Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 19.07.1982, Az.: 2 Ws 255/82
Fortdauernde Bindung des erstinstanzlichen Gerichts an das beschleunigte Verfahren nach Verkündung eines später aufgehobenen Urteils; Ablehnung des beschleunigten Verfahrens und Verfahrenseinstellung als voneinander zu unterscheidende strafprozessuale Maßnahmen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 19.07.1982
- Aktenzeichen
- 2 Ws 255/82
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1982, 17612
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1982:0719.2WS255.82.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Oldenburg - 24.05.1982
Rechtsgrundlagen
- § 206a Abs. 2 StPO
- § 212b Abs. 2 S. 1 StPO
Verfahrensgegenstand
Sexueller Mißbrauch von Kindern
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Wird in der Berufungsinstanz ein unzulässigerweise im beschleunigten Verfahren ergangenes Urteil des Amtsgerichts wegen Überschreitung der in § 212 b Abs. 2 S. 2 StPO festgelegten Rechtsfolgengrenze aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverwiesen, kann dieses die Aburteilung im beschleunigten Verfahren nicht mehr ablehnen. Eine Ablehnung kann nur bis zur Verkündung eines Urteils erfolgen, wobei die durch das Urteil eingetretene Bindung des Gerichts nicht dadurch beseitigt wird, dass das Rechtsmittelgericht das ergangene Urteil wegen eines Verfahrensfehlers aufhebt und die Sache zurückverweist.
- 2.
Lehnt der Strafrichter in diesem Fall die Aburteilung im beschleunigten Verfahren gleichwohl ab und kommt es wegen derselben Tat zu einer neuen Anklageerhebung und einem weiteren Erkenntnisverfahren vor dem Schöffengericht bzw. der großen Strafkammer, ist dieses neue Verfahren wegen des Verfahrenshindernisses der anderweitigen Rechtshängigkeit einzustellen, während das nicht beendete beschleunigte Verfahren vor dem Strafrichter fortzuführen ist.
In dem Strafverfahren
...
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg
am 19. Juli 1982
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxx sowie
die Richter am Oberlandesgericht xxx und xxx
beschlossen:
Tenor:
Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht in Oldenburg gegen den Beschluß der VI. großen Strafkammer des Landgerichts Oldenburg vom 24. Mai 1982 wird auf Kosten der Staatskasse, die auch die dem Angeklagten im Beschwerdeverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen hat, zurückgewiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Oldenburg (Strafrichter) hat den Angeklagten - auf Antrag der Staatsanwaltschaft im beschleunigten Verfahren -am 30. Mai 1980 wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in drei Fällen, §§ 176 Abs. 1, 53 StGB, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die Strafvollstreckung jedoch zur Bewährung ausgesetzt. Auf die Berufung des Angeklagten hat die II. kleine Strafkammer des Landgerichts Oldenburg am 28. Oktober 1980 das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Oldenburg zurückverwiesen. Zur Begründung hat die Berufungskammer ausgeführt, das angefochtene Urteil sei wegen Überschreitung der in § 212 b Abs. 2 S. 2 StPO festgelegten Rechtsfolgengrenze und damit wegen eines Verfahrensfehlers nach § 328 Abs. 2 Satz 1 StPO aufzuheben, nachdem Verteidigung und Staatsanwaltschaft zu erkennen gegeben hätten, daß sie diesen Mangel in der Revisionsinstanz rügen würden. Daraufhin hat das Amtsgericht einem Antrag der Staatsanwaltschaft entsprechend durch Beschluß vom 26. November 1980 die Aburteilung im beschleunigten Verfahren abgelehnt, weil sich die Sache wegen der Höhe der zu erwartenden Strafe nicht für eine Verhandlung in diesem Verfahren eigne, § 212 b StPO.
Nach schriftlicher Anklageerhebung bei dem Schöffengericht Oldenburg und Erlaß eines Eröffnungsbeschlusses ist der Angeklagte sodann im ordentlichen Verfahren am 5. Januar 1982 wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auf die Berufung des Angeklagten hat die VI. große Strafkammer des Landgerichts Oldenburg das vor dem Schöffengericht Oldenburg durchgeführte Strafverfahren durch Beschluß vom 24. Mai 1982 gemäß § 206 a StPO eingestellt. Diese Einstellung hat die Strafkammer auf ein Verfahrenshindernis gestützt, das sich daraus ergebe, daß die Aburteilung im beschleunigten Verfahren nicht habe abgelehnt werden dürfen, nachdem bereits ein Urteil vorgelegen habe, § 212 b Abs. 2 Satz 1 StPO. Da das Verfahren vor dem Einzelrichter anhängig gewesen sei, habe weder eine neue Anklage vor dem Schöffengericht erhoben werden noch ein Urteil des Schöffengerichts ergehen dürfen; denn die Strafklage sei durch das Verfahren vor dem Einzelrichter verbraucht.
Die gegen den Einstellungsbeschluß gerichtete, gemäß § 206 a Abs. 2 StPO zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist nicht begründet.
