Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 02.11.2001, Az.: 4 B 4125/01

Rechtmäßigkeit einer Überweisung eines Schülers in eine Parallelklasse; Ordnungsgemäßes Zustandekommen des zugrunde liegenden Konferenzbeschlusses; Schulleiter als stimmberechtigtes Mitglied einer Teilkonferenz; Rechtmäßigkeit der Zusammensetzung einer Abhilfekonferenz

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
02.11.2001
Aktenzeichen
4 B 4125/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 32862
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2001:1102.4B4125.01.0A

Fundstelle

  • SchuR 2004, 83-84 (Volltext)

Verfahrensgegenstand

Schulrechtliche Ordnungsmaßnahme,
Überweisunge in eine Paralleklasse (Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO)

In der Verwaltungsrechtssache
...
hat das Verwaltungsgericht Göttingen - 4. Kammer -
am 2. November 2001
beschlossen:

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 28.06.2001 wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 8.000,00 DM festgesetzt.

Gründe

1

I.

Der am I. geborene Antragsteller nahm im Juni 2001 an einer Klassenfahrt der Klasse 8a der Antragsgegnerin in die Tschechische Republik teil. Bei einer Besichtigung des ehemaligen Lagers J. schrieb er einen mehrzeiligen Spruch antisemitischen Inhalts in das dort ausliegende Gästebuch, was zu seinem Ausschluss von der weiteren Teilnahme an der Klassenfahrt führte.

2

Am 25.06.2001 beschloss die Klassenkonferenz der Klasse 8a, an der neben dem Schulleiter der Antragsgegnerin neun Lehrer sowie je drei Eltern- und Schülervertreter teilnahmen, mit 7 Ja- gegen 6 Nein-Stimmen bei einer Enthaltung, den Antragsteller wegen seines Verhaltens in eine Parallelklasse zu überweisen. Im Protokoll der Konferenz ist nicht verzeichnet, welche Personen an der Abstimmung teilgenommen und wie die einzelnen Teilnehmer abgestimmt haben. Der Schulleiter hat dem Gericht telefonisch mitgeteilt, er selbst habe sich an der Abstimmung beteiligt und mit "Ja" gestimmt. Er habe im 2. Halbjahr des Schuljahres 2000/2001 nicht selbst in der Klasse 8a unterrichtet.

3

Der Schulleiter setzte die Entscheidung der Klassenkonferenz durch Bescheid vom 28.06.2001 um. Zur Begründung führte er aus, es handele sich bei dem vom Antragsteller in das Gästebuch des Lagers J. geschriebenen Spruch um einen vierzeiligen, sich reimenden Text, den man sich nicht so einfach ausdenke. Es müsse davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller sich mit solchen Sprüchen beschäftigt habe. Er habe jedenfalls ähnliche Sprüche auf dem Handy empfangen, das er auch während der Klassenfahrt bei sich gehabt habe. Da er seine Eintragungen ins Gästebuch zusammen mit anderen Schülern der Klasse vorgenommen und hier eine gegenseitige negative Beeinflussung stattgefunden habe, scheine es naheliegend, ihn aus dem Klassenverband herauszunehmen. Dies solle dazu beitragen, dass er sein Fehlverhalten einsehe und ändere.

4

Gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller rechtzeitig Widerspruch ein. Die Klassenkonferenz der bisherigen Klasse 8a lehnte es am 06.08.2001 ab, diesem Widerspruch abzuhelfen. An der Konferenz nahmen 12 Lehrer, 3 Eltern- und 2 Schülervertreter teil, wobei der Lehrer K. im Protokoll als nicht stimmberechtigt ausgewiesen wurde. An der Abstimmung beteiligten sich 11 Lehrer einschließlich des Schulleiters sowie die Eltern und Schülervertreter. Die Entscheidung, dem Widerspruch nicht abzuhelfen, wurde mit 11 gegen 2 Stimmen bei 3 Enthaltungen getroffen. Gleichzeitig ordnete die Klassenkonferenz die sofortige Vollziehung der Überweisungsentscheidung mit der Begründung an, eine weitere gegenseitige negative Beeinflussung des Antragstellers und seiner Klassenkameraden solle verhindert werden.

5

Am i 3.08.2001 hat der Antragsteller bei Gericht um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht.

6

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 28.06.2001 wiederherzustellen.

7

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

8

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin und der Bezirksregierung Braunschweig Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung gewesen sind.

9

II.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg. Die Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers, einstweilen von der Vollziehung der Überweisung in eine Parallelklasse verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Umsetzung dieser Maßnahme geht zu Lasten der Antragsgegnerin aus, deren Bescheid vom 28.06.2001 bei der im Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich aus formalen Gründen rechtswidrig ist.

10

Es bestehen erhebliche Bedenken dagegen, dass der Konferenzbeschluss vom 25.06.2001, der dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegt, ordnungsgemäß zustande gekommen ist. Bei der Überweisung in eine Parallelklasse handelt es sich um eine Ordnungsmaßnahme gemäß § 61 Abs. 3 Nr. 1 des Nds. Schulgesetzes (NSchG). Gemäß § 61 Abs. 5 Satz 1 NSchG entscheidet über Ordnungsmaßnahmen die Klassenkonferenz unter Vorsitz der Schulleitung. Die Klassenkonferenz ist eine Teilkonferenz i. S. v. § 35 Abs. 1 und 3 NSchG. Nach § 36 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 NSchG gehören den Teilkonferenzen als Mitglieder mit Stimmrecht u. a. die in dem jeweiligen Bereich tätigen Lehrkräfte und pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an. Da in Angelegenheiten der Erziehung die Klassengemeinschaft als ein einheitlicher Bereich angesehen werden muss, entscheiden über die Verhängung einer Ordnungsmaßnahme nicht nur die Lehrer, die den betroffenen Schüler unterrichten, sondern alle Lehrer der Klasse (Woltering/Bräth, NSchG, 4. Aufl. 1998, § 36 Rn. 19).

