Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 27.10.2009, Az.: 2 B 244/09

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
27.10.2009
Aktenzeichen
2 B 244/09
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 43841
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2009:1027.2B244.09.0A

In der Verwaltungsrechtssache

...

Streitgegenstand: Asyl; Syrien

hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 2. Kammer - am 27. Oktober 2009 durch den Einzelrichter beschlossen:

Tenor:

  1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 03.07.2009 wird angeordnet.

  2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

1

Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage vom 15.10.2009 (Az. 2 A 243/09) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 03.07.2009 - zugestellt am 15.10.2009 - anzuordnen, mit dem die Behörde feststellt, dass der Asylantrag des über Griechenland in die Bundesrepublik Deutschland eingereisten Antragstellers unzulässig ist und in dem seine Abschiebung nach Griechenland angeordnet wird, ist zulässig und begründet.

2

Allerdings geht das Bundesamt zu Recht davon aus, dass der Asylantrag unzulässig ist, so lange nicht die Bundesrepublik Deutschland von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 (ABl. L 50 S. 1) - Dublin II Verordnung - Gebrauch gemacht hat. Denn nach Art. 10 Abs. 1 Dublin II VO ist für die Durchführung des Asylverfahrens derjenige Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft zuständig, dessen Land-, See- oder Luftgrenze der aus einem Drittstaat kommende Asylbewerber illegal überschritten hat. Stellt der Asylbewerber dort keinen Antrag, so ist dieser Mitgliedstaat nach Art. 16 Abs. 1 Dublin II VO gehalten, einen Asylbewerber, der - wie der Antragsteller - in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, auf Ersuchen dieses Staates aufzunehmen und das Asylverfahren in eigener Zuständigkeit durchzuführen (vgl. Art. 17 Abs. 1 Dublin II VO), sobald er dem Ersuchen stattgegeben hat. Für den Fall, dass der um Übernahme ersuchte Mitgliedstaat über das Gesuch nicht innerhalb von zwei Monaten entschiedet, sieht Art. 18 Abs. 7 Dublin II VO eine Zustimmungsfiktion vor, die auch im hier vorliegenden Fall greift. Gegen diese fingierte Zustimmung kann zwar nach Art. 19 Abs. 2 Dublin II VO ein Rechtsbehelf eingelegt werden, der aber keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung hat, es sei denn die Gerichte entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist.

3

Letzteres ist in Deutschland nach dem einfachen Bundesrecht nicht der Fall. Vielmehr bestimmt § 34a Abs. 2 AsylVfG, dass die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden darf. Den sicheren Drittstaaten gleichgestellt sind nach Art. 16a Abs. 2 GG die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Als innerstaatliches Recht, welches bei der Entscheidung darüber zu berücksichtigen ist, ob einem Antrag auf Aussetzung der Überstellung bzw. Abschiebung stattgegeben werden darf, ist in der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls das Grundgesetz zu beachten, dem im Verhältnis zum einfachen Bundesrecht ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt die körperliche Unversehrtheit jedes Menschen und Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet die Möglichkeit, gegen unzulässige Eingriffe in dieses Grundrecht, effektiven Rechtsschutz zu erlangen. Von der Gewährleistung eines solchen Schutzes ist der Normgeber bei der Novellierung des Asylverfahrensgesetzes und bei der Verankerung des Systems sicherer Drittstaaten im Grundgesetz ausgegangen. Dabei hat der verfassungsändernde Gesetzgeber angenommen, dass diese Rechtsschutzgarantien in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft nicht nur de jure sondern auch de facto vorhanden sind. Die Entscheidung darüber, ob dies für einen Drittstaat ebenfalls gilt, der deshalb als "sicher" zu betrachten ist, steht dem Bundesgesetzgeber zu. Dieses Konzept der normativen Vergewisserung über die Sicherheit im Drittstaat durch den Gesetzgeber ist höchstrichterlich als verfassungsgemäß anerkannt (vgl. BVerfG, Urt. vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93 -, BVerfGE 94, 49). Hat der Gesetzgeber entschieden, dass ein Drittstaat, aus dem ein Asylbewerber einreist, als sicher gilt, so kann der Ausländer den Schutz der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich nicht mit der Begründung einfordern, für ihn bestehe in dem Drittstaat keine Sicherheit, weil dort in seinem Einzelfall - trotz normativer Vergewisserung - die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht erfüllt würden. Der Ausländer ist mithin mit der Behauptung ausgeschlossen, in seinem Fall werde der Drittstaat entgegen seiner sonstigen Praxis Schutz verweigern. Auch kann er sich nicht darauf berufen, ein - niemals völlig auszuschließendes - Fehlverhalten der Behörden im Drittstaat könne in seinem Fall zu einer Weiterschiebung in den Herkunftsstaat führen.

