Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 29.10.2018, Az.: 2 K 277/17
Streit über die teilweise Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung; Rechtswidrige Anrechnung niederländischen Kindergeldes
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 29.10.2018
- Aktenzeichen
- 2 K 277/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 73658
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BFH - AZ: III R 73/18
Rechtsgrundlagen
- Art. 11 Abs. 1 VO Nr. 883/2004
- Art. 11 Abs. 3 Buchst. a) VO Nr. 883/2004
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten die teilweise Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für die im Jahr 1998 geborenen Kinder des Klägers, A und B, sowie die hiermit verbundene Rückforderung von Kindergeld durch die beklagte Familienkasse in Höhe von insgesamt 8.931,70 € für die Zeiträume Januar 2012 bis Dezember 2014 und Januar 2015 bis Januar 2016.
Der Kläger wohnt - und wohnte auch während des streitigen Zeitraums - mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern in Z. Für seine Kinder A und B bezog der Kläger seit dem Jahr 1998 Kindergeld in Deutschland. Im Jahr 2000 nahm der Kläger eine Tätigkeit als Arbeitnehmer in den Niederlanden auf. Die Ehefrau des Klägers bezog eine Rente und war im Streitzeitraum in geringfügigem Umfang gewerblich tätig.
Nachdem die Kinder das 18. Lebensjahr erreicht hatten und der Kläger im Februar 2016 (neuerlich) Kindergeld für seine in der Schulausbildung befindlichen Kinder beantragte, prüfte die Beklagte aufgrund der - ihr gegenüber erstmals erfolgten - Angabe des Klägers zu seiner Berufstätigkeit in den Niederlanden, ob der Kläger für die in der Vergangenheit liegenden Zeiträume kindergeldberechtigt war. Dazu holte die Beklagte auch Auskünfte bei der zuständigen niederländischen Trägerin, Sociale Verzekeringsbank (SVB) in Y, ein. Eine Weiterleitung des von dem Kläger 2016 bei der Beklagten eingereichten Kindergeldantrags an die SVB Y durch die Beklagte ist aus der elektronischen Kindergeldakte nicht ersichtlich.
Mit Bescheid vom 31. Oktober 2016 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung gemäß § 70 Abs. 2 EStG für folgende Zeiträume und in folgender Höhe auf:
- Januar 2011 bis Dezember 2011 in Höhe von 185,70 € monatlich;
- Januar 2012 bis Juni 2012 in Höhe von 179,60 € monatlich;
- Juli 2012 bis Dezember 2014 in Höhe von 182,52 € monatlich (insgesamt 8.781,60 €).
Mit weiterem Bescheid vom 31. Oktober 2016 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung gemäß § 70 Abs. 2 EStG für folgende Zeiträume und in folgender Höhe auf:
- Januar 2015 bis Dezember 2015 in Höhe von 182,52 € monatlich;
- ab Januar 2016 in Höhe von 188,26 € monatlich (insgesamt 2.378,50 € bis einschließlich Januar 2016).
Die oben genannten Beträge (bis einschließlich Januar 2016) forderte die Beklagte von dem Kläger zurück, wies jedoch darauf hin, dass eine Zahlung des auf den Zeitraum Januar 2015 bis Januar 2016 noch nicht erforderlich sei, da insoweit der ausländische (d.h. niederländische) Träger um Erstattung gebeten worden sei.
Die Beklagte begründete die Aufhebung und Rückforderung in beiden Bescheiden jeweils damit, dass der Kläger zwar grundsätzlich einen Anspruch auf Kindergeld für die in Deutschland wohnhaften Kinder habe, ihm aber gleichzeitig Familienleistungen in den Niederlanden zustünden. Diese Anspruchskonkurrenz sei anhand der Koordinierungsregelungen der Europäischen Union (EU) zu lösen. Danach sei maßgeblich, ob in den betreffenden Staaten eine Erwerbstätigkeit ausgeübt bzw. eine Rente bezogen werde oder der Anspruch auf Familienleistungen allein durch den Wohnort ausgelöst werden (Art. 67, 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit; im Folgenden VO Nr. 883/2004). Da der Kläger eine Erwerbstätigkeit in den Niederlanden ausübe und seine Ehefrau in Deutschland nicht bzw. nur geringfügig erwerbstätig sei, bestehe ein vorrangiger Anspruch auf Familienleistungen in den Niederlanden (Art. 68 Abs. 1 Buchst. a) VO Nr. 883/2004).
