Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 11.05.2020, Az.: 3 Ws 94/20 (UVollz)

Anordnung im Einzelfall für Beschränkungen im Untersuchungshaftvollzug; Rechtswidrigkeit von Beschränkungen eines Inhaftierten ohne Haftstatut von § 119 StPO; Unzulässige Beschränkung des Postverkehrs

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
11.05.2020
Aktenzeichen
3 Ws 94/20 (UVollz)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 63702
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2020:0511.3WS94.20UVOLLZ.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - AZ: 63 KLs 7/19

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Sollen einem inhaftierten Beschuldigten Beschränkungen zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr (§§ 112, 112a StPO) auferlegt werden, ist eine den Anforderungen nach § 119 StPO genügende, einzelfallbezogene Anordnung (sog. Haftstatut) notwendig, die dem Beschuldigten zur Kenntnis zu geben ist.

  2. 2.

    Da Beschränkungen nach §§ 133 ff. NJVollzG nur zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Vollzugsanstalt getroffen werden dürfen, sind ohne ein Haftstatut nach § 119 StPO Maßnahmen im Rahmen der "Haftkontrolle" zur Abwehr einer Verdunkelungsgefahr rechtswidrig.

Tenor:

  1. 1.

    Auf die Beschwerden der Angeklagten werden

a) der Beschluss der 17. großen Strafkammer des Landgerichts Hannover vom 12. März 2020 und

b) die Entscheidungen der Vorsitzenden der 17. großen Strafkammer des Landgerichts Hannover vom 31. März 2020

aufgehoben.

  1. 2.

    Es wird festgestellt, dass derzeit Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO nicht angeordnet sind.

  2. 3.

    Soweit nach §§ 133 ff. NJVollzG gerichtliche Entscheidungen im Rahmen der Erteilung der beantragten Besuchs- und Telefonerlaubnisse zu treffen sind, obliegen diese dem Landgericht Hannover.

  3. 4.

    Die Kosten der Beschwerdeverfahren und die der Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.

Gründe

I.

Die Beschwerdeführerin befindet sich in dieser Sache seit dem 15. Juli 2019 in Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Hannover vom 27. Juni 2019 (272 Gs 62/19). Sie wendet sich gegen mehrere Beschränkungen, die ihr im Rahmen der Untersuchungshaft auferlegt worden sind.

1. Mit dem auf die Haftgründe der Flucht- und Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehl wurde der Beschwerdeführerin zur Last gelegt, sich wegen Computerbetrugs in Tateinheit mit Urkundenfälschung in 57 Fällen sowie wegen Diebstahls strafbar gemacht zu haben. Konkret wurde ihr zur Last gelegt, in der Zeit vom 18. Juli 2017 bis 20. Februar 2019 die Namen und Anschriften von Freunden und Nachbarn verwendet zu haben, um bei diversen Onlinehändlern Waren zu bestellen und diese an sich liefern zu lassen, wobei sei weder willens noch in der Lage war, die Waren zu bezahlen. Zudem habe die Angeklagte in der Zeit vom 4. Oktober 2018 bis 26 Februar 2019 aus der Wohnung der Zeugen A. und D. Bargeld und Schmuck im Gesamtwert von 10.000 € entwendet.

Unter dem 7. November 2019 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage vor der großen Strafkammer des Landgerichts Hannover gegen die Beschwerdeführerin wegen Betruges in 51 Fällen, wobei es in vier Fällen beim Versuch blieb, und wegen Urkundenfälschung. Mit Beschluss vom 23. Dezember 2019 hat das Landgericht Hannover das Hauptverfahren eröffnet und Haftfortdauer angeordnet.

Die Hauptverhandlung begann im Januar 2020 und dauert - voraussichtlich bis zum 22. Mai 2020 - an.

2. Mit Beschluss vom 12. März 2020 hat die 17. große Strafkammer Landgerichts Hannover einen an den Zeugen M. K. gerichteten Brief der Angeklagten angehalten und beschlagnahmt, weil davon auszugehen sei, dass der Brief von der Angeklagten unter Umgehung der "Postkontrolle" verschickt worden sei. Dies sei erst aufgefallen, nachdem der Brief wegen Unzustellbarkeit als Retoure zurück in die Justizvollzugsanstalt gelangt sei. Dabei sei festgestellt worden, dass zwar der Brief selbst, nicht aber die Beschriftung des Umschlages von der Angeklagten verfasst worden sei.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Angeklagten vom 18. März 2020. Sie macht geltend, dass sie den Brief nicht unter Umgehung der Postkontrolle verschickt habe. Die Beschriftung des Umschlages habe sie nur deshalb von einer Mitgefangenen vornehmen lassen, weil sie selbst sich am Tag der Versendung in den Finger geschnitten habe. Den Brief habe sie bereits mehrere Tage vor der Verletzung verfasst.

Die 17. große Strafkammer des Landgerichts Hannover hat am 7. April 2020 beschlossen, der Beschwerde nicht abzuhelfen.

3. Mit Entscheidungen vom 31. März 2020 hat die Vorsitzende der 17. großen Strafkammer den Antrag der N. B. auf Erteilung einer Dauerbesuchserlaubnis für die Angeklagte sowie den Antrag der Angeklagten auf Erteilung einer Erlaubnis zum Führen von Telefonaten mit M. K., K. H. und E. P. abgelehnt. Zur Begründung hat die Vorsitzende ausgeführt, dass die Ablehnungen zur Vermeidung einer Verdunkelungsgefahr erforderlich seien. Es lägen konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass die Angeklagte in der Vergangenheit die "Haftkontrolle aktiv umgangen" habe. Insoweit werde exemplarisch auf die Beschlüsse der Strafkammer vom 25. Februar und vom 12. März 2020 verwiesen. Der Kontakt könne ausreichend mittels Briefverkehr aufrechterhalten werden. Eine Überwachung der Telefongespräche könne der bestehenden Gefahr nicht ausreichend entgegenwirken. Eine umfassende Überwachung sei nicht möglich. Eine Gewähr für die Identität der jeweiligen Gesprächspartner bestehe nicht.

Gegen diese Entscheidungen wendet sich die Angeklagte mit ihrer Beschwerde vom 11. April 2020. Sie macht insbesondere geltend, dass der Verweis auf bloßen Briefverkehr nach neun Monaten Untersuchungshaft unverhältnismäßig sei, nachdem die Beweisaufnahme "so gut wie abgeschlossen" und "alle Zeugen vernommen" worden seien.

II.

Die Beschwerde ist zulässig (§§ 119 Abs. 5 Satz 1, 304 Abs.1 StPO) und hat Erfolg.

Der angefochtene Beschluss der Strafkammer und die angefochtenen Entscheidungen der Vorsitzenden können keinen Bestand haben, weil es an einer gesetzmäßigen Grundlage für die getroffenen Beschränkungen fehlt.

1. Das Landgericht hat das Anhalten und die Beschlagnahme des Briefes auf eine Umgehung der "Postkontrolle" gestützt, obwohl eine Anordnung nach § 119 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO, dass der Schriftverkehr der Angeklagten zu überwachen ist, zuvor nicht getroffen worden war. Ebenso hat das Landgericht die Erteilung von Erlaubnissen für den Empfang von Besuchen und das Führen von Telefongesprächen abgelehnt, ohne dass eine Anordnung nach § 119 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StPO ergangen war, dass der Empfang von Besuchen und die Telekommunikation der Angeklagten der Erlaubnis bedürfen. Sollen aber einer oder einem inhaftierten Beschuldigten Beschränkungen zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr (§§ 112, 112a StPO) auferlegt werden, ist eine den Anforderungen nach § 119 StPO genügende, einzelfallbezogene Anordnung (sog. Haftstatut) notwendig, die der oder dem Beschuldigten zur Kenntnis zu geben ist (vgl. Senatsbeschluss vom 10. Januar 2020 - 3 Ws 372/19 [(UVollz], juris). Eine solche Anordnung ist hier unterblieben. Sie ist insbesondere nicht in dem Aufnahmeersuchen des Amtsgerichts Hannover vom 15. Juli 2019 und dem diesem beigefügten Formblatt "Anordnungen für den Vollzug", in dem hinter verschiedenen Textzeilen Felder mit "Ja" oder "Nein" angekreuzt worden sind, zu erkennen. Denn weder enthielt diese Anordnung eine Begründung noch ist die bei Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 Satz 6 StPO erforderliche Benachrichtigung der Beschuldigten hierüber erfolgt (vgl. Senat aaO).

