Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 13.11.2023, Az.: 2 OAus 66/23

Zulässige Auslieferung nach Griechenland bei drohender lebenslänglicher Freiheitsstrafe; Rechtsstaatlichkeit des griechischen Rechts bei Überprüfung von Freiheitsstrafen nach zwanzig Jahren; Konformität des griechischen Rechts zur Frage der Entlassung; Keine Beanstandung der griechischen Haftbedingungen bei Auslieferung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
13.11.2023
Aktenzeichen
2 OAus 66/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 55531
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2023:1113.2OAUS66.23.00

Amtlicher Leitsatz

1.) § 83 Abs. 1 Nr. 4 IRG steht der Zulässigkeit der Auslieferung nach Griechenland auch im Falle einer dem Verfolgten im Falle seiner Verurteilung drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe nicht entgegen, denn nach griechischen Recht ist sichergestellt, dass der Verfolgte spätestens nach 20 Jahren Haft einen Rechtsanspruch auf Überprüfung hat, ob die Fortsetzung des Vollzugs noch zu rechtfertigen ist.

2.) Die im griechischen Recht geregelten Entlassungsbedingungen sind nicht nur in zeitlicher, sondern auch in materieller und prozeduraler Hinsicht vollständig, verständlich und berechenbar geregelt und sehen eine Entlassung für den Fall vor, dass die Haft keinem legitimen Strafzweck mehr dient.

Tenor:

1.

Die Auslieferung des Verfolgten an die griechischen Justizbehörden zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der in dem Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft bei dem Court of Appeal in Athen vom 02.08.2023 (Az.: FE 175/2023) genannten Straftat ist zulässig.

2.

Der Auslieferungshaftbefehl des Oberlandesgerichts Celle vom 11. September 2023 bleibt aufrechterhalten.

Gründe

I.

Die griechischen Justizbehörden betreiben auf der Grundlage einer Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung. Dem Ersuchen liegt ein Europäischer Haftbefehl der Staatsanwaltschaft bei dem Court of Appeal in Athen vom 02.08.2023 (Az.: FE 175/2023) zu Grunde.

Danach wird der Verfolgte beschuldigt,

am 24.05.2023 gegen 6.00 Uhr in A. tateinheitlich und gemeinschaftlich handelnd mit den gesondert Verfolgten A. N., N. K., Z. M., K. A. und F. M. den Geschädigten K. E. auf der A. K. Straße in Höhe der Hausnummer ... mit Messern und Schlägern angegriffen und ihn dadurch an verschiedenen Körperteilen verletzt zu haben. Anschließend seien die Angreifer geflüchtet und hätten das schwer verletzte Opfer zurückgelassen. Der Geschädigte verstarb infolge der Verletzungen am 25.05.2023 gegen 07.15 Uhr im Krankenhaus. Trotz entgegenstehenden Verbots sollen der Verfolgte und seine Begleiter während der Tat eine unbekannte Anzahl von Messern unbekannter Länge sowie eine unbekannte Anzahl von Gegenständen, die zur Verteidigung und zum Angriff geeignet sind, getragen und eingesetzt haben.

Der Verfolgte wurde am 7. September 2023 in H. vorläufig festgenommen. Bei seiner Anhörung vor dem Amtsgericht Hannover am selben Tage hat er der vereinfachten Auslieferung nicht zugestimmt und auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes nicht verzichtet.

Der Senat hat am 11. September 2023 die förmliche Auslieferungshaft gegen den Verfolgten angeordnet.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat bereits mit Zuschrift vom 16. Oktober 2023 beantragt, die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der in dem Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft bei dem Court of Appeal in Athen vom 02.08.2023 genannten Straftat für zulässig zu erklären und Haftfortdauer anzuordnen.

