Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 27.05.2020, Az.: 2 Ws 161/20

Keine Verwirkung bei Untätigkeit von weniger als drei Jahren; Keine Unbilligkeit der Gebühren bei Abweichung von bis zu 20 Prozent

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
27.05.2020
Aktenzeichen
2 Ws 161/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 36446
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2020:0527.2WS161.20.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Lüneburg - 06.03.2020 - AZ: 31 KLs 3/16

Fundstellen

  • JurBüro 2020, 523-525
  • RVGreport 2020, 311-312
  • Rpfleger 2021, 62-64
  • StraFo 2020, 471-472

Amtlicher Leitsatz

Wird die von einem Angeklagten eingelegte Revision mit der Sachrüge begründet und wird eine materiell-rechtliche Prüfung durch den Nebenklägervertreter notwendig, so ist bei der Bestimmung der Höhe der Verfahrensgebühr für den Nebenklägervertreter nach Nr. 4130 VV-RVG die Festsetzung einer Mittelgebühr nicht unbillig i.S. von § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG.

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss des Landgerichts Lüneburg vom 06.03.2020 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die hierbei der Nebenklägerin entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

I.

Mit Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 09.03.2016 wurde der Angeklagte wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung mit einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten belegt. Das Urteil ist seit dem 09.08.2016 rechtskräftig

Entsprechend der Kostengrundentscheidung dieses Urteils stellte der Nebenklägervertreter am 23.08.2019 einen Kostenfestsetzungsantrag und beantragte, gemäß § 464b StPO die Gebühren des Beistands der Nebenklägerin gegenüber dem Angeklagten wie folgt festzusetzen:

Vorgerichtliches Verfahren:

Grundgebühr Nr. 4100 VV

240,00 €

Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV

192,00 €

Auslagenpauschale Nr. 7002 VV

20,00 €

Dokumentenpauschale Nr. 7000 VV

40,00 €

Gerichtliches Verfahren:

Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV

222,00 €

Terminsgebühr 05.02.16 Nr. 4114 VV

384,00 €

Fahrtkosten Nr. 7004 VV (05.02.16; 2x21 km)

12,60 €

Abwesenheitsgeld Nr. 7005 VV (05.02.16; b. 4h)

25,00 €

Parkgebühren (05.02.16)

3,19 €

Fahrtkosten Nr. 7004 VV (12.02.16; 2x 25km)

15,00 €

Abwesenheitsgeld Nr. 7005 VV (24.02.16; b. 4h)

25,00 €

Terminsgebühr (09.03.16) Nr. 4114 VV

384,00 €

Zusatzgebühr Nr. 4116 VV

128,00 €

Fahrtkosten Nr. 7004 VV (09.03.16; 2x21 km)

12,60 €

Abwesenheitsgeld Nr. 7005 VV (09.03.16; 4-8h)

40,00 €

Parkgebühren (09.03.16)

6,55 €

Auslagenpauschale Nr. 7002 VV

20,00 €

Zwischensumme:

2.577,94 €

Mwst. (19%) Nr. 7008 VV

489,81 €

Zwischensumme I.

3.067,75 €

Revisionsverfahren:

Verfahrensgebühr Nr. 4130 VV

738,00 €

Auslagenpauschale Nr. 7002 VV

20,00 €

Zwischensumme

758,00 €

Mwst. (19%) Nr. 7008 VV

144,02 €

Zwischensumme II.

902,02 €

Gesamtsumme

3.969,77 €

Abzgl. Zahlung des beigeordneten Anwalts

-2.813,09 €

Endsumme:

1.156,68 €

Durch Schriftsatz vom 30.01.2020 beantragte der Verteidiger, den Kostenfestsetzungsantrag vom 23.08.2019 als unzulässig zu verwerfen oder aber zumindest hilfsweise auf den Kostenfestsetzungsantrag vom 23.08.2019 keine weitere Vergütung festzusetzen. Er machte dabei geltend, dass der Nebenklägervertreter die Gebühren im eigenen Namen geltend gemacht, jedoch selbst keinen eigenen Festsetzungsanspruch habe. Vorsorglich wurde noch vorgetragen, dass Fahrtkosten/Abwesenheitsgeld/Parkgebühren nicht erstattungsfähig seien. Ebenso komme eine Erhöhung der Verfahrensgebühren der ersten Instanz um 20 % nicht in Betracht. Auch die geltend gemachten Terminsgebühren seien überhöht. Im Revisionsverfahren sei nur die Mindestgebühr festzusetzen.

Der Nebenklägervertreter begründete daraufhin seinen Kostenfestsetzungsantrag ausführlich. Insbesondere führte er zu der Frage aus, warum eine Erhöhung der Gebührensätze um mindestens 20 % angemessen sei. Das Verfahren sei schwierig und insbesondere für das Opfer äußerst bedeutsam gewesen. Es hätten eine Auseinandersetzung mit ärztlichen und fachärztlichen Gutachten, die rechtliche Bewertung des Sachverhalts sowie mehrere Besprechungstermine mit der Nebenklägerin stattfinden müssen. Hinsichtlich der rechtlichen Probleme führt der Nebenklagebeistand dazu über zwei Seiten aus, um sodann ebenfalls zwei Seiten lang die Folgen der Tat für die Geschädigte darzustellen.

Durch Schriftsatz vom 06.02.2020 und 03.03.2020 beharrte der Verteidiger auf der Unzulässigkeit des Antrags und erhob überdies die Einrede der Verjährung.

Mit Kostenfestsetzungsbeschluss des Landgerichts Lüneburg vom 06.03.2020 erfolgte eine Festsetzung der zu erstattenden notwendigen Auslagen der Nebenklägerin auf 1.004,36 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 27.08.2019.

Die Rechtspflegerin berücksichtigte dabei die Einwendungen des Angeklagten teilweise.

Sie ging zunächst davon aus, dass der Antrag des Nebenklägervertreters im Namen der Nebenklägerin gestellt und somit zulässig sei.

Auch die Einrede der Verjährung könne nicht durchdringen. Beendet worden sei das Verfahren durch Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 09.08.2016. Kostenerstattungsansprüche würden gemäß § 197 Abs. 1 Nummer 3 BGB in 30 Jahren, somit erst mit Ablauf des Jahres 2046 verjähren. Selbst der Tatbestand der Verwirkung gemäß § 242 BGB sei nicht erfüllt, da der Kostenfestsetzungsantrag der Nebenklägerin am 27.08.2019 beim Landgericht Lüneburg eingegangen sei, mithin sogar noch innerhalb der dreijährigen Verjährungsfrist gemäß § 195 BGB.

Die Gebührenerhöhung um 20 % sei angemessen und erstattungsfähig angesichts der hohen Bedeutung der Sache für die Nebenklägerin. Bereits im zugrundeliegenden Urteil sei ausgeführt worden, dass die Nebenklägerin seit der Tat ihren Beruf als Zahnarzthelferin nicht mehr ausüben könne, lange Zeit in Therapie habe behandelt werden müssen und noch unter den Folgen der Tat leide. Für die Erhöhung der Mittelgebühr reiche die Erfüllung eines Bemessungskriteriums gemäß § 14 RVG aus, hier die hohe Bedeutung der Sache für die Nebenklägerin.

Abzusetzen sei die von der Nebenklägerin in Ansatz gebrachte Zusatzgebühr Nummer 4116 VV RVG in Höhe von 128 € für den Termin am 09.03.2016, da diese Gebühr lediglich dem gerichtlich bestellten oder beigeordneten Rechtsanwalt entsteht. Im Übrigen habe der Termin abzüglich der Mittagspause keine fünf Stunden gedauert.

Die geltend gemachten anwaltlichen Reisekosten seien in vollem Umfang erstattungsfähig. Die Kosten der Zuziehung eines am Wohn- oder Geschäftsort der auswärtigen Partei ansässigen Rechtsanwalts sind regelmäßig als notwendig zur Rechtsverfolgung bzw. -verteidigung anzusehen.

Die Höhe der Revisionsgebühr sei gerechtfertigt in Anbetracht der Bedeutung der Sache und der Tätigkeiten des Nebenklägerinvertreters, der die Erfolgsaussichten der Revision geprüft habe sowie ob noch weitere Stellungnahmen zu fertigen gewesen seien.

Die Dokumentenpauschale sei ausweislich der Akte entstanden und erstattungsfähig.