11

Durchgreifende rechtliche Bedenken bestehen vorliegend dagegen, dass der Schulleiter der Antragsgegnerin an der Abstimmung über die gegen den Antragsteller verhängte Ordnungsmaßnahme mitgewirkt hat, obwohl er in der Klasse zur fraglichen Zeit keinen Unterricht erteilte. Auch der Schulleiter ist nämlich nur dann stimmberechtigtes Mitglied einer Teilkonferenz, wenn er in der betreffenden Klasse als Lehrkraft tätig ist (Seyderhelm/Nagel/Brockmann, NSchG, Stand: Dezember 2000, § 36 Anm. 7). Ein generelles Stimmrecht des Schulleiters in den Teilkonferenzen ist im Gegensatz zur Gesamtkonferenz (§ 36 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 a NSchG) nicht vorgesehen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass er bei sog. Ordnungskonferenzen gemäß § 61 Abs. 5 Satz 1 NSchG den Vorsitz führt. In der Konferenzleitung kommen angesichts der Zielsetzung von Ordnungsmaßnahmen die Gesamtverantwortung des Schulleiters für die Schule und die gesetzliche Aufgabe zur Wahrung der Ordnung in der Schule zum Ausdruck (Seyderhelm u. a., a.a.O., § 61 Rn. 8). Sie ermöglicht es ihm, beratend auf die in der Klasse tätigen Lehrer einzuwirken und die Einhaltung von Verfahrensvorschriften zu überwachen. Daneben erhält er in der Konferenz die Informationen, die er benötigt, um die Konferenz-Entscheidung mit einer tragfähigen Begründung umsetzen zu können. Die Erfüllung dieser Aufgabe erfordert es nicht zwingend, dem Schulleiter abweichend von der eindeutigen Regelung des § 36 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 NSchG ein Stimmrecht zu verleihen. Hätte der Gesetzgeber dies gewollt, so hätte es einer unmissverständlichen Formulierung des Gesetzes bedurft. Die bloße Übertragung des Vorsitzes in Klassenkonferenzen, in denen über Ordnungsmaßnahmen entschieden wird, reicht hierfür nach Auffassung der Kammer nicht aus.

12

Der Verfahrensmangel war für die Abstimmung in der Konferenz vom 25.06.2001 auch ausschlaggebend, denn der Schulleiter hat in der Konferenz für die Ordnungsmaßnahme gestimmt. Hätte er nicht mitgewirkt, so hätten - bei einer Enthaltung - jeweils 6 Konferenzteilnehmer für und gegen die Maßnahme gestimmt, die somit nicht hätte verhängt werden dürfen (vgl. § 36 Abs. 5 Satz 1 NSchG).

13

Daneben bestehen auch im Hinblick auf die Zusammensetzung der Abhilfekonferenz vom 06.08.2001 rechtliche Bedenken. An einer Abhilfekonferenz wirken diejenigen Personen mit, die in der vorausgegangenen Konferenz mitgewirkt haben. Sinn und Zweck der Abhilfekonferenz ist es, in bisheriger Zusammensetzung aufgrund des eingelegten Widerspruchs erneut über die Ausgangsentscheidung zu beraten (Seyderhelm u. a., a.a.O., § 36 Anm. 12.2). An der Konferenz vom 06.08.2001 haben jedoch zwei Lehrerinnen (Frau L. und Frau M.) teilgenommen, die der Klassenkonferenz vom 25.06.2001 nicht angehörten. Diese Lehrerinnen haben sich auch an der Abstimmung beteiligt, was das Gericht daraus schließt, dass sämtliche Anwesende mit Ausnahme des Lehrers K., der im Protokoll als nicht stimmberechtigt bezeichnet worden ist, abgestimmt haben.

14

Angesichts dessen geht die Kammer der Frage nicht weiter nach, wer sich in den Konferenzen der Stimme enthalten hat. Im Hinblick auf § 36 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 NSchG, wonach sich bei Entscheidungen über Ordnungsmaßnahmen nur Vertreterinnen und Vertreter der Erziehungsberechtigten sowie der Schülerinnen und Schüler der Stimme enthalten dürfen, wäre es angezeigt gewesen, insoweit im Protokoll eindeutige Feststellungen zu treffen.

15

Lediglich ergänzend teilt die Kammer mit, dass sie gegen die materielle Rechtmäßigkeit der Überweisung des Antragstellers in eine Parallelklasse bei summarischer Prüfung keine Bedenken hat. Die Maßnahme dürfte geeignet und erforderlich sein, um das von der Klassenkonferenz im Rahmen ihres pädagogischen Bewertungsspielraums verfolgte Ziel zu erreichen, den Antragsteller aus seinem Klassenverband herauszulösen, um eine weitere gegenseitige negative Beeinflussung des Antragstellers und seiner Mitschülerinnen und Mitschüler abzustellen. Es erscheint dem Gericht auch durchaus möglich, die Entscheidung in einer Klassenkonferenz unter Mitwirkung der seinerzeit stimmberechtigten und -verpflichteten Lehrkräfte noch nachzuholen, denn angesichts des relativ kurzen Zeitraums, der seit dem Vorfall in J. verstrichen ist, besteht Anlass zu der Annahme, dass die pädagogischen Ziele einer Überweisung in die Parallelklasse auch heute noch erreichbar sind.

16

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

17

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG.