Landgericht Braunschweig
Urt. v. 14.03.1996, Az.: 4 O 497/95

Beurteilung der angemessenen Höhe eines Schmerzensgeldes bei Verursachung eines Unfalls durch den Beklagten aufgrund des Missachtens der Vorfahrtsregeln und einer dadurch verursachten Schädigung eines Radfahrers; Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 10% aufgrund des Verlustes des Geruchssinns

Bibliographie

Gericht
LG Braunschweig
Datum
14.03.1996
Aktenzeichen
4 O 497/95
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1996, 24852
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGBRAUN:1996:0314.4O497.95.0A

In dem Rechtsstreit
...
hat die 4. Zivilkammer des Landgerichts Braunschweig
auf die mündliche Verhandlung vom 15. Februar 1996
durch
den Vorsitzenden Richter am Landgericht ...
den Richter am Landgericht ... und
den Richter ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.

Das Urteil ist für die Beklagten wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung von 4.500,00 DM vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Klägerin macht einen Schmerzensgeldanspruch aufgrund eines Verkehrsunfalls am 16.08.1993 gegen 7.39 Uhr auf der ... in ... geltend. Der Beklagte zu 1) war Halter und Fahrer des unfallverursachenden Pkw, welcher bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert war.

2

Zu dem Unfall war es gekommen, weil der Beklagte zu 1) mit seinem Pkw die Vorfahrt der radfahrenden Klägerin mißachtet hatte. Ob der Beklagte zu 1) an diesem Morgen durch die tiefstehende Sonne geblendet war, ist zwischen den Parteien streitig. Im übrigen wird für die Einzelheiten des Unfallhergangs auf die Verkehrsunfallanzeige des Zentralen Verkehrsdienstes nebst Fotos Bezug genommen (Bl. 1 bis 4 der Beiakte, Staatsanwaltschaft ...).

3

Durch den Verkehrsunfall erlitt die damals 21jährige Klägerin eine Kopfprellung, eine Rückenprellung, Abschürfungen und eine Gehirnerschütterung. Für die Einzelheiten wird auf den ärztlichen Bericht vom 19.10.1993 ..., Ablichtung Bl. 11 f. d.A., verwiesen. Die Klägerin wurde vom 16. bis zum 27.08.1993 stationär im Städtischen Klinikum ... behandelt. Ferner mußte die Klägerin in der Zeit von August 1993 bis November 1993 mehrfach ambulant behandelt werden. Dabei wurde sie computertomographisch untersucht und auch geröntgt. Durch den Unfall hat die Klägerin dauerhaft den Geruchssinn verloren. Die Parteien streiten darüber, ob und in welchem Umfang auch ihr Geschmackssinn durch den Unfall gelitten hat.

4

Die Klägerin, von Beruf Sekretärin, war vom 16.08.1993 bis zum 19.09.1993 100 % arbeitsunfähig. Laut Gutachten des ... vom 13.05.1994 (Ablichtung Bl. 32 ff. d.A.) hat sich die Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Hinblick auf die festgestellte Geruchslosigkeit um 10 % auf Dauer vermindert.

5

Vorprozessual hat die Beklagte zu 2) der Klägerin Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 25.000,00 DM gezahlt. Mit Schreiben vom 21.07.1995 wurde die Beklagte zu 2) unter Fristsetzung bis zum 10.08.1995 aufgefordert, einen weiteren Schmerzensgeldbetrag von 15.000,00 DM sowie eine Rente von monatlich 350,00 DM anzuerkennen und zu zahlen.

6

Die Klägerin ist der Auffassung, ihr stehe aufgrund der Gesamtumstände ein wesentlich höheres Schmerzensgeld zu als die von der Beklagten zu 2) gezahlten 25.000,00 DM.

7

Sie behauptet dazu, sie habe infolge des Verkehrsunfalls auch den Geschmackssinn - zumindest für feine Aromen - verloren. Sie verweist dazu unter anderem auch auf ein von ihr eingeholtes Privatgutachten des Arztes für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, ... (Bl. 108 ff. d.A.).

8

Die Klägerin befürchtet, wegen des Geruchs- und Geschmacksverlustes erheblichen Gefahren ausgesetzt zu sein, z.B. dadurch, daß sie Brandgeruch nicht erkennen kann. Ferner sei sie in der Suche nach einem Lebenspartner bzw. bei der Gründung einer Familie mit Kindern aufgrund ihrer Dauerschäden benachteiligt, weil sie einen eigenen Haushalt nur eingeschränkt führen könne.