Mit weiterem Bescheid vom 31. Oktober 2016 setzte die Beklagte ab April 2016 wieder volles Kindergeld für A und B in gesetzlicher Höhe fest, da in den Niederlanden nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs, vorliegend mithin für das erste Quartal 2016 Kindergeld gezahlt wurde.
Mit weiterem Bescheid vom 31. Oktober 2016 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für A und B ab dem Monat August 2016 auf mit Verweis auf das Ende der Schulausbildungen beider Kinder.
Gegen den Bescheid vom 31. Oktober 2016 über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und Rückforderung von Kindergeld für den Zeitraum Januar 2011 bis Dezember 2014 sowie gegen den Bescheid vom 31. Oktober 2016 über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und Rückforderung von Kindergeld für den Zeitraum von Januar 2015 bis Dezember 2015 und ab Januar 2016 (bzw. bis Januar 2016, soweit die Rückforderung betroffen war) legte der Kläger mit Schreiben vom 23. November 2016 Einspruch ein.
Er machte geltend, auch bei Nachrangigkeit des Kindergeldanspruchs in Deutschland komme eine fiktive Anrechnung von in den Niederlanden - nicht ausgezahltem und damit tatsächlich nicht bezogenem - Kindergeld nicht in Betracht. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe in seinen Urteilen vom 22. Oktober 2015 (C-378/14, "Trapkowski") sowie vom 14. Oktober 2010 (C-16/09, "Schwemmer") das Vorliegen einer Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen in solchen Fällen abgelehnt, in denen Leistungen in dem Mitgliedstaat des Wohnortes des Kindes geschuldet werden und zugleich in einem anderen Mitgliedstaat, in dem ein Elternteil des Kindes wohnt, lediglich potentiell gezahlt werden könnten. Diese Rechtsprechung sei auch vorliegend, d.h. im Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004, anzuwenden. Eine fiktive Anrechnung von in den Niederlanden nicht gezahltem Kindergeld komme deshalb mangels kumulierender Ansprüche nicht in Betracht. Ferner habe es sich dem Kläger nicht aufgedrängt, dass in den Niederlanden ein Kindergeldanspruch aufgrund seiner dortigen Erwerbstätigkeit bestehe bzw. bestanden habe. Es sei durch das Verhalten des Klägers insbesondere nicht zu einer Besserstellung gekommen, denn bei Zahlung des Differenzkindergeldes durch Deutschland wäre der insgesamt erhaltene Betrag genauso hoch gewesen. Selbst wenn die Beklagte einen Rückzahlungsanspruch habe, stehe seiner Geltendmachung der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen, denn die Beklagte habe bei voller Kenntnis der Sachlage Kindergeld gezahlt und der Kläger habe bei objektiver Beurteilung davon ausgehen können, dass er nicht mehr in Anspruch genommen werden sollte.
Mit Schreiben vom 2. Mai 2017 teilte die Beklagte dem Kläger mit, er, der Kläger, habe für den Zeitraum Januar 2015 bis Januar 2016 Kindergeld in den Niederlanden erhalten. Aufgrund der dort erfolgten Antragstellung und Nachzahlung von Kindergeld sei für diesen Zeitraum eine Erstattung durch den niederländischen Träger an die Beklagte nicht mehr möglich, so dass der überbezahlte Betrag direkt von dem Kläger zurückzufordern sei. Dem fügte die Beklagte ein Auskunftsschreiben der SVB Y vom 13. Oktober 2016 bei, dem zufolge in den Niederlanden für die Kinder A und B für die Quartale 1 bis 4 des Jahres 2015 und für das erste Quartal 2016 Kindergeld in Höhe von jeweils 273,78 € (d.h. monatlich insgesamt 182,52 € bzw. 91,26 € für jedes Kind) gezahlt wurde.