Gegen den am 06.04.2020 zugestellten Kostenfestsetzungsbeschluss hat der Angeklagte mit Telefax seines Verteidigers vom 06.04.2020 sofortige Beschwerde eingelegt, mit der er beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses den Kostenfestsetzungsantrag vom 23.08.2019 als unzulässig, hilfsweise als unbegründet zu verwerfen bzw. vorsorglich, sofern das Beschwerdegericht der Auffassung sein sollte, dass der Kostenfestsetzungsantrag vom 23.08.2019 zu einem späteren Zeitpunkt erneut gestellt oder verändert gestellt worden sein sollte, diesen zu verwerfen.

II.

Die vom Senat in der Besetzung mit drei Berufsrichtern zu entscheidende sofortige Beschwerde gemäß § 104 Abs. 3 ZPO, § 11 Absatz 1RPflG i. V. m. § 464 b Satz 3 StPO ist statthaft, binnen Wochenfrist eingelegt und auch im Übrigen zulässig.

In der Sache bleibt ihr jedoch der Erfolg versagt.

Zutreffend ist die Rechtspflegerin zunächst davon ausgegangen, dass der Antrag vom 23.8.2019 namens der Nebenklägerin gestellt worden und somit zulässig ist. Der jeweilige Verfahrensbevollmächtigte (des Angeklagten, Neben- oder Privatklägers) stellt den Antrag im Zweifel namens des von ihm vertretenen Erstattungsberechtigten (vgl. KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, StPO § 464b Rn. 3).

Ebenso führt der Beschluss rechtsfehlerfrei aus, dass sich der Angeklagte nicht auf die Einrede der Verjährung berufen kann, weil Erstattungsansprüche der 30-jährigen Verjährungsfist des § 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB unterliegen. Zwar kann nach einer langen Zeit, wie der Beschluss ausführt, Verwirkung eintreten (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 22. 6. 2005 - 1 Ws 312/05: bei 18 Jahre andauender Untätigkeit). Zutreffend geht das Landgericht jedoch davon aus, dass eine Untätigkeit von weniger als drei Jahren nicht zur Verwirkung gemäß § 242 BGB führt.

Soweit eine Gebührenerhöhung um 20 % angesichts der Bedeutung der Sache für die Nebenklägerin als angemessen erachtet wird, ist dies ebenfalls nicht zu beanstanden.

Nach Abs. 1 der amtlichen Vorbemerkung zu Teil 4 des Vergütungsverzeichnisses zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz gelten für die Tätigkeit als Beistand eines Nebenklägers die Vorschriften des RVG entsprechend. Bei den in diesem Verzeichnis aufgeführten Gebühren handelt es sich um Rahmengebühren, die ihrer Höhe nach gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 RVG vom Nebenklägervertreter unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles nach billigem Ermessen bestimmt werden. Zu den Umständen des Einzelfalles zählen der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, die Bedeutung der Angelegenheit für den Auftraggeber sowie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers. Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist die Gebühr im Einzelfall nach billigem Ermessen zu bestimmen. Gemäß § 14 Abs. 1 S. 4 RVG ist die Gebührenbestimmung des Rechtsanwalts für den Auftraggeber sowie für erstattungspflichtige Dritte grundsätzlich verbindlich, es sei denn, dass sie unbillig ist. Dabei werden in der Regel Abweichungen von bis zu 20 % von der angemessenen Gebühr noch nicht als unbillig angesehen (vgl. bezüglich des Nebenklagebeistands OLG Hamm, Beschluss vom 05.07.2012, a.a.O.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23.04.2012 - III-2 Ws 67/12 -, OLG Hamm, Beschluss vom 09.03.2017 - 1 Ws 54/17 III).

