Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 22.01.1998, Az.: 1 B 101/97
Antrag eines aus Afghanistan eingereisten Asylbewerbers auf Umverteilung aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen; Vorliegen einer besonderen Belastung bei einer permanenten depressiven psychischen Lage und besonderer Angewiesenheit auf die Unterstützung und Lebenshilfe der bereits in Deutschland lebenden und an die Lebensverhältnisse gewöhnten Verwandten
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 22.01.1998
- Aktenzeichen
- 1 B 101/97
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1998, 11327
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGLUENE:1998:0122.1B101.97.0A
Rechtsgrundlagen
- § 51 AsylVfG
- § 123 VwGO
- § 50 Abs. 4 AsylVfG
Verfahrensgegenstand
Umverteilung - vorl. Rechtsschutz -
Prozessführer
1) die afghanischen Staatsangehörigen ...
2) deren Kind ...
Prozessgegner
Freie und Hansestadt Hamburg, Amsinckstraße 28, 20097 Hamburg
In dem Rechtsstreit
hat der Vorsitzende Richter am Verwaltungsgericht Dietze als Einzelrichter
der 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Lüneburg
am 22. Januar 1998
beschlossen:
Tenor:
- 1.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragsteller vorläufig - bis zu einem rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens 1 A 197/97 - zur Freien und Hansestadt Hamburg nachträglich länderübergreifend umzuverteilen.
Die Verfahrenskosten hat die Antragsgegnerin zu tragen.
- 2.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.250,00 DM festgesetzt.
Gründe
Die im März 1996 aus Afghanistan in das Bundesgebiet eingereisten Antragsteller, über deren Asylanträge noch nicht abschließend entschieden ist (rechtshängig beim Verwaltungsgericht Braunschweig), beantragten im April 1996 erstmals ihre Umverteilung nach Hamburg, die nach einer befürwortenden Stellungnahme der zuständigen Amtsärztin vom 29. Oktober 1996 durch Bescheid vom 22. November 1996 abgelehnt wurde. Im Oktober 1997 beantragten sie erneut ihre nachträgliche Umverteilung nach Hamburg unter Hinweis auf gesundheitliche Beeinträchtigungen, die sich verschlimmert hätten. Mit Bescheid vom 26. November 1997, gegen den am 10. Dezember 1997 Klage (1 A 197/97) erhoben wurde, lehnte die Antragsgegnerin den Umverteilungsantrag abermals ab, da die Voraussetzungen der maßgeblichen Vorschrift (§ 51 AsylVfG) nicht vorlägen, insbesondere die ärztlicherseits aus gesundheitlichen Gründen lediglich befürwortete Umverteilung nicht zwingend notwendig sei.
Der gemäß § 123 VwGO zulässige Antrag hat Erfolg. Zur vorläufigen Gestaltung der Verhältnisse ist es rechtlich erforderlich und "nötig" (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO), eine einstweilige Anordnung zu erlassen.
Im Rahmen des § 123 VwGO liegt hier zunächst einmal ein Anordnungsgrund vor. Angesichts dessen, daß das Verfahren in der Hauptsache voraussichtlich noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird, besteht hier mit Rücksicht auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Antragstellerin ..., wie sie auch von der Amtsärztin diagnostiziert worden sind (vgl. deren Stellungnahme vom 29. Oktober 1996) und die zum "Fazit" der Amtsärztin geführt haben, eine Umverteilung werde "für erforderlich gehalten", die erforderliche Dringlichkeit für eine einstweilige Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
Auch ein Anordnungsanspruch ist hier gegeben. Bei Ermessensentscheidungen liegt der Erlaß einer einstweiligen Anordnung zur Gestaltung der tatsächlichen Verhältnisse zwar vor allem dann nahe, wenn der Behörde nur noch eine bestimmte Entscheidung verbleibt (sog. Ermessensreduktion "auf Null"), aber mit Rücksicht auf Art. 19 Abs. 4 GG ist auch in den Fällen eines noch offenen Ermessens der Erlaß einer einstweiligen Anordnung dann möglich und geboten, wenn bei abwägender Betrachtung der Sach- und Rechtslage nur überwiegend wahrscheinlich ist, daß bei fehlerfreier Ermessensbetätigung unter Einbeziehung aller Abwägungsgesichtspunkte und Entscheidungsdeterminanten tatsächlich im Sinne der einstweiligen Anordnung entschieden werden könnte (Kopp, VwGO-Kommentar, 10. Aufl. 1994, § 123 Rdn. 12 m.w.N.). Hier liegt es so, daß ein recht hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg der erhobenen Klage auf Umverteilung besteht. Bei dieser materiellrechtlichen Lage der Dinge ist angesichts der Tatsache, daß Erlaß wie auch Nichterlaß einer einstweiligen Anordnung den Interimszeitraum bis zu einer Hauptsacheentscheidung immer notwendigerweise gestalten, im Hinblick auf den - bei Nichterlaß einer einstweiligen Anordnung - hier doch zu Lasten der Antragstellerin Naushaba Omar und ihrer Gesundheit gehenden Zeitablauf (vgl. Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO-Kommentar, § 123 Rdn. 148) das Vorliegen eines Anordnungsanspruches zu bejahen, der sich auf das minderjährige Kind ... miterstreckt.
