29.01.2004 (BStBl I 2004, 258 Tz. 84 a.E.)

7

Der Beklagte schloss sich dieser Auffassung in einem Schreiben an das Finanzamt für Großbetriebsprüfung vom 28.08.2008 an.

8

Mit Schreiben vom 22.05.2009 schloss sich auch das FA für Großbetriebsprüfung ... der Rechtsauffassung der Klägerin an, machte allerdings geltend, ein größerer Anteil der Kunden der Klägerin habe möglicherweise einen Vorsteuerabzug in Anspruch nehmen können. Daraufhin schlug der Beklagte vor, den Anteil der Nicht-Unternehmer mit 87 % der Kunden der Klägerin zu schätzen. Die Klägerin war hiermit einverstanden. Anschließend erließ der Beklagte am 20.08.2009 einen entsprechend geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2002, durch den die Umsatzsteuer 2002 um ... € herabgesetzt wurde.

9

Am 27.08.2009 erließ der Beklagte unter Hinweis auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 und § 174 AO einen geänderten Bescheid über Körperschaftsteuer 2002, in dem er die Körperschaftsteuer auf ... € heraufsetzte. Dabei ging der Beklagte auf der Grundlage einer geänderten Prüferbilanz von einer Umsatzsteuerverbindlichkeit für 2002 in Höhe von ... € und einem Steuerbilanzgewinn von ... € aus.

10

Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein, den sie wie folgt begründete: Nach § 249 Abs. 1 Satz 2 des Handelsgesetzbuches (HGB) habe die Klägerin für ungewisse Verbindlichkeiten Rückstellungen zu bilden. Zu den Bilanzstichtagen bis 31.12.2007 habe eine ungewisse Verbindlichkeit aufgrund der Bp.-Feststellungen und der Umsatzsteuerbescheide 2002 - 2006 bestanden. Die für eine Rückstellungsbildung erforderliche Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme eines Kaufmanns sei gegeben, da die Finanzverwaltung durch ihr Handeln eine Verpflichtung der Klägerin dokumentiert habe. Der Grund für die Bildung der Rückstellung sei erst im Februar 2008 entfallen, da die Klägerin die unrichtigen Rechnungen in diesem Voranmeldungszeitraum berichtigt und entsprechend berichtigte Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben habe. Die spätere Korrektur des Umsatzsteuerbescheides 2002 wirke nicht auf das Streitjahr zurück. Hierzu verwies die Klägerin auf ein BFH-Urteil vom 30.01.2002 (Az. I R 68/00). Die Klägerin machte weiter geltend, die Voraussetzungen einer Änderung nach § 174 Abs. 4 AO seien nicht gegeben. Hierzu verwies sie auf den Beschluss des Großen Senats des BFH vom 10.11.1997 (BStBl II 1998, 83 [BFH 10.11.1997 - GrS - 1/96]).

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Der Beklagte wies den Einspruch als unbegründet zurück. Er vertrat die Auffassung, die Änderung sei zu Recht nach § 174 Abs. 4 AO erfolgt. Der Betriebsprüfer habe die umsatzsteuerliche Rechtslage unzutreffend gewürdigt und deshalb zu Unrecht in der "Prüferbilanz" eine Umsatzsteuerverbindlichkeit berücksichtigt. Ein derartiger Rechtsfehler könne nach § 174 Abs. 4 AO berichtigt werden.

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Hiergegen erhob die Klägerin Klage, die sie wie folgt begründete: Die Steuerrückstellung sei nach § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB zu Recht gebildet worden, da die Klägerin durch den Umsatzsteuerbescheid für 2002 vom 24.07.2008 in Anspruch genommen worden sei und eine Rechnungsberichtigung erst im Februar 2008 erfolgt sei. Bis zur Berichtigung der Rechnung habe die Klägerin die unzutreffend ausgewiesene Umsatzsteuer nach § 14c Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 1 UStG geschuldet. Der Berichtigungstatbestand nach § 14c Abs. 2 Satz 3 und 4 UStG setze eine Zustimmung des Finanzamts und eine nachfolgende Berichtigung voraus. Eine derartige Berichtigung sei erst im Jahr 2008 erfolgt und dürfe gemäß § 38 AO erst in diesem Jahr steuerlich berücksichtigt werden. Tz. 84 des BMF-Schreibens vom 29.01.2004 (BStBl. I 2004, 258) führe zu keinem anderen Ergebnis. Dort sei lediglich eine Rückwirkung der Berichtigung auf den Zeitpunkt der Entstehung der Umsatzsteuer geregelt. Der Steuerpflichtige habe es in der Hand, ob er eine Berichtigung der Umsatzsteuer vornehme, da diese nur auf Antrag erfolgen dürfe. Die Berichtigung des § 17 UStG lasse den Steueranspruch aus § 14c UStG nicht entfallen, sondern führe lediglich zu einem finanziellen und wirtschaftlichen Ausgleich. Die Steuerverbindlichkeit aus § 14c Abs. 2 UStG bestehe unabhängig von der aus einer etwaigen Berichtigung resultierenden Ausgleichsforderung.