Zutreffend hat die große Strafkammer des Landgerichts wegen eines Verfahrenshindernisses sich an einer Sachentscheidung gehindert gesehen und das Verfahren gemäß § 206 a StPO eingestellt. Denn einer Sachentscheidung der großen Strafkammer steht die von Amts wegen zu beachtende anderweitige Rechtshängigkeit der Strafsache entgegen.
Nach der Entschließung der Staatsanwaltschaft sollte der Angeklagte wegen der ihm zur Last gelegten Taten im beschleunigten Verfahren abgeurteilt werden. Die Rechtshängigkeit des von dem Einzelrichter des Amtsgerichts antragsgemäß eingeleiteten Verfahrens trat ein, als das Gericht mit der Vernehmung des Angeklagten zur Sache begann (vgl. zum Eintritt der Rechtshängigkeit OLG Oldenburg GA 1961, 1961, 187 = NJW 1961, 1127, Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Teil II 1957, § 212 a Rn. 16, Löwe-Rosenberg (LR)-Meyer-Goßner, StPO, 23. Aufl., § 212 a Rn. 22, KMR-Paulus, StPO, 7. Aufl., § 212 Rn. 16, Karlsruher Kommentar - Treier, StPO, § 212 a Rn. 6, Kleinknecht, StPO, 35.Aufl., § 212 a Rn. 3, abweichend LR-Dünnebier, a.a.O., § 12 Rn. 13). Diese Rechtshängigkeit konnte durch den Beschluß vom 26. November 1980, mit dem die Aburteilung im beschleunigten Verfahren abgelehnt wurde, nicht mehr beseitigt werden. Denn eine derartige Ablehnung darf gemäß § 212 b Abs. 2 Satz 1 StPO nur bis zur Verkündung eines Urteils erfolgen. Da diese Vorschrift den Verfahrenszeitpunkt bestimmt, bis zu dem das Gericht ein beschleunigtes Verfahren ablehnen darf, wird die danach eingetretene Bindung des Gerichts auch dann nicht beseitigt, wenn das Rechtsmittelgericht - wie im vorliegenden Fall - das ergangene Urteil wegen eines Verfahrensfehlers nach § 328 Abs. 2 Satz 1 StPO aufhebt und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweist. Soweit in der Entscheidung des OLG Hamm vom 11. März 1977 (Az. 3 Ss 872/76 - JR 1978, 120) anklingt, das Amtsgericht könne nach Aufhebung des im beschleunigten Verfahren ergangenen Urteils auch im Regelverfahren verhandeln, vermag der Senat dem nicht zu folgen.
Der Annahme einer fortdauernden Bindung des erstinstanzlichen Gerichts an das beschleunigte Verfahren nach Verkündung eines - später aufgehobenen - Urteils steht nicht entgegen, daß bei unbeachteter sachlicher Unzuständigkeit das beschleunigte Verfahren in der Rechtsmittelinstanz einzustellen ist und die Staatsanwaltschaft sodann Anklage im ordentlichen Verfahren erheben kann (vgl. RGSt 67, 59, 62; 68, 332, 334). Denn die Ablehnung des beschleunigten Verfahrens und die - vorliegend nicht erfolgte - Verfahrenseinstellung sind voneinander zu unterscheidende strafprozessuale Maßnahmen. Zudem verstößt ein Strafrichter, der die Rechtsfolgengrenze des § 212 b Abs. 1 Satz 2 StPO von einem Jahr Freiheitsstrafe überschreitet, aber innerhalb seiner in § 24 Abs. 2 GVG festgelegten Strafgewalt von drei Jahren Freiheitsstrafe verbleibt, nicht gegen die Vorschriften der sachlichen Zuständigkeit. Denn § 24 GVG regelt die Strafgewalt der Amtsgerichte im Zusammenhang mit ihrer sachlichen Zuständigkeit, während § 212 b Abs. 1 Satz 2 StPO eine Rechtsfolgengrenze für eine bestimmte Verfahrensart festlegt (Vgl. KMR-Paulus, a.a.O., § 212 b Rn. 6; a.A. LR-Meyer-Goßner, a.a.O., § 212 b Rn. 5).
War demnach die Ablehnung des beschleunigten Verfahrens am 26. November 1980 unzulässig, weil in dieser Sache bereits am 30. Mai 1980 ein Urteil verkündet worden war und auch die Aufhebung dieses Urteils die eingetretene Bindung des Gerichts nicht beseitigen konnte, so blieb die Sache im beschleunigten Verfahren bei dem Strafrichter rechtshängig. Diese Rechtshängigkeit stand einer Anklageerhebung und einem weiteren Erkenntnisverfahren wegen derselben Tat vor dem Schöffengericht und vor der großen Strafkammer entgegen. Das durch die spätere Anklageerhebung eingeleitete ordentliche Verfahren war deshalb wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen, während das nicht beendete beschleunigte Verfahren weiterzuführen sein wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.