Im Übrigen änderte die Beklagte am 3. Mai 2017 den Bescheid vom 31. Oktober 2016 betreffend den Zeitraum von Januar 2011 bis Dezember 2014 nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a Abgabenordnung -AO- dahingehend, dass sie die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Januar 2011 bis Dezember 2011 rückgängig machte. Die Beklagte forderte den auf diesen Zeitraum entfallenden Betrag in Höhe von 2.228,40 € deshalb nicht mehr von dem Kläger zurück.
Mit Einspruchsentscheidungen vom 7. September 2017 wies die Beklagte die Einsprüche des Klägers im Übrigen als unbegründet zurück. Der Kläger erfülle die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch in Deutschland (§ 62 Abs. 1 EStG). Für die Kinder A und B bestehe jedoch zugleich in einem anderen Staat der EU, in den Niederlanden, ein Anspruch auf Kindergeld. Die Konkurrenz zwischen den Kindergeldansprüchen werde durch Art. 67 und 68 VO Nr. 883/2004 gelöst, um funktionsidentische Doppelleistungen in verschiedenen Staaten zu vermeiden. Hiernach habe eine Person für Familienangehörige, die in einem anderen EU-Staat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen EU-Staates, als ob die Familienangehörigen in diesem EU-Staat wohnen würden. Seien für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer EU-Staaten zu gewähren, so sei vorrangig der Staat zuständig, in dem eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit ausgeübt werde. Hierauf folgten die durch den Bezug einer Rente und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche (Art. 68 Abs. 1 Buchst a) VO Nr. 883/2004). Vorliegend sei nach dieser Vorschrift der Kindergeldanspruch im Staat des Wohnortes der Kinder, Deutschland, gegenüber den niederländischen Familienleistungen nachrangig, und da die niederländischen Familienleistungen nicht die Höhe des deutschen Kindergeldes erreichten, seien dem Kläger (lediglich) die entsprechenden Differenzbeträge zu zahlen. Für die Monate Januar 2012 bis einschließlich Juni 2012 habe der Kläger in den Niederlanden einen Anspruch auf Familienleistungen in Höhe von (insgesamt, d.h. für beide Kinder) 179,60 € monatlich gehabt und für den Zeitraum von Juli 2012 bis Dezember 2014 in Höhe von insgesamt 182,52 € monatlich, so dass sich in Deutschland ein Anspruch auf Differenzbeträge in Höhe von 6.694,80 € ergeben hätten. Da der Kläger in Deutschland Kindergeld in Höhe von insgesamt 13.248 € erhalten habe, sei eine Überzahlung von 6.553,20 € eingetreten. Für den Zeitraum von Januar 2015 bis Januar 2016 habe ein Anspruch auf niederländischen Familienleistungen in Höhe von insgesamt 182,52 € monatlich bestanden. Für diesen Zeitraum habe der Kläger in Deutschland Kindergeld in Höhe von insgesamt 4.892 € erhalten, so dass für diesen Zeitraum eine Überzahlung in Höhe von 2.378,50 € vorliege.
Die Rechtsprechung des EuGH in den Verfahren "Trapkowski" und "Schwemmer" beziehe sich auf die Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und Nr. 574/72. Unter der hier anwendbaren VO Nr. 883/2004 könne eine Situation, in der ein Anspruch auf Familienleistungen wegen fehlender Antragstellung in einem (vorrangig zuständigen) Mitgliedstaat abgelehnt werde, nicht mehr eintreten, denn Art. 68 Abs. 3 VO Nr. 883/2004 sehe vor, dass der nachrangig zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem der Antrag gestellt wird, den Antrag an den vorrangig zuständigen Träger des anderen Mitgliedstaats weiterleite. Vorliegend sei dies allein deshalb unterblieben, weil der Kläger der Beklagte nicht über seine Erwerbstätigkeit in den Niederlanden unterrichtet habe. In dem Merkblatt, das der Kläger im Jahr 1998 im Zusammenhang mit seiner erstmaligen Antragstellung erhalten habe, sei darauf hingewiesen worden, dass eine Beschäftigungsaufnahme im Ausland anzuzeigen sei. Der Kläger habe der Beklagten im Jahr 2000 unverzüglich mitteilen müssen, dass er nun in den Niederlanden arbeite.