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In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 14.05.1996 im Lichte des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG allerdings ausgeführt, dass die Bundesrepublik Deutschland trotz des Prinzips der normativen Vergewisserung Schutz zu gewähren hat, wenn Abschiebungshindernisse durch Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich selbst heraus gesetzt sind. Sodann benennt das Bundesverfassungsgericht verschiedene Fallkonstellationen, in denen eine solche Sondersituation vorliegen kann. In seiner Entscheidung hat das Gericht weder festgestellt, dass die von ihm benannten Konstellationen als abschließende Aufzählung zu betrachten wären, noch hatte es Anlass dazu Stellung zu nehmen, ob seine Ausführungen auch im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft Geltung beanspruchen. Berücksichtigt man, dass Art. 24 GG nicht den Weg eröffnet, das Grundgefüge der Verfassung anzutasten, zu dessen unaufgebbarem Bestandteil die fundamentalen Rechtsgrundsätze gehören, die in den Grundrechten des Grundgesetzes anerkannt und verbürgt sind (vgl. BVerfG, Beschl. vom 26.01.1981 - 2 BvR 1107/77 -, BVerfGE 58, 1), so liegt es nahe, die Vorgaben der Entscheidung vom 14.05.1996 auch dann zu berücksichtigen, wenn Zielstaat einer Überstellung oder Abschiebung nicht ein sicherer Drittstaat ist, sondern ein Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft. Mit den vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Umständen, die außerhalb der Grenzen dessen liegen, was im Rahmen einer normativen Vergewisserung Berücksichtigung finden kann, ist auch eine Fallkonstellation vergleichbar, in der ein sicherer Drittstaat oder ein Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaft aufgrund fehlender ausreichender Ressourcen personeller, sachlicher, finanzieller und / oder organisatorischer Art nicht in der Lage ist, die körperliche Unversehrtheit und / oder die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes zu gewährleisten, weil er durch den unvorhergesehenen Umfang der Inanspruchnahme dieser Rechte (zeitweise) überfordert ist. Nichts anderes bringt das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 08.09.2009 (Az. 2 BvQ 56/09, EuGRZ 2009, 540) zum Ausdruck, mit dem es die Abschiebung eines Asylbewerbers nach Griechenland vorläufig untersagt hat. Dabei hat es berücksichtigt, dass nach dem Vortrag des Antragstellers, dessen Richtigkeit nicht von vornherein zu verneinen ist, die Gefahr besteht, dass der Ausländer in Griechenland in angemessener Zeit keinen Zugang zu einem ordnungsgemäßen Asylverfahren erhält, und auch die Zuweisung einer menschenwürdigen Unterkunft nicht gewährleistet ist. Aus dem zuletzt genannten Grund ist nicht auszuschließen, dass der Asylbewerber mangels ladungsfähiger Anschrift seine Rechte in einem hier anhängigen Klageverfahren nicht wirksam Geltend machen kann, was eine Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG bedeuten würde.

5

Soweit es die aktuelle tatsächliche Situation der Asylbewerber in Griechenland betrifft verweist die Kammer auf die detaillierten Ausführungen des UNHCR in seinem Positionspapier zur Überstellung von Asylsuchenden nach Griechenland vom 15.04.2008 und die Feststellungen von Pro Asyl, die der Verein auf der Grundlage einer Vor-Ort-Recherche zur Situation von Asylsuchenden in Griechenland in der Zeit vom 20. bis 28.10.2008 getroffen hat. Diesen Schilderungen, welche eine Gefährdung von Grundrechten für eine größere Zahl von Asylsuchenden möglich erscheinen lassen, ist die Antragsgegnerin nicht hinreichend substantiiert entgegengetreten. Soweit es die Feststellung betrifft, dass Asylbewerber ihr Begehren nicht hinreichend zum Ausdruck bringen können und über bestehende Rechtsschutzmöglichkeiten nicht hinreichend belehrt werden, weil die zentrale Aufnahmeeinrichtung personell überfordert ist und keine ausreichende Zahl von Dolmetschern zur Verfügung steht, kann eine weitere Verschlechterung der Situation nicht ausgeschlossen werden. Denn mit dem am 20.07.2009 in Kraft getretenen Präsidialerlass Nr. 81/2009 wird das erstinstanzliche behördliche Verfahren auf über 50 Polizeistationen im Land dezentralisiert (vgl. VG Schleswig-Holstein, Beschl. vom 12.08.2009 - 9 B 37/09 -, juris), was die Bereitstellung von Dolmetschern weiter erschweren dürfte. Zudem sollