Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 21.08.2000, Az.: 1 B 52/00
Begründungsmangel; dienstliche Gründe; effektiver Rechtsschutz; Folgenabwägung; Folgenbetrachtung; Fürsorgepflicht; Hauptsache Erfolgsaussichten; Interessenabwägung; irreparable Nachteile; vorläufiger Rechtsschutz
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 21.08.2000
- Aktenzeichen
- 1 B 52/00
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2000, 41908
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 19 Abs 4 GG
- § 80 Abs 5 VwGO
- § 123 VwGO
- § 39 VwVfG
- § 126 Abs 3 Nr 3 BRRG
- § 79 BBG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist eine Folgenbetrachtung vorzunehmen, bei der die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Nachteile für den Bürger zu erwägen sind.
2. Bei der Gefahr irreparabler Nachteile kann vorläufiger Rechtsschutz nur nach sehr eingehender Prüfung der Sach- und Rechtslage versagt werden.
3. Ist die Sach- und Rechtslage (noch) nicht überschaubar, kann und muss eine Entscheidung auf der Grundlage einer bloßen Folgenabwägung getroffen werden.
Gründe
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG ZBR 1996, 334 m.w.N.) sind die Fachgerichte gerade in den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gehalten, bei Anwendung und Auslegung der diesen Rechtsschutz gestaltenden Regelungen – der §§ 80 und 123 VwGO – der besonderen Bedeutung etwa betroffener Grundrechte und vor allem den Erfordernissen eines effektiven, den Zeitablauf berücksichtigenden Rechtsschutzes Rechnung zu tragen. Demgemäß besteht die Verpflichtung, bei Anwendung der Verfahrensordnung und der Entscheidungsfindung diejenigen Folgen in Rechnung zu stellen und zu erwägen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den rechtsschutzsuchenden Bürger verbunden sind. Denn in Art. 19 Abs. 4 GG ist ein Anspruch des Bürgers auf eine „tatsächlich und rechtlich wirksame Kontrolle“ verankert, dem gebührend Rechnung zu tragen ist:
"Je schwerer die sich daraus ergebenden Belastungen wiegen, je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, um so weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden (vgl. BverfGE 35, 382/402; 65, 1/70; 67, 43/58; 69, 315/363; 79, 69/74)". – so BverfG, ZBR 1996, 335.
Hieraus folgt, dass eine Versagung vorläufigen Rechtsschutzes – gestützt etwa auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache – mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG eine sehr eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage voraussetzt, falls die Versagung zu irreparablen und unwiederbringlichen Nachteilen führt. Solche Anforderungen belasten die Gerichte nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht etwa unzumutbar, weil ihnen ein „anderes Verfahren offensteht“: Sie können ihre Entscheidung auf der Grundlage einer Folgenabwägung treffen. Ist es wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich, Rechtsfragen im Hinblick auf einen möglichen Ausgang des Hauptsacheverfahrens vertieft zu behandeln, so kann und soll die im vorläufigen Rechtsschutzverfahren anstehende Entscheidung auf einer solchen Grundlage getroffen werden.
Da hier die maßgeblichen, die Antragsgegnerin leitenden „dienstlichen Gründe“ im Versetzungsbescheid vom 13. Juni 2000 weder angedeutet noch näher genannt worden sind, dieser Bescheid – auch angesichts dessen, dass es sich bei ihm um eine Ermessensentscheidung handelt – somit an einem offenkundigen Begründungsmangel leidet (§ 39 VwVfG), ist mit Blick auf den bereits am 22. August 2000 anstehenden Dienstantritt des Antragstellers zunächst einmal (s. Ziff. 1 des Tenors) die aufschiebende Wirkung des erhobenen Widerspruchs vorläufig anzuordnen (§§ 126 Abs. 3 Nr. 3 BRRG, 80 Abs. 5 VwGO). Denn der Bescheid leidet an einem im Rechtsstaat nicht hinnehmbaren Rechtsfehler, wenn die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe nicht benannt und mitgeteilt werden, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben (§ 39 VwVfG). Für ein Verfahren der Hauptsache dürften somit derzeit hinreichende Erfolgsaussichten vorliegen. Im übrigen zöge die Versagung kurzfristig wirksamen vorläufigen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragstellers nach sich, binnen kürzester Zeit seinen Dienst in A. anzutreten, obgleich er nach dem ärztl. Attest des Dr. med. W. B. vom 29. Juni 2000 an rezid. Schwindelattacken leidet und er nach dem Dienstantritt die entsprechende Behandlung nur unter erschwerten Bedingungen noch fortsetzen könnte. Auch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen seiner Verlobten (Hörsturz mit Tinnitus, Bandscheibenvorfall mit Wurzelreizsyndrom), mit der er gem. seiner eidesstattl. Versicherung vom 18. August 2000 in einer gemeinsamen Wohnung in C. lebt, sind zu berücksichtigen und sprechen für eine kurzfristige Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Schließlich ist z.Z. nicht erkennbar, ob die Antragsgegnerin die bei ihr praktizierten Härtefall- und Sozialkriterien (vgl. dazu den Härtefallantrag v. 20.3.00 und den Fragebogen zu Sozialkriterien v. 24.2.00) im Falle des Antragstellers fürsorgegerecht angewandt hat, da es – wie ausgeführt – an einer Begründung der Versetzungsentscheidung gänzlich fehlt.
Bei dieser Lage der Dinge ist der Antragsgegnerin aus Gründen der Fürsorge des Dienstherrn für das Wohl seiner Beamten (§ 79 BBG iVm Art. 33 Abs. 4 GG) vorläufig auch eine heimatnahe Verwendung des Antragstellers gem. § 123 VwGO aufzugeben (s.o. Ziff. 3 des Tenors), da alles andere – soweit übersehbar – mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen der oben Genannten verbunden sein kann bzw. sein dürfte. Im übrigen stellt sich jedenfalls z.Z. die Sachlage als Unterlassung der Berücksichtigung besonderer, vom Antragsteller vorgetragener Umstände des Einzelfalles und damit als Verletzung der Fürsorgepflicht dar (BVerfGE 43, 154 [BVerfG 14.12.1976 - 2 BvR 99/76]). Für eine heimatnahe Verwendung spricht zudem, wie der Antragsteller darlegt, die offenbar vom Betriebsmediziner des GSP Nord, Dr. D., abgegebene Empfehlung, den Antragsteller aus gesundheitlichen Gründen im Hamburger Bereich und damit heimatnah zu verwenden.
Um schließlich bei den Bewerbungen des Antragstellers die vorschnelle Schaffung vollendeter Tatsachen zu Lasten des Antragstellers effektiv (Art. 19 Abs. 4 GG) zu verhindern, ist es schließlich auch geboten, zunächst einmal seine Einbeziehung in die benannten Auswahlverfahren und sodann die Nichtbesetzung einer dieser Stellen aufzugeben (Ziff. 2 des Tenors) . Denn andernfalls könnte der Antragsteller möglicherweise in den Auswahlverfahren von vorneherein unberücksichtigt bleiben und so binnen kurzer Zeit vor vollendete Tatsachen gestellt werden, die es im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu verhindern gilt, da sie weitgehend irreparabel sind.