Die Festsetzung von Kindergeld sei demnach gemäß § 70 Abs. 2 EStG in Höhe der niederländischen Familienleistungen aufzuheben und der überzahlte Betrag zurückzufordern gewesen.
Hiergegen richtet sich der Kläger mit seiner Klage, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.
Er verweist auf seinen Vortrag im Einspruchsverfahren und ferner darauf, dass die Beklagte selbst auf eine Sachstandsanfrage am 2. Mai 2017 mitgeteilt habe, es bestehe "in Ermangelung einer höchstrichterlichen Entscheidung bezüglich der Anwendbarkeit des EuGH-Urteils in der Rechtssache "Schwemmer" auf die neue Unionsrechtslage noch interner Klärungsbedarf mit der Familienkassen-Direktion". Es bestünden damit auch seitens der Beklagten Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Bescheid vom 31. Oktober 2016 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 3. Mai 2017 über die teilweise Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und Rückforderung von Kindergeld für die Kinder A und B für den Zeitraum von Januar 2012 bis Dezember 2014 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 7. September 2017 aufzuheben,
- 2.
den Bescheid vom 31. Oktober 2016 über die teilweise Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für die Kinder A und B von Januar bis Dezember 2015 und ab Januar 2016 sowie die Rückforderung von Kindergeld für den Zeitraum von Januar 2015 bis Januar 2016 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 7. September 2017 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist unverändert der Auffassung, dass die ergangenen Entscheidungen über die (teilweise) Aufhebung der Festsetzung des Kindergeldes und seiner Rückforderung rechtmäßig seien. Zur Begründung verweist sie auf ihre Schriftsätze vom 24. November 2017 und vom 14. Dezember 2017, namentlich auf die ihrer Ansicht nach nicht auf die VO Nr. 883/2004 anzuwendende Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache "Schwemmer" sowie auf den ihrer Ansicht nach für die Rückforderung ursächlichen Verstoß des Klägers gegen seine Mitteilungspflicht hinsichtlich der Erwerbstätigkeit in den Niederlanden.
Entscheidungsgründe
I. Die zulässige Klage ist begründet, soweit sie die Aufhebung und Rückforderung festgesetzten Kindergeldes für den Zeitraum Januar 2012 bis Dezember 2014 betrifft. Die teilweise Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum ab Januar 2015 (bis einschließlich März 2016) und die damit verbundene Rückforderung des anteiligen Kindergeldes von Januar 2015 bis einschließlich Januar 2016 in der Höhe, in der der Kläger für diesen Zeitraum Kindergeld in den Niederlanden bezogen hat, ist demgegenüber zu Recht erfolgt.
1. Aus unionsrechtlichen Gründen ist die Anrechnung niederländischen Kindergeldes im vorliegenden Fall zu Unrecht erfolgt, soweit der Zeitraum Januar 2012 bis Dezember 2014 betroffen ist, denn die hier streitige Frage, ob die vom EuGH in der Rechtssache "Schwemmer" (Urteil vom 14. Oktober 2010 C-16/09) aufgestellten Grundsätze auch auf die VO Nr. 883/2004 anwendbar sind, ist nach Ansicht des Senats zu bejahen (s. dazu nachfolgend zu b.). Der entsprechende, auf § 70 Abs. 2 EStG gestützte Aufhebungsbescheid der Beklagten ist rechtswidrig. Der Rückforderungsbescheid ist ebenfalls rechtswidrig, denn der Grund für die Kindergeldfestsetzung von Januar 2012 bis Dezember 2014 ist nicht nachträglich im Sinne des § 37 Abs. 2 Satz 2 AO entfallen.
a. Der in Deutschland wohnende Kläger erfüllt in Bezug auf seine beiden im Streitzeitraum noch minderjährigen Kinder die nationalrechtlichen Anforderungen an die Gewährung von Kindergeld (§§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1, 64 Abs. 2 Satz 2 EStG).
b. Im Streitfall ist die seit Mai 2010 - und damit im Streitzeitraum - geltende Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) i.V.m. Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 987/2009) anzuwenden (vgl. Art. 91 Abs. 2 VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 97 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009).
aa. Ihr persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich sind eröffnet. Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger (Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004) und das Kindergeld ist eine Familienleistung i.S. des Art. 3 Abs. 1 Buchst. j) i.V.m. Art. 1 Buchst. z) der VO Nr. 883/2004 (vgl. dazu etwa Bundesfinanzhof - BFH -, Urteil vom 10. März 2016, III R 62/12, BFHE 253, 236). Der Kläger unterliegt nach Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. a) der VO Nr. 883/2004 aufgrund seiner Beschäftigung in den Niederlanden den niederländischen Rechtsvorschriften.
bb. Der Anwendung der deutschen Kindergeldvorschriften steht die unionsrechtliche Unzuständigkeit Deutschlands nicht entgegen (vgl. BFH-Urteil vom 4. Februar 2016, III R 9/15, BFHE 253, 139, BStBl II 2017, 121).
cc. Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, gilt Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004, der der Sache nach an die Stelle der zuvor anwendbaren Art. 76 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71) sowie Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 574/72) getreten ist. Die Vorschrift unterscheidet den vorrangig zuständigen Staat, der ohne Weiteres uneingeschränkt Kindergeld zu gewähren hat (Art. 60 Abs. 2 der VO Nr. 987/2009; vgl. auch DA 214.2 Abs. 4, 214.5), vom nachrangig zuständigen Staat, in dem die Ansprüche auf Familienleistungen ausgesetzt werden und zwar bis zur Höhe der vom vorrangig zuständigen Staat vorgesehenen Leistungen (Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004).
dd. Zur Anwendbarkeit des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 hat der EuGH allerdings im Urteil vom 22. Oktober 2015, C-378/14 "Trapkowski", Rn. 32 - unter Verweis auf sein Urteil vom 14. Oktober 2010, C-16/09 "Schwemmer", Rn. 52 - darauf hingewiesen, dass es nach seiner ständigen Rechtsprechung für die Annahme, dass in einem bestimmten Fall eine Kumulierung vorliegt, nicht genügt, dass Leistungen in dem Mitgliedstaat, in dem das betreffende Kind wohnt, geschuldet werden und zugleich in einem anderen Mitgliedstaat, in dem ein Elternteil dieses Kindes arbeitet, lediglich potenziell gezahlt werden können (in diesem Sinne auch FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Oktober 2013, 3 K 3137/12, EFG 2014, 214). Diesen Gedanken hat der BFH unter Geltung der VO Nr. 1408/71 auch dann für anwendbar gehalten, wenn die Kumulation in der Person desselben Steuerpflichtigen vorliegt (vgl. BFH-Urteile vom 5. September 2013, XI R 52/10, BFH/NV 2014, 33; und vom 18. Juli 2013, III R 51/09, BFHE 242, 222, BStBl II 2016, 947). Der Senat erkennt keinen Grund dafür, dass es sich nach neuer Unionsrechtslage anders verhalten könnte, zumal der Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 Hs. 1 der VO Nr. 883/2004 ohne Weiteres auch die intrapersonelle Kollision erfasst (so auch FG Münster, Urteil vom 5. August 2016, 4 K 3115/14, juris; FG Nürnberg, Urteil vom 15. Februar 2017, 3 K 1601/14, juris).
Auch als nachrangig zuständiger Staat dürfte Deutschland im Rahmen des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 bei dieser Sichtweise unter den Umständen des Streitfalls keine Anrechnung nur fiktiven, nicht tatsächlich gezahlten niederländischen Kindergeldes vornehmen. Weder der Kläger noch seiner Ehefrau haben im Streitfall in den Niederlanden im Zeitraum Januar 2011 (bzw. soweit hier noch streitig, 2012) bis Dezember 2014 tatsächlich niederländische Familienleistungen bezogen.