2. Die angefochtenen Entscheidungen finden auch keine Rechtfertigung in §§ 133 ff. NJVollzG.

Zwar enthält das NJVollzG Regelungen zum Vollzug der Untersuchungshaft. Insbesondere bedürfen auch ohne ein "Haftstatut" nach § 119 Abs. 1 StPO Besuche in der Untersuchungshaft der Erlaubnis des Gerichts (§§ 143, 144 NJVollzG). Der Schriftverkehr von Untersuchungsgefangenen unterliegt der Überwachung (§ 146 NJVollzG). Telefongespräche von Untersuchungsgefangenen bedürfen der Erlaubnis der Vollzugsbehörde, die nur mit Zustimmung des Gerichts erteilt werden darf (§ 148 Abs. 1 NJVollzG).

Allerdings greifen diese Beschränkungen nur, soweit sie zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Vollzugsanstalt erforderlich sind (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Februar 2012 - 3 BGs 82/12, BGHR StPO § 119 Abs. 1 Beschränkung 1 mwN). Denn nachdem das Bundesverfassungsgericht durch Beschluss vom 30. Oktober 2014 - 2 BvR 1513/14 - (NStZ-RR 2015, 79) entschieden hat, dass auch nach der Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für den Untersuchungshaftvollzug auf die Länder die bundesgesetzliche Regelung des § 119 StPO weiterhin die alleinige Rechtsgrundlage für Beschränkungen darstellt, die dem Zweck der Untersuchungshaft zu dienen bestimmt sind, kann der Auffassung, dass § 119 StPO in Niedersachsen für den Bereich der Untersuchungshaft keine Anwendung findet, nicht mehr gefolgt werden (so schon Senatsbeschluss vom 22. Februar 2019 - 3 Ws 67/19 (UVollz), Nds. Rpfl. 2019, 327). Dementsprechend dürfen einem Untersuchungsgefangenen Beschränkungen, die zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr erforderlich sind, ausschließlich nach § 119 Abs. 1 StPO auferlegt werden, während ohne ein solches "Haftstatut" nur Gründe der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt zum Tragen kommen können.

Da im vorliegenden Fall das Landgericht allein auf Erwägungen einer möglichen Verdunkelungsgefahr abgestellt hat, sind die Beschränkungen allein an § 119 Abs. 1 StPO zu messen, dessen Voraussetzungen mangels Haftstatuts - wie bereits ausgeführt - nicht erfüllt sind.

3. Abgesehen davon tragen auch die sachlichen Erwägungen die angefochtenen Beschränkungen nicht.

a) Selbst bei unterstellter Umgehung der Postkontrolle würde allein dieser Umstand das Anhalten und die Beschlagnahme des Briefes nicht rechtfertigen. Denn jedenfalls durch die Retoure des Briefes ist derselbe in die Postkontrolle gelangt. Das Landgericht hatte also die Gelegenheit, seinen Inhalt auf Verfahrensrelevantes zu überprüfen. Anhaltspunkte dafür, dass der Brief mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu diente, in unlauterer Weise auf Zeugen einzuwirken, und deshalb die Gefahr begründete, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr), hat jedoch weder das Landgericht aufgezeigt noch vermag der Senat dem Brief solche zu entnehmen. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft den Verdacht begründet sieht, dass die Beschwerdeführerin den Empfänger veranlassen wollte, bestimmte Unterlagen und Gegenstände beiseite zu schaffen, um sie so sicher vor den Strafverfolgungsbehörden zu verheimlichen, vermag der Senat sich dem nicht anzuschließen. Denn es hat bereits am 15. Juli 2019 eine Durchsuchung der Wohnung der Angeklagten stattgefunden, die zur Sicherstellung zahlreicher Gegenstände geführt hat. Abgesehen davon ist der Brief mangels Zustellbarkeit in Rücklauf geraten, wäre also ohnehin nur der Angeklagten wieder auszuhändigen gewesen. Es ist auch nicht erkennbar, dass der Brief als Beweismittel von Bedeutung sein könnte und demgemäß der Beschlagnahme nach § 94 StPO unterlag.

b) Auch die zur Begründung der Ablehnung der beantragten Telefonerlaubnisse angeführten Umstände reichen nicht aus, die Maßnahme zu tragen.

Zwar kann die Abwehr einer Verdunkelungsgefahr, weil vom Haftzweck generell mitumfasst, Beschränkungen auch dann rechtfertigen, wenn der Haftbefehl nicht ausdrücklich auf diesen Haftgrund gestützt worden ist (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 27. März 2017 - 3 Ws 288/12 -, juris; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 62. Aufl. § 119 Rn. 5 mwN). Allerdings ist bei der Anwendung von § 119 Abs. 1 StPO immer dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf (vgl. BVerfG aaO mwN). Voraussetzung für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen auf der Grundlage von § 119 StPO ist eine reale Gefährdung der in der Bestimmung bezeichneten öffentlichen Interessen, der durch die Inhaftierung allein nicht ausreichend entgegengewirkt werden kann. Für das Vorliegen einer solchen Gefahr müssen konkrete Anhaltspunkte bestehen; die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbraucht, reicht nicht aus (BVerfG aaO; ebenso OLG Dresden, Beschluss vom 5. April 2016 - 3 Ws 30/16, StraFo 2016, 206; OLG Hamm, Beschluss vom 13. November 2012 - III-5 Ws 329/12, StV 2014, 28; OLG Köln, Beschluss vom 28. Dezember 2012 - III-2 Ws 896/12, StV 2013, 525). Das Vorliegen der Haftgründe allein kann Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO schon deshalb nicht rechtfertigen, weil diese bereits Voraussetzung der Untersuchungshaft und deshalb für sich genommen nicht geeignet sind, die Erforderlichkeit darüber hinausgehender Beschränkungen zu begründen (BVerfG aaO). Deshalb erfüllt die Annahme, eine Verdunkelungsgefahr liege angesichts des Verfahrensgegenstands nahe, nicht die Anforderungen an die gebotene einzelfallbezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung (ebenda).

Vor diesem Hintergrund rechtfertigt jedenfalls mit Blick auf das weite Fortschreiten der Beweisaufnahme allein die vormalige Umgehung der "Haftkontrolle" nicht die Annahme, dass die Ablehnung der Telefonerlaubnisse zur Abwendung einer Verdunkelungsgefahr erforderlich ist. Denn weder der Entscheidung des Landgerichts vom 25. Februar 2020 noch derjenigen vom 12. März 2020 ist zu entnehmen, dass die Angeklagte über die Umgehung der Postkontrolle hinaus auch in der Sache substantielle Verdunkelungshandlungen im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO vorgenommen hat oder vornehmen werde.

III.

Mit dem Wegfall der Beschlagnahme ist der angehaltene Brief an die Beschwerdeführerin weiterzuleiten. Im Übrigen kann der Senat neben der Aufhebung lediglich feststellen, dass derzeit Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO nicht angeordnet sind. Soweit nach §§ 133 ff. NJVollzG gerichtliche Entscheidungen im Rahmen der Erteilung der beantragten Besuchs- und Telefonerlaubnisse zu treffen sind, ist der Senat nicht als Beschwerdegericht mit der Sache befasst worden und daher an einer eigenen Sachentscheidung gehindert. Das Landgericht wird insoweit nur darüber zu befinden haben, ob Gründe der Sicherheit oder Ordnung der Vollzugsanstalt der Bewilligung entgegen stehen.