Der Senat hat mit Beschluss vom 19. Oktober 2023 die Entscheidung über diesen Antrag der Generalstaatsanwaltschaft zurückgestellt. Denn zum damaligen Zeitpunkt war nach den Angaben im Europäischen Haftbefehl sowie den ergänzend mitgeteilten Informationen der griechischen Behörden unklar, ob das griechische Rechtssystem eine Überprüfung einer dem Verfolgten im Falle einer Verurteilung möglicherweise drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe spätestens nach 20 Jahren vorsieht und deshalb ggf. die Vorschrift des § 83 Abs. 1 Nr. 4 IRG der Zulässigkeit der Auslieferung entgegensteht.

Mit Verbalnote vom 2. November 2023 hat die Staatsanwaltschaft am Oberlandesgericht Athen nunmehr ergänzende Informationen zur Frage übermittelt, wann eine Überprüfung der Vollstreckung der verhängten Strafe nach dem griechischen Strafvollzugs- und Gnadenrecht erfolgt.

II.

Den Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft vom 16. Oktober 2023 war zu entsprechen.

1.

Der Senat ist zu einer Entscheidung über die Anträge der Generalstaatsanwaltschaft berufen, denn die Generalstaatsanwaltschaft hat im dortigen Zulässigkeitsantrag vom 16. Oktober 2023 die in § 79 Abs. 2 S. 1 IRG vorgesehene Vorabbewilligungsentscheidung getroffen. Die Generalstaatsanwaltschaft war trotz des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 24. November 2020 (EuGH, Urteil vom 24. November 2020 - C-510/19 -, juris), ausweislich dessen die Generalstaatsanwaltschaften in Deutschland aufgrund ihrer gesetzlich geregelten Weisungsgebundenheit nicht als "vollstreckende Justizbehörde" i.S. von Art. 3 ff. RB-EuHB anzusehen sind, auch zur Vorabbewilligungsentscheidung gem. § 79 Abs. 2 S. 1 IRG befugt (vgl. Senat, Beschluss vom 8. März 2021, 2 AR Ausl 17/21).

2.

Die Auslieferung des Verfolgten an die griechischen Justizbehörden ist zulässig, denn die förmlichen Voraussetzungen der Auslieferung liegen vor und es ist zudem angesichts der erteilten Auskünfte der griechischen Behörden geklärt, dass die den Verfolgten in Griechenland im Falle seiner Auslieferung erwartenden Haftbedingungen den in Art. 3 EMRK und Art. 4 EU-GRCh verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen genügen werden. Insoweit nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen im Haftbefehl vom 11. September 2023 und im Beschluss vom 19. Oktober 2023 Bezug.

Noch zu klären war allein die Frage, ob § 83 Abs. 1 Nr. 4 IRG der Zulässigkeit der Auslieferung entgegensteht. Dies ist nicht der Fall.

Nach dieser Vorschrift ist die Auslieferung nicht zulässig, wenn die dem Ersuchen zugrundeliegende Tat nach dem Recht des ersuchenden Mitgliedstaates mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder einer sonstigen lebenslangen freiheitsentziehenden Sanktion bedroht ist oder der Verfolgte zu einer solchen Strafe verurteilt worden war und eine Überprüfung der Vollstreckung der verhängten Strafe oder Sanktion auf Antrag oder von Amts wegen nicht spätestens nach 20 Jahren erfolgt.