Die Wahrscheinlichkeit für einen Klageerfolg ergibt sich hier aus § 51 AsylVfG. Denn das, was den Antragstellern schon im Bescheid vom 22. November 1996 und sodann nochmals im angefochtenen Bescheid (S. 3) angeraten worden ist, nämlich zu versuchen, im Rahmen einer landesinternen Umverteilung "in den nördlichen Bereich Niedersachsen zu gelangen, um häufigere Kontakte zu den Kindern in Hamburg zu gewährleisten", setzt ebenso wie der vorliegende (länderübergreifende) Umverteilungsantrag Sachgründe voraus (vgl. § 50 Abs. 4 AsylVfG, hierzu Beschluß der Kammer vom 14.05.1997 - 1 B 35/97 -), die sich in ihrem Gewicht nicht unterscheiden. Vielmehr spricht vieles dafür, daß die frühere Rechtsprechung zu § 22 Abs. 6 AsylVfG 1982 sowohl bei der landesintemen als auch bei der länderübergreifenden Umverteilung nach wie vor Geltung hat (so Marx, Kommentar zum AsylVfG, § 50 Rdn. 43 m.w.N.; vgl. Kanein/Renner, Ausländerrecht, 6. Auflage, § 50 AsylVfG, Rdn. 27; BT-Drs. 12/2718 S. 61: "Klarstellung entsprechend dem geltenden Recht"). Demgemäß sind bei der - landesintemen wie auch länderübergreifenden - Zuweisung u.a. gesundheitliche Gründe ohne weiteres zu berücksichtigen, wodurch das Ermessen regelmäßig schon reduziert wird (Hess. VGH EZAR 228 Nr. 5 = NVwZ 1986, 148; OVG Hamburg, InfAuslR 1986, 97; VGH BW, NVwZ-RR 1989, 503). Das öffentliche Interesse an einer Umverteilung hat in solchen Fällen hinter dem Interesse der Betroffenen, vor Gesundheitsschäden bewahrt zu bleiben, schon mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 GG zurückzutreten. Denn zum Schutzgut des verfassungsrechtlich im Grundgesetz garantierten Rechts auf körperliche Unversehrtheit gehört u.a. auch die Erhaltung der körperlich determinierten seelischen Zustände und die Freiheit von Angstzuständen und Deformationen der psychischen Struktur des Menschen (so ausdrücklich BVerfGE 52, 220 f. [BVerfG 03.10.1979 - 1 BvR 614/79] und 56, 74 ff.). Dabei spielen auch und gerade psychische Leiden eine Rolle:
Eine besondere Belastung ist ... dargetan, wenn sich der Asylbewerber infolge seines Gesundheitszustandes (...) in einer permanenten depressiven psychischen Lage befindet und deshalb besonders auf die Unterstützung und Lebenshilfe der bereits hier lebenden und an die Lebensverhältnisse gewöhnten Verwandten angewiesen ist ... (Marx, a.a.O., § 50 Rdn. 47).