13

Auch lägen die Voraussetzungen einer Änderung nach § 174 Abs. 4 AO nicht vor. Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer folgten jeweils eigenen Regelungen. Der Umstand, dass die umsatzsteuerliche Begünstigung zurückwirke, ändere nichts daran, dass die Steueransprüche aus § 14c Abs. 2 UStG im Jahr 2002 entstanden seien und deshalb eine Rückstellung geboten gewesen sei. Bei Erstellung des Jahresabschlusses für 2002 sei unklar gewesen, ob und ggf. wann ein Berichtigungsantrag gestellt würde und ob die Finanzverwaltung einer Berichtigung zustimmen würde.

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Die Klägerin beantragt,

15

den Bescheid über Körperschaftsteuer 2002 vom 27.08.2009 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 22.12.2009 dahingehend zu ändern, dass das zu versteuernde Einkommen auf ... € herabgesetzt wird.

16

Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

18

Er verweist auf die Einspruchsentscheidung. Ergänzend trug er in der mündlichen Verhandlung vor, Steuerrückstellungen würden nach einer Außenprüfung stets in Höhe der tatsächlich festgesetzten Steuern berücksichtigt. Eine Änderung der Steuerfestsetzung führe nach § 174 Abs. 4 AO zu einer entsprechenden Änderung der Rückstellung. Dies entspreche ständiger Verwaltungspraxis und sei so auch in den EDV-Programmen der Finanzverwaltung vorgesehen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist begründet. Der Beklagte hat die Klägerin durch den Änderungsbescheid zur Körperschaftsteuer 2002 vom 27.08.2009 in ihren Rechten verletzt, da die Umsatzsteuerrückstellung für 2002 in dem vorangegangenen Steuerbescheid vom 24.07.2008 zutreffend berücksichtigt war und in dem Änderungsbescheid zur Körperschaftsteuer 2002 vom 27.08.2009 zu niedrig angesetzt wurde.

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1. Nach § 8 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) hat die Klägerin das Betriebsvermögen anzusetzen, das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) auszuweisen ist. Die "handelsrechtlichen" GoB ergeben sich vornehmlich aus den für alle Kaufleute geltenden Vorschriften der §§ 238 ff. des Handelsgesetzbuchs (HGB).

21

a) Gemäß § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB sind Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden. Voraussetzung für die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH entweder --erstens-- das Bestehen einer dem Betrage nach ungewissen, dem Grunde nach aber bestehenden Verbindlichkeit oder --zweitens-- die hinreichende Wahrscheinlichkeit des künftigen Entstehens einer --ggf. zugleich auch ihrer Höhe nach noch ungewissen-- Verbindlichkeit. Diese Voraussetzungen sind im Einzelfall auf der Grundlage objektiver, am Bilanzstichtag vorliegender Tatsachen aus der Sicht eines sorgfältigen und gewissenhaften Kaufmanns zu beurteilen. Dieser muss darüber hinaus ernsthaft mit seiner Inanspruchnahme rechnen müssen. Des Weiteren ist ein wirtschaftlicher Bezug der Verbindlichkeit zum Zeitraum vor dem jeweiligen Bilanzstichtag erforderlich (st. BFH-Rechtsprechung, vgl. zuletzt BFH-Urteil vom 21.09.2011 I R 50/10, DStR 2011, 2387 m.w.N.).

22

b) Nach diesen Grundsätzen hatte die Klägerin - wie zwischen den Beteiligten nicht streitig ist - dem Grunde nach eine Rückstellung für Verbindlichkeiten aus Umsatzsteuer 2002 wegen unrichtigen Steuerausweises zu bilden, da sie Rechnungen mit unrichtigem Steuerausweis erstellt hatte, für die sie nach § 14 Abs. 3 Umsatzsteuergesetz in der im Streitjahr 2002 geltenden Fassung (UStG 2002) die unberechtigt ausgewiesene Umsatzsteuer schuldete.

23

Die Tatsache, dass die Klägerin in der Handelsbilanz keine entsprechende Rückstellung gebildet hat, steht der steuerlichen Berücksichtigung der Rückstellung nicht entgegen. Eine Rückstellung ist in der Steuerbilanz nach § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG auch dann zu bilden, wenn sie in der Handelsbilanz zu Unrecht nicht gebildet wurde (BFH-Beschluss vom 13.06.2006 I R 58/05, BStBl. II 2006, 928).

24

c) Die Rückstellung war in der Höhe zu bilden, wie sie sich bei einer Inanspruchnahme mit Umsatzsteuer für die gesamten in Rechnung gestellten "Erdgaslieferungen" der Klägerin ergab, also in Höhe des Betrags, der in dem Körperschaftsteuerbescheid vom 24.07.2008 berücksichtigt war. Sowohl am Bilanzstichtag (31.12.2002) als auch im Zeitpunkt der Bilanzerstellung musste die Klägerin nach den damals maßgeblichen Verwaltungsanweisungen damit rechnen, dass nach § 14 Abs. 3 UStG 2002 Umsatzsteuer auf die gesamten in Rechnung gestellten "Erdgaslieferungen" der Klägerin festgesetzt würde.

25

aa) Im Streitjahr 2002 enthielt § 14 Abs. 3 UStG folgende Regelung: "Wer in einer Rechnung einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er zum gesonderten Ausweis der Steuer nicht berechtigt ist, schuldet den ausgewiesenen Betrag. Das Gleiche gilt, wenn jemand in einer anderen Urkunde, mit der er wie ein leistender Unternehmer abrechnet, einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er Nicht-Unternehmer ist oder eine Lieferung oder sonstige Leistung nicht ausführt." Eine Regelung zur Korrektur unzutreffender Steuerausweise sah das UStG seinerzeit noch nicht vor.

26

bb) Erst ab dem Veranlagungszeitraum 2004 wurde das Berichtigungsverfahren in § 14c UStG gesetzlich geregelt. Das hierzu ergangene BMF-Schreiben vom 29.01.2004 (BStBl. I 2004, 258) enthielt in Tz. 84 (a.E.) folgende Regelung: "Wurde beim Empfänger der Rechnung kein Vorsteuerabzug vorgenommen, ist der wegen unberechtigten Steuerausweises geschuldete Betrag beim Aussteller der Rechnung für den Zeitraum zu berichtigen, in dem die Steuer gem. § 13 Abs. 1 Nr. 4 UStG entstanden ist." (ebenso anschließend Abschnitt 190d Abs. 4 Satz 6 der Umsatzsteuer-Richtlinien 2005 - UStR 2005). Gemäß Tz. 86 des o.g. BMF-Schreibens war die vorgenannte Regelung sinngemäß auch in allen Fällen anzuwenden, in denen in einer vor dem 01.01.2004 ausgestellten Rechnung die Steuer unberechtigt ausgewiesen wurde.

27

Im Zeitpunkt der Bilanzerstellung für 2002 konnte die Klägerin noch nicht damit rechnen, dass eine derartige Regelung mit Rückwirkung für 2002 erlassen würde.

28

cc) Zwar hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits durch Urteil vom 19.09.2000 (C-454/98, UR 2000, 470) entschieden, das zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann, wenn der Aussteller der Rechnung eine Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat. Die dem EuGH-Urteil vom 19.09.2000 nachfolgende Entscheidung des BFH vom 08.03.2001 (V R 61/97, BStBl. II 2004, 373) wurde jedoch erst im Jahr 2004 vorbehaltlos im Bundessteuerblatt veröffentlicht wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde die vorgenannte Rechtsprechung von der Finanzverwaltung nicht allgemein anerkannt.