Insoweit haben die griechischen Behörden mit Verbalnote vom 2. November 2023 ergänzende Informationen sowie den Wortlaut der einschlägigen Vorschriften übermittelt. Danach sieht das griechische Recht in Artikel 105 B Abs. 1 d) des griechischen Strafgesetzbuches im Falle der Verbüßung einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Möglichkeit vor, eine vorzeitige Haftentlassung grundsätzlich nach Ablauf von 20 Jahren Haft zu beantragen. Diese Vorschrift wurde indes durch das Gesetz mit der Nr. 4855 vom 12.11.2021 modifiziert. Nach dem neu eingefügten Absatz 6 ist im Falle einer Verurteilung wegen Mordes oder Totschlags bereits nach Verbüßung von 18 Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe eine vorzeitige Entlassung aus der Haft möglich. Die Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung ist nach Artikel 106 des griechischen StGB lediglich in Fällen ausgeschlossen, bei denen aufgrund des Verhaltens des Verurteilten im Verlauf der Verbüßung der Haftstrafe begründet dargelegt wird, dass von diesem im Falle seiner Entlassung weitere Straftaten zu erwarten sind. Eine Versagung der vorzeitigen Entlassung bedarf ferner ausweislich der Mitteilung der griechischen Behörden vom 2. November 2023 einer eingehenden Begründung; zudem besteht für den Verurteilten gem. Artikel 110 griechisches StGB hiergegen das Rechtsmittel der Berufung und die Möglichkeit, jederzeit erneut einen Antrag auf vorzeitige Entlassung zu stellen. Überdies sieht Artikel 46 des Gesetzes 2776/1999 (geändert durch das Gesetz vom 25. Februar 2022, Nr. 4895/2022) das sog. "Prinzip der begünstigten Berechnung der Strafe" vor, nach dem während der Verbüßung der Haftstrafe erbrachte Arbeitsleistungen pro Tag doppelt, z.T. gar dreifach auf die Haftzeit angerechnet werden.

Nach den mitgeteilten ergänzenden Informationen steht § 83 Abs. 1 Nr. 4 IRG der Zulässigkeit der Auslieferung nicht entgegen.

Denn es ist sichergestellt, dass der Verfolgte im Falle seiner Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe spätestens nach 20 Jahren Haft einen Rechtsanspruch auf Überprüfung hat, ob die Fortsetzung des Vollzugs noch zu rechtfertigen ist. Es ist nach den mitgeteilten Informationen sogar wahrscheinlich, dass der Verfolgte im Falle seiner Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe deutlich früher einen Rechtsanspruch auf Überprüfung der Fortdauer der Haft haben wird. Zudem sind die übermittelten Entlassungsbedingungen nicht nur in zeitlicher, sondern auch in materieller und prozeduraler Hinsicht vollständig, verständlich und berechenbar geregelt und sehen eine Entlassung für den Fall vor, dass die Haft keinem legitimen Strafzweck mehr dient (vgl. zu diesem Erfordernis: Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Auflage 2020, § 83, Rn. 933). Denn eine Ablehnung des Antrages auf bedingte Entlassung erfolgt nach griechischem Recht nur im Falle einer auf Tatsachen gestützten negativen Sozialprognose. Die diesbezügliche Entscheidung kann zudem mit dem Rechtsmittel der Berufung angefochten werden.

3.

Es besteht auch weiterhin die Gefahr, dass der Verfolgte ohne die Fortdauer der Auslieferungshaft sich dem Auslieferungsverfahren entziehen würde (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG). Fluchthemmende Faktoren, die dem aus der ganz erheblichen Straferwartung resultierenden hohen Fluchtanreiz hinreichend entgegenwirken könnten, sind nicht ersichtlich. Der Verfolgte ist nach seinen eigenen Angaben im Rahmen seiner Anhörung vor dem Amtsgericht Hannover erst seit zwei Monaten im Bundesgebiet aufenthältig, lebte bis zu seiner Festnahme in einer Unterkunft für Asylbewerber und geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt zudem im Bundesgebiet über keinerlei soziale Bindungen.

Weniger einschneidende Maßnahmen als der Vollzug der Auslieferungshaft erscheinen nach alledem nicht geeignet, deren Zweck, nämlich das Durchführen der zulässigen Auslieferung, zu gewährleisten (§ 25 IRG). Die Verhältnismäßigkeit der angeordneten Maßnahmen steht gleichfalls nicht in Frage.

III.

Der Senat wird gemäß § 26 Abs. 1 IRG eine Haftprüfung durchführen, wenn sich der Verfolgte zwei weitere Monate in Auslieferungshaft befunden haben wird.