Ist nun aber - wie hier - aufgrund ärztlicher Befunde bescheinigt (vgl. etwa das ärztliche Attest von Dr. B. Goldmann aus 1998), daß durch die Umverteilung das Fortschreiten von Gesundheitsschäden und eine sich anbahnende Pflegebedürftigkeit vermieden werden können, so liegt eine Ermessensreduktion "auf Null" bereits als Regel sehr nahe (Marx, a.a.O., § 50 Rdn. 52). Hier ist von der zuständigen Amtsärztin - Medizinaldirektorin Dr. Raithel vom Gesundheitsamt Lüneburg - ausdrücklich bestätigt worden, daß die Antragstellerin ... unter chronischen Erkrankungen leidet und eine Umverteilung deshalb aus gesundheitlichen Gründen "für erforderlich" gehalten wird.
Damit unterscheidet sich der Gesundheitszustand der Antragstellerin Naushaba Omar hinreichend wesentlich von dem anderer Asylbewerber, so daß "sonstige humanitäre Gründe" genügenden Gewichts, denen von Gesetzes wegen ohne jede Einschränkung zwingend Rechnung zu tragen ist (Kanein/Renner, a.a.O., § 51 Rdn. 3), für hier erstrebte Umverteilung vorliegen, uzw. insbesondere im Hinblick darauf, daß die Antragsteller bei den gegebenen Umständen erkennbar auf die Lebenshilfe anderer, mit ihnen persönlich verbundener Personen aufgrund von Alter, Krankheit und auch einem Mangel an Deutschkenntnissen angewiesen sind (dazu Kanein/Renner, a.a.O., § 50 Rdn. 29 m.w.N. zu Geschwistern, Cousins, älteren Kindern, Beziehungen Vormund/Mündel usw.). Diese Sachgründe lassen Ausnahmen nur noch beschränkt zu (Kanein/Renner, a.a.O. § 51 Rdn. 5). Wenn demgegenüber im Bescheid vom 26. November 1997 die Ansicht vertreten wird, es könne nicht "die Aufgabe der Freien und Hansestadt Hamburg sein, Personen nach Hamburg umzuverteilen, die aufgrund von körperlichen Gebrechen Probleme an ihrem jetzigen Aufenthaltsort haben" (S. 3 des Bescheides), so zeigt das, wie wenig der gesetzliche Sinngehalt des § 51 AsylVfG mit seinem verbindlichen Bezug zur Humanität - in Anlehnung an die bloße Haushaltsgemeinschaft bestimmter Personen ohne jede "Gebrechen" oder Pflegebedürftigkeit - erfaßt worden ist. Das ist Indiz für eine nicht mehr am Sinn und Zweck des Gesetzes orientierten Verteilungsentscheidung. Der Gesetzgeber hat die Notwendigkeit einer länderübergreifenden Umverteilung eben höher eingestuft, so daß sie gerade "aufgrund privater Belange eher vorzunehmen oder zu ändern ist als die landesinterne" (so Kanein/Renner, a.a.O., § 51 Rdn. 6).
Ergänzend sei darauf hingewiesen, daß auch die familiären Beziehungen der Antragstellerin ... zu ihrer in Hamburg wohnenden Tochter ... (und zu weiteren erwachsenen Kindern der Antragstellerin in Hamburg) bzw. der Antragstellerin Nadera Omar zu ihrer Halbschwester in Hamburg für den Erlaß der einstweiligen Anordnung sprechen, uzw. auch im Hinblick darauf, daß die erwachsenen Kinder der Antragstellerin ... nicht zu dem Personenkreis gehören, der gem. § 51 AsylVfG zunächst einmal Berücksichtigung finden soll. Solche persönlichen Beziehungen können wegen einer individuellen psychischen Sondersituation, die bei Hilfs- und Pflegebedürftigkeit und beim Angewiesensein auf eine Lebenshilfe und -Unterstützung besonders naheliegt, von ähnlich hohem - humanitärem - Gewicht sein wie jene im Falle der gesetzlich definierten Haushaltsgemeinschaft oder Kernfamilie (HessVGH, NVwZ 1986, 148; HessVGH, InfAuslR 1987, 98). In diesem Zusammenhang ist nicht dargetan, daß die Trennung der kranken Mutter von ihrer in Hamburg lebenden Tochter derart unabweisbar und zwingend ist, daß die getroffene Entscheidung auch mit Blick auf die genannten Sachgründe noch ermessensgerecht sein könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Streitwertbeschluss:
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.250,00 DM festgesetzt.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 20 Abs. 3, 83 b Abs. 2 AsylVfG.