29

Der Zeitpunkt der vorbehaltlosen Veröffentlichung eines BFH-Urteils im Bundessteuerblatt hat Bedeutung für die Frage, wann zuvor von der Finanzverwaltung bestrittene Steuererstattungsansprüche zu aktivieren sind (BFH-Urteil vom 31.08.2011 X R 19/10, BFHE 234, 420). Auch wenn insoweit bereits EuGH- und BFH-Rechtsprechung zugunsten der Steuerpflichtigen vorliegt, hat ein Kaufmann entsprechende Umsatzsteuer-Erstattungsansprüche nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung spätestens zum ersten Bilanzstichtag zu aktivieren, der auf die vorbehaltlose Veröffentlichung der entsprechenden BFH-Rechtsprechung durch die Finanzverwaltung folgt (BFH-Urteil vom 31.08.2011 X R 19/10, BFHE 234, 420).

30

Diese Grundsätze sind aufgrund des bei der Bilanzerstellung zu beachtenden Vorsichtsprinzips (vgl. hierzu Weber-Grellet in Schmidt, Komm. zum EStG, 30. Aufl. 2011, § 5 Rn. 77) für die Frage, in welcher Höhe eine Rückstellung wegen ungewisser Umsatzsteuerverbindlichkeiten zu bilden ist, entsprechend anzuwenden.

31

Der BFH hat zwar ausdrücklich offen gelassen, ob eine frühere Aktivierung bereits im Zeitpunkt einer von der deutschen Finanzverwaltung unkommentierten Veröffentlichung eines EuGH-Urteils in Frage kommen kann (aaO. Rn. 28). Dies bedarf im Streitfall ebenfalls keiner Klärung. Die deutsche Finanzverwaltung ließ das o.g. EuGH-Urteil vom 19.09.2000 zwar zunächst unkommentiert. Jedoch war mit § 14 Abs. 3 UStG im Streitjahr 2002 weiterhin ein Gesetz in Kraft, das das o.g. EuGH-Urteil noch nicht berücksichtigte. Diese Norm wurde in Abschn. 190 UStR 2002 durch Verwaltungsanweisungen ausgefüllt, die dem o.g. EuGH-Urteil teilweise widersprachen. Jedenfalls solange abweichende Verwaltungsauffassungen und eine dem EuGH-Urteil widersprechende nationale Gesetzeslage beibehalten werden, muss ein Kaufmann eine Rückstellung auf der Basis des (für ihn nachteiligen) nationalen Gesetzes und der hierzu ergangenen Verwaltungsanweisungen bilden.

32

dd) Die Tatsache, dass die Finanzverwaltung für Fälle eines irrtümlich unberechtigten Steuerausweises schon vor der Veröffentlichung der o.g. Urteile des EuGH und des BFH eine Rechnungsberichtigung aus sachlichen Billigkeitsgründen zugelassen hat (BFH-Urteil vom 21.02.1980 V R 146/73, BStBl. II 1980, 283; Abschn. 190 Abs. 3 UStH 2002), führt zu keinem anderen Ergebnis. Die am Bilanzstichtag insoweit geltenden Verwaltungsanweisungen boten für die Klägerin keine hinreichende Gewähr, wann und in welcher Form derartige Berichtigungen steuerlich zu berücksichtigen waren, da sie weit unpräziser waren als § 14c UStG 2004 und das hierzu ergangene BMF-Schreiben vom 29.01.2004 (BStBl. I 2004, 258). Außerdem bestimmte Abschn. 190 Abs. 6 UStH 2002 -- im Gegensatz zu § 14c Abs. 2 Satz 3 und 4 UStG 2004 -- der Steueranspruch aus § 14 Abs. 3 UStG bestehe unabhängig davon, ob der Rechnungsempfänger die gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer unberechtigt als Vorsteuer abgezogen habe. Auf der Grundlage dieser Verwaltungsanweisungen musste die Klägerin am 31.12.2002 aus Gründen kaufmännischer Vorsicht mit einer Inanspruchnahme wegen unberechtigt ausgewiesener Umsatzsteuer im Hinblick auf die gesamten von ihr in Rechnung gestellten "Erdgaslieferungen" rechnen.

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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).