Vorliegend ist die Bedeutung der Angelegenheit für die durch das Tatgeschehen über geraume Zeit und noch im Zeitpunkt der Hauptverhandlung insbesondere psychisch erheblich beeinträchtigte Nebenklägerin als sehr hoch und damit als deutlich überdurchschnittlich einzuschätzen, zumal sie ersichtlich ein erhebliches Interesse an dem Ausgang des Strafverfahrens gegen den Verurteilten hatte. Angesichts der gravierenden psychischen Belastungen, der die Nebenklägerin durch die Tat ausgesetzt war, liegt es nach Auffassung des Senats auf der Hand, dass auch die Art der Tätigkeit des Nebenklagebeistands als schwierig einzustufen ist, wie er im Kostenfestsetzungsverfahren hinreichend dargelegt hat. Daher ist es im Grundsatz ohne Weiteres nicht als unbillig anzusehen, dass der Nebenklagebeistand bei seinen Festsetzungsanträgen eine Erhöhung der Mittelgebühr um 20% vorgenommen hat, die dann auch festgesetzt wurde. Es ist auch nicht ersichtlich, dass diese Erhöhung der Mittelgebühr im groben Missverhältnis zu den Vermögensverhältnissen der Nebenklägerin stehen würde.

Auch soweit der Beschluss die Kosten der Zuziehung eines am Wohn- oder Geschäftsort ansässigen Rechtsanwalts für erstattungsfähig hält, ist hiergegen nichts zu erinnern. Zunächst ist insoweit darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Nebenklägervertreter nicht um einen ortsfremden Rechtsanwalt handelt. Der Nebenklagebeistand ist in ... ansässig und damit innerhalb des Landgerichtsbezirks Lüneburg niedergelassen.

Lediglich ergänzend weist der Senat überdies darauf hin, dass in der Rechtsprechung hinsichtlich der Frage, welche Kosten nach § 91 Abs. 2 ZPO zu erstatten sind, ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat und die Vorschrift deutlich weiter ausgelegt wird. Der Gesichtspunkt der Ortsnähe tritt im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung gegenüber dem besonderen Vertrauensverhältnis zurück (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 06.02.2019 - 2 Ws 37/19). In der vorliegenden Konstellation kann ferner die Gesetzesbegründung herangezogen werden, die besonders auf den Gesichtspunkt des Opferschutzes hinweist: "Wohnt z. B. das Opfer einer Vergewaltigung in K., findet das gerichtliche Verfahren jedoch in H. statt, so wird es häufig angezeigt sein, dem Opfer einen anwaltlichen Beistand aus dem K. Bereich zu bestellen, weil dieser es vor Ort besser betreuen kann" (vgl. BT-Drs. 16/12098, S. 20).

Hinsichtlich der Revisionsgebühr gemäß Nr. 4130 VV RVG ist ebenfalls anerkannt, dass diese bereits mit Entgegennahme der gegnerischen Revisionsschrift entsteht (vgl. Hartmann, Kostengesetze, 44. Aufl., 4130-4135 VV Rn. 4; Senat, Beschluss vom 25.10.2018 - 2 Ws 405/18).

Gegen die Bestimmung der Höhe der Gebühr bestehen ebenfalls keine Bedenken. Wird die von einem Angeklagten eingelegte Revision mit der Sachrüge begründet und wird eine materiell-rechtliche Prüfung notwendig, so ist bei der Bestimmung der Höhe der Verfahrensgebühr für den Nebenklägervertreter nach Nr. 4130 VV-RVG die Festsetzung einer Mittelgebühr nicht unbillig i.S. von § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG (vgl. Senat, a.a.O.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 04.04.2018, Az. 1 Ws 157/18, - juris, für den vergleichbaren Fall des Gebührenanspruchs des Verteidigers bei einer vom Nebenkläger eingelegten Revision). Soweit auch hier eine Erhöhung des Gebührensatzes um 20% vorgenommen wurde, ist ebenfalls auf die Bedeutung des Rechtsmittelverfahrens für die Nebenklägerin abzustellen, die ein ausgeprägtes Interesse an der Rechtskraft des Urteils hatte und für die das Revisionsverfahren mit erheblichen weiteren psychischen Belastungen verbunden war. Überdies werden, wie oben bereits festgestellt, Abweichungen von bis zu 20% in der Regel nicht als unbillig angesehen.

Dass die Dokumentenpauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG in Höhe von 40 € entstanden ist, hat das Landgericht anhand der Akte selbst überprüft. Die Festsetzung dieser Gebühr ist nicht zu beanstanden.

Nach alledem war die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

III.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 473 Abs. 1 StPO entsprechend.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (vgl. KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, StPO § 464b Rn. 4f).