ee. Dem steht unter den Umständen des Streitfalls nicht entgegen, dass Art. 68 Abs. 3 Buchst. a) der VO Nr. 883/2004 nahelegen könnte, dass der nachrangig zuständige Staat - unbeschadet der tatsächlichen Gewährung von Kindergeld im Ausland - (lediglich) Differenzkindergeld zu gewähren hat. Die Regelung hat den verordnungsmäßigen Regelablauf des Art. 68 Abs. 2, 3 der VO Nr. 883/2004 vor Augen. Dieser sieht vor, dass ein nachrangig zuständiger Staat - und nur dann käme im Streitfall die Gewährung von Differenzkindergeld in Betracht - den Antrag auf Grundlage der Verordnung an den vorrangig zuständigen Staat weiterleitet, damit dieser den dortigen Kindergeldanspruch auf der Grundlage der zeitlichen Fiktionswirkung (Art. 68 Abs. 3 Buchst. b) der VO Nr. 883/2004) prüfen kann. Dieser Ablauf, der im Übrigen auch der Durchführungsanweisung zum über- und zwischenstaatlichen Recht der Familienkasse Direktion (DA 214.821) entspricht, ist indessen im Streitfall nicht eingehalten worden. Die Beklagte ging vielmehr (fälschlich) davon aus, dass aus Rechtsgründen ohne Weiteres eine fiktive Anrechnung vorzunehmen ist (vgl. dazu die in der Kindergeldakte enthaltenen Schreiben an den Antragsteller und die SVB Y, mit denen Information zur Vornahme der fiktiven Anrechnung eingeholt werden, ohne die in Art. 68 Abs. 2, 3 der VO Nr. 883/2004 vorgesehene Antragsweiterleitung zu beachten).
ff. Dass der Kläger der Beklagten die Änderung seiner beruflichen Verhältnisse im Jahr 2000 erstmals im Jahr 2016 mitgeteilt hat, ändert nichts an der Beurteilung für den Zeitraum von Januar 2012 bis Dezember 2014. Zum einen ist - angesichts des unterlassenen verordnungsmäßigen Vorgehens der Beklagten - im Streitfall schon nicht hinreichend erkennbar, inwieweit sich diese Mitwirkungspflichtverletzung des Klägers überhaupt ausgewirkt hat bzw. ausgewirkt hätte. Es bestehen auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger hinsichtlich der unterlassenen Antragstellung in den Niederlanden missbräuchlich gehandelt haben könnte. Es drängt sich jedenfalls nicht auf, dass in den Niederlanden ein Kindergeldanspruch (auch) aufgrund einer Erwerbstätigkeit gewährt wird. Im Übrigen spricht für einen Missbrauch aber auch deswegen nichts, weil sich der Kläger durch sein Verhalten nicht hätte besserstellen können. Denn die von ihm insgesamt zu beanspruchende Zahlung wäre bei einer Differenzkindergeldpflicht Deutschlands im Ergebnis ebenso hoch gewesen.
gg. Im (sachlichen und persönlichen) Anwendungsbereich des Unionsrechts bleibt die Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG auch nach neuer Verordnungslage ausgeschlossen (vgl. BFH-Urteil vom 4. Februar 2016, III R 9/15, BFHE 253, 139; zur alten Rechtslage BFH-Urteile vom 5. September 2013, XI R 52/10, BFH/NV 2014, 33 und vom 18. Juli 2013, III R 51/09, BFHE 242, 222).
2. Hinsichtlich des Zeitraums von Januar 2015 bis einschließlich März 2016 hat die Beklagte die Kindergeldfestsetzung zu Recht teilweise aufgehoben und den bis einschließlich Januar 2016 überzahlten Betrag in Höhe von insgesamt 2.378,50 € vom Kläger zurückgefordert. Die Beklagte war insoweit zu einer nachträglichen Anrechnung des in den Niederlanden gezahlten Kindergeldes auf der Grundlage von § 70 Abs. 2 EStG (zur rückwirkenden Änderung der Verhältnisse s. BFH-Urteil vom 28. November 2006, III R 6/06, BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717) oder von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (rückwirkendes Ereignis) berechtigt. Die Rechtsgrundlage für die Rückforderung des überzahlten Betrags ergibt sich aus § 37 Abs. 2 Satz 2 AO.