9

Zur Begründung der geforderten Schmerzensgeldrente trägt die Klägerin außerdem vor, der dauernde Verlust des Geruchssinnes und die Beeinträchtigung des Geschmackssinnes stellten für sie eine ständige Beeinträchtigung der Lebensfreude dar. Insoweit sei auch ihr Lebensalter zu berücksichtigen.

10

Die Klägerin beantragt unter Rücknahme des weitergehenden Zinsantrages,

  1. 1.

    die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld zuzüglich 4 % seit dem 11.08.1995 zu zahlen,

  2. 2.

    die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 350,00 DM vierteljährlich im voraus ab Klagzustellung jeweils am 03.01., 03.04., 03.07. und 03.10. eines jeden Jahres sowie eine Schmerzensgeldrente in Höhe von 1.050,00 DM für das vorausgehende letzte Vierteljahr nach Klageerhebung zu zahlen.

11

Die Beklagten beantragen,

die Klage abzuweisen.

12

Sie behaupten, der Beklagte zu 1) sei während des Unfalls durch die tiefstehende Sonne geblendet gewesen.

13

Das gezahlte Schmerzensgeld von 25.000,00 DM halten die Beklagten für angemessen und verweisen insofern auf entsprechende Gerichtsentscheidungen, deren Sachverhalt sie mit dem vorliegenden für vergleichbar halten.

14

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.

15

Zur Ergänzung des Sachvortrages Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Akten Staatsanwaltschaft ...

Entscheidungsgründe

16

I.

Die Klage ist unbegründet.

17

1.

Die Klägerin hat keinen weitergehenden Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld gegen die Beklagten nach §§ 847 BGB, 3 Nr. 1 PflVG.

18

Unter Berücksichtigung aller Umstände ist der von der Beklagten zu 2) gezahlte Schmerzensgeldbetrag von 25.000,00 DM als angemessen anzusehen.

19

a)

Auch unter Berücksichtigung des Klägervortrags zum Unfallhergang ist nicht davon auszugehen, der Beklagte zu 1) habe grob oder bewußt fahrlässig gehandelt. Auf die Frage, ob der Beklagte zu 1) durch die tiefstehende Morgensonne zum Unfallzeitpunkt geblendet war, kommt es nicht an. Der Beklagte zu 1) hat den Zusammenstoß mit der Klägerin aus Unachtsamkeit verursacht (vgl. auch Strafbefehl vom 14.10.1993, Bl. 17 ff. der Beiakte). Der Umstand allein, daß der Beklagte zu 1) die Klägerin übersehen und ihr die Vorfahrt genommen hat, läßt sein Verhalten jedoch nicht als grob rücksichtslos erscheinen. Vielmehr handelte es sich nach Auffassung des Gerichts um eine ganz typische Verkehrssituation. Anhaltspunkte für die Annahme, der Beklagte zu 1) habe die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt oder sogar möglicherweise eine Verletzung der Klägerin in Kauf genommen, sind - auch unter Berücksichtigung der polizeilichen Ermittlungen (vgl. Beiakte) - nicht erkennbar. Daß Radfahrer in einer derartigen Verkehrssituation völlig ungeschützt sind, ist bedauerlich, führt aber nicht zu einer anderen Beurteilung des Verschuldens des Beklagten zu 1).

20

b)

Die Verletzungen, die die Klägerin infolge des Unfalls erlitten hat (Kopfprellung, Rückenprellung, Abschürfungen, Gehirnerschütterung), waren minderschwer. Einer Operation mußte sich die Klägerin nicht unterziehen. Sie wurde nur kurze Zeit stationär behandelt. Insgesamt war sie rund einen Monat erwerbsunfähig. Als Dauerschaden ist zumindest ein völliger Verlust des Geruchssinns zu verzeichnen, der zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um mind. 10 % führt.

21

c)

Der vorliegende Fall ist - unter Berücksichtigung der vorstehenden Gesichtspunkte - mit den Sachverhalten vergleichbar, die den Entscheidungen des OLG Frankfurt am Main vom 25.02.1936 - 8 U 87/85 - und des OLG Schleswig vom 04.02.1993 - 7 U 241/91 - zugrundelagen.

22

Das OLG Frankfurt hielt ein Schmerzensgeld von insgesamt 20.000,00 DM für einen 20jährigen Kläger, der durch einen schweren Motorradunfall dauerhaft den Geruchssinn verloren hatte, mehrfach stationär behandelt und im Nasenbereich dreimal operiert worden war, für angemessen. Abweichend zum vorliegenden Fall mußte der Geschädigte allerdings seine Berufsausbildung als Koch abbrechen und war auch in seinem äußeren durch den Unfall beeinträchtigt (OLG Frankfurt am Main, VersR 1987, 1140 [OLG Frankfurt am Main 25.02.1986 - 8 U 87/85]).

23

Das OLG Schleswig hielt ein Schmerzensgeld von insgesamt 25.000,00 DM bei Totalverlust des Geruchs- und Geschmackssinns für angemessen. Der dem Urteil zugrundeliegende Sachverhalt ist mit dem vorliegenden auch bezüglich der Verletzungsfolgen, der Behandlungsdauer und der persönlichen Einschränkungen des Geschädigten vergleichbar <VersR 1994, 615>

24

d)

Berufliche Nachteile hat die Klägerin nicht dargetan. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, daß die Klägerin in ihrem beruflichen Werdegang als Sekretärin durch den Verlust zumindest des Geruchssinns beeinträchtigt werden wird.

25

e)

Auch die Sorge der Klägerin, wegen des Verlustes des Geruchssinns und des angeblichen Verlustes des Geschmackssinns keinen geeigneten Lebenspartner zu finden, vermag die Kammer mit Blick auf die fortschreitende Gleichberechtigung der Geschlechter nicht nachzuvollziehen, zumal die früher einmal typische Hausfrauenehe nicht mehr als gesetzliches Leitbild dient (Palandt, BGB, 55. Aufl., § 1360 Randnr. 8 ff.).

26

f)

Die Kammer hatte schließlich auch ihre bisher insgesamt zurückhaltende Rechtsprechung hinsichtlich der Gewährung von Schmerzensgeld zu beachten.

27

g)

Auf die Frage, ob die Klägerin durch den Unfall auch ihren Geschmackssinn verloren hat, kommt es danach nicht an. Selbst wenn die Klägerin feine Aromen nicht mehr wahrnehmen kann, dürfte ein Schmerzensgeld über die bereits gezahlten 25.000,00 DM hinaus nicht gerechtfertigt sein (vgl. oben Buchstabe c), Urteil des OLG Schleswig für den Fall eines völligen Verlustes des Geschmacks- und Geruchssinns).

28

Im übrigen ist auch nach dem von der Klägerin vorgelegten Gutachten des Arztes ... nicht davon auszugehen, daß die Klägerin ihren Geschmackssinn völlig verloren hat. Vielmehr geht der Gutachter von einem regelrechtem Geschmacksvermögen aus (Seite 11 des genannten Gutachtens, Bl. 122 d.A.). Die Beschränkung des Geschmackssinns der Klägerin auf süß, bitter, sauer usw. beruht nach den Ausführungen des Gutachters auf dem - unstreitig - verlorenen Geruchssinn der Klägerin.

29

Nach dem Vorstehenden darf auch offen bleiben, ob die - hier erfolgte - Strafverurteilung des Beklagten zu 1) für die Bemessung des Schmerzensgeldes von Bedeutung ist (vgl. BGH NJW 1995, 781 [BGH 29.11.1994 - VI ZR 93/94]).

30

2.

Ein Anspruch der Klägerin auf Zahlung einer Geldrente besteht nach den Ausführungen zu 1 ebenfalls nicht. Im übrigen kommt eine Schmerzengeldrente nur ausnahmsweise neben der Zahlung eines Kapitalbetrages in Betracht, wenn die lebenslängliche Beeinträchtigung des Geschädigten sich immer wieder erneuert und immer wieder schmerzlich empfunden wird (so z.B. bei ständigen Schmerzen, erheblicher Beeinträchtigung der Lebensqualität und ähnlichem; vgl. Palandt, a.a.O., § 847 Randnr. 12). Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben (siehe oben).

31

II.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1 Satz 1. 269 III 3, 709 Satz 1 ZPO.