Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 18.05.1999, Az.: 4 B 181/99
Einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis; Bewilligung von Beihilfen zur Beschaffung von Fahrrädern
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 18.05.1999
- Aktenzeichen
- 4 B 181/99
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1999, 13939
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:1999:0518.4B181.99.0A
Rechtsgrundlagen
- § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO
- § 21 Abs. 1 BSHG
Fundstellen
- ZfF 2000, 274-275
- info also 2001, 116
Verfahrensgegenstand
Sozialhilfe (einmalige Beihilfe für Kinderfahrräder)
hat
das Verwaltungsgericht Braunschweig - 4. Kammer -
am 18. Mai 1999
beschlossen:
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragstellerinnen einmalige Beihilfen zur Beschaffung von gebrauchten Kinderfahrrädern in Höhe von jeweils 50, — DM zu gewähren.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Gründe
Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zur Bewilligung von Beihilfen zur Beschaffung von Fahrrädern für die im Juni 1987 bzw. im August 1988 geborenen Antragstellerinnen zu verpflichten, sind zulässig und begründet.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn diese Regelung, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Da nach Wesen und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die vorläufige Regelung grundsätzlich die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen darf, kann eine Verpflichtung zur Erbringung von Geldleistungen - wie sie im vorliegenden Fall von den Antragstellerinnen begehrt wird - im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur ausgesprochen werden, wenn die Antragstellerinnen die tatsächlichen Voraussetzungen für einen entsprechenden Anspruch (Anordnungsanspruch) und weiterhin glaubhaft machen, sie befänden sich wegen fehlender anderer Geldmittel in einer existenziellen Notlage und seien deswegen - mit gerichtlicher Hilfe - auf die sofortige Befriedigung ihrer Ansprüche dringend angewiesen (Anordnungsgrund).
Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung steht den Antragstellerinnen der geltend gemachte Anspruch zu.
Nach den §§11, 12 BSHG ist demjenigen Hilfe zum Lebensunterhalt zur gewähren, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen kann. Der notwendige Lebensunterhalt umfasst besonders Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Dieser Bedarf kann nach § 21 Abs. 1 BSHG durch laufende und einmalige Leistungen gedeckt werden. Umstritten ist zwischen den Beteiligten lediglich, ob es sich bei einem Kinderfahrrad für Kinder im schulpflichtigen Alter um ein Gebrauchsgut von längerer Gebrauchsdauer und höherem Anschaffungswert i. S. des § 21 Abs. 1 a Nr. 6 BSHG handelt. Bei der Beantwortung dieser Frage ist zu berücksichtigen, dass der notwendige Lebensunterhalt i. S. des Bundessozialhilfegesetzes über den unentbehrlichen Lebensunterhalt i. S. des Existenzminimums hinausgeht. Der Hilfeempfänger soll dazu befähigt werden, ein an den herrschenden Lebensgewohnheiten orientiertes Leben zu führen. Er darf sich insoweit nicht negativ von nicht hilfebedürftigen Personen mit niedrigem Einkommen unterscheiden, sondern soll ähnlich wie diese in der Umgebung von Nichthilfeempfängern leben können. Der notwendige Lebensunterhalt unterliegt auch dem Wandel der Zeit, weil sich die herrschenden Lebensgewohnheiten und damit auch die Anschauung über ein menschenwürdiges Leben verändern. Für die Beurteilung, ob ein Gebrauchsgegenstand danach zum notwendigen Lebensunterhalt gehört, ist allerdings nicht entscheidend auf die Ausstattungsdichte abzustellen, da es nicht Aufgabe der Sozialhilfe ist, einen sozialen Mindeststandard oder eine höchstmögliche Ausstattung der Hilfeempfänger zu Gewähr leisten und überdies der Begriff der Nichthilfeempfänger einen überaus unbestimmten Kreis von Personen umfasst. Maßgebend für die Zuordnung eines Gebrauchsgutes zum notwendigen Lebensunterhalt ist unter Berücksichtigung der nach § 3 Abs. 1 BSHG gebotenen Betrachtung der Besonderheiten des Einzelfalles, ob sich der Hilfeempfänger ohne den Besitz des begehrten Gebrauchsgutes negativ von den Lebensgewohnheiten von Nichthilfeempfängern mit niedrigem Einkommen abhebt oder die begehrte Leistung lediglich eine Annehmlichkeit darstellt (vgl. das Urteil des BVerwG v. 03.11.1988 - 5 C 69. 85 -, BVerwGE 80, 349 ff.).