a. Zwar erfolgte auch die spätere, tatsächliche Kindergeldgewährung in den Niederlanden ab Januar 2015 aufgrund des dort im März 2016 gestellten Antrags des Klägers und daher ohne Rücksicht auf die unionsrechtliche (zeitliche) Fiktionswirkung, d.h. sie war, soweit dies aus der dem Gericht vorliegenden, elektronischen Kindergeldakte ersichtlich ist, nicht ausgelöst durch eine Antragsweiterleitung durch die Beklagte. Da der Kindergeldantrag bei der Beklagten im Februar 2016 einging, hätte jedoch - der Auskunft des SVB Y vom 13. Oktober 2016 nach zu urteilen - infolge einer Weiterleitung auch bei Geltung der zeitlichen Fiktionswirkung des Art. 68 Abs. 3 Buchst. b) der VO Nr. 883/2004 in den Niederlanden eine Festsetzung von Kindergeld (unverändert und wie ohnehin erfolgt) frühestens ab dem Monat Januar 2015, d.h. für das erste Quartal 2015, erfolgen können.
b. Im Zeitpunkt des Erlasses der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide am 31. Oktober 2016 hatte die Beklagte durch die Auskunft der SVB Y vom 13. Oktober 2016 auch bereits Kenntnis davon, dass der Kläger für den Zeitraum Januar 2015 bis einschließlich März 2016 in den Niederlanden nunmehr Kindergeld beantragt und auch tatsächlich erhalten hatte. Zwar ist damit die Auszahlung des Kindergeldes nicht aufgrund des in Art. 68 Abs. 3 der VO Nr. 883/2004 vorgeschrieben Verfahrens erfolgt; gleichwohl hat der Kläger für den von der zeitlichen Fiktionswirkung umfassten Zeitraum, d.h. bis einschließlich Januar 2016 - und damit teilweise doppelt -, Kindergeld erhalten. Die Beklagte anzuhalten, den Antrag an die niederländische Trägerin weiterzuleiten, liefe demnach ins Leere.
c. Da im Ergebnis dem Kläger - neben dem deutschen Kindergeld - von Januar 2015 bis März 2016 Kindergeld in den Niederlanden tatsächlich gewährt wurde, war die Beklagte nach Ansicht des Senats insoweit zu einer nachträglichen Anrechnung auf der Grundlage von § 70 Abs. 2 EStG (zur rückwirkenden Änderung der Verhältnisse s. BFH-Urteil vom 28. November 2006, III R 6/06, BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717) oder von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (rückwirkendes Ereignis) berechtigt.
Für die Monate Februar und März 2016 lag (anders als im Monat Januar 2016) keine Doppeltzahlung mehr vor, und es wurde infolge der teilweisen Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab Januar 2016 - nach Auffassung des Senats zutreffend - unter Anrechnung des niederländischen Kindergeldes lediglich Differenzkindergeld in Deutschland gezahlt.
Ab dem Monat April 2016 erfolgte keine Kindergeldzahlung mehr in den Niederlanden, so dass die Beklagte mit gesondertem Bescheid wieder volles Kindergeld in gesetzlicher Höhe festsetzte.
Die teilweise Aufhebung bezog sich somit im Jahr 2016 auf den Zeitraum Januar bis März und wurde - zutreffend - mit einer teilweisen Rückforderung des überzahlten, deutschen Kindergeldes für den Monat Januar 2016 verbunden. Da insoweit und auch für den Zeitraum von Januar bis Dezember 2015 der Grund für die Zahlung des Kindergelds mit der zu Recht erfolgten, teilweisen Aufhebung der Kindergeldfestsetzung weggefallen ist, hat die Beklagte den Rückforderungsbescheid zutreffend auf § 37 Abs. 2 Satz 2 AO gestützt.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO.
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 151, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
IV. Die Entscheidung über die Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren beruht auf § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO.
V. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alt. FGO zur Fortbildung des Rechts zugelassen. Zur Anwendbarkeit der "Schwemmer"-Rechtsprechung auf Art. 68 der VO Nr. 883/2004 liegt soweit ersichtlich noch keine BFH-Rechtsprechung vor. Dies gilt auch für die vorliegend in den Zeiträumen Januar 2015 bis einschließlich März 2016 bejahte Anrechnung niederländischen Kindergeldes auf das deutsche Kindergeld bei eigenständiger Antragstellung durch den Kindergeldberechtigten, d.h. ohne dass dem eine Weiterleitung des Antrags auf Kindergeld durch die Familienkasse in dem Art. 68 Abs. 2, 3 der VO Nr. 883/2004 vorgesehenen Verfahren zugrunde liegt.