Nach diesen Grundsätzen steht den Antragstellerinnen ein Anspruch auf die begehrte Beihilfen zum Erwerb von Kinderfahrrädern zu. Für die Antragstellerin zu 2) ergibt sich dies ohne weiteres daraus, dass die von ihr besuchte Grundschule […] für die dort beschulten Schüler eine Fahrradprüfung und Vorbereitungsübungen veranstaltet. Bereits im Jahre 1990 hat die erkennende Kammer (Urt. v. 07.06.1990 - 4 A 4538/89 -, NVwZ-RR 1990, 613) unter Hinweis auf die Rechtsprechung des OVG Lüneburg und Bezugnahme auf die "Rahmenrichtlinien für Verkehrserziehung im Lande Niedersachsen" festgestellt, dass Kinder nach Beendigung der Grundschulzeit in der Lage sein müssten, sich im Nachbereich der Schule und ihrer Wohnung verkehrssicher zu bewegen. Das dazu erforderliche Training und auch das Ablegen der Fahrradprüfung sind jedoch nur beim Besitz eines eigenen, ständig zur Verfügung stehenden Fahrrades möglich. Für diesen Fall kann nach Auffassung der Kammer auch nicht bestritten werden, dass der Besitz eines Fahrrades mehr als nur eine Annehmlichkeit darstellt.
Daraus ergibt sich für die Kammer auch, dass der Antragstellerin zu 1) ebenfalls der Erwerb eines gebrauchten Fahrrades durch die Gewährung einer einmaligen Beihilfe zu ermöglichen ist. Der Versorgungsgrad mit Fahrrädern bei Kindern, die wie die Antragstellern zu 1) dem Grundschulalter entwachsen sind, dürfte nach Einschätzung der Kammer bei annähernd 100 % liegen. Zwar mag es für die Antragstellerin zu 1), die in der an das öffentliche Verkehrsnetz gut angebundenen Braunschweiger [... ] wohnt, zur Erreichung von weiter entfernt liegenden Zielen nicht zwingend notwendig sein, im Besitz eines Fahrrades zu sein, doch hätte das Fehlen eines solchen Fahrrades eindeutig ausgrenzenden Charakter. Dies zu vermeiden, ist nach den oben dargestellten Grundsätzen jedoch gerade Aufgabe der Sozialhilfe. Zudem erscheint es der Kammer nicht überzeugend, Kindern zum Erwerb der Fähigkeit des Fahrradfahrens im bescheidenen Rahmen den Besitz eines gebrauchten Fahrrades zu ermöglichen, ihnen jedoch anschließend unter Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der übrigen Schulkinder diese Möglichkeit wieder zu nehmen.
Das Ergebnis steht auch nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes. Das Bundesverwaltungsgericht hat - wie die Antragsgegnerin zu Recht anführt - entschieden, dass das Regelsatzsystem ein geschlossenes System (Urt. v. 13.12.1990 - 5 C 17. 88 -, BVerwGE Bd. 87, 212 ff. ), und darüber hinaus die Bewilligung von einmaligen Leistungen für dieselben Bedarfsgruppen der Regelsätze unzulässig sei. Dabei ist auch gerade auf die besonderen Bedürfnisse der jeweiligen Gruppen von Hilfeempfängern (vgl. § 2 der RegelsatzVO) einzugehen. Der Regelbedarf kennzeichnet sich dadurch, dass er als nicht nur einmaliger, ohne Besonderheiten des Einzelfalles bei vielen Hilfeempfängern gleichermaßen bestehender, den in § 1 Abs. 1 der RegelsatzVO genannten Bedarfsgruppen unterfallender Bedarf besteht (BVerwG, Urt. v. 21.01.1993 - 5 C 34. 92 -, info also 93, 74 ff.). Nur so ist es zu erklären, dass der aus Anlass der Einschulung eines Kindes und gleichsam bei allen Kindern (dieser Altersgruppe) auftretende Bedarf vom Bundesverwaltungsgericht als einmaliger Bedarf, der nicht durch Regelsätze abgedeckt ist, gesehen wird (a.a.O. ). Ist jedoch - wie hier - innerhalb der Gruppeneinteilung des § 2 der RegelsatzVO der Bedarf an einem Fahrrad als einmaliger bzw. besonderer Bedarf einzustufen, so kommt auch eine einmalige Beihilfe in Betracht. Für die Rechtslage nach der Einführung der Absätze 1a) und 1b) in § 21 BSHG durch das FKPG vom 23.06.1993 hat das Bundesverwaltungsgericht dies ausdrücklich klargestellt (Urt. v. 18.12.1997 - 5 C 7. 95 - info also 98, 77 ff.).
Lediglich ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass sie an ihrer Rechtsprechung zu Vorschulkindern (Urt. v. 11.07.1996 - 4 A 4001/96 -) festzuhalten gedenkt. Auch für erwachsene Hilfeempfänger dürfte die Bewilligung eines Fahrrades nicht in Betracht kommen, da es für diese Gruppe nicht im gleichen Maße üblich ist, mit dem Fahrrad zu fahren wie für Kinder und Jugendliche.
Hinsichtlich der Höhe der zu bewilligenden Beihilfen bezieht sich die Kammer auf die Angaben der Mutter der Antragstellerinnen. Diese hat gegenüber dem Berichterstatter angegeben, dass die Preisvorstellungen von Verkäufern von gebrauchten Fahrrädern ihrer Erfahrung nach bei 30 bis 40,00 DM beginnen, zum Teil aber auch 100,00 DM betrügen. Die Kammer hält daher pro Fahrrad eine einmalige Beihilfe in Höhe von 50,00 DM für angemessen aber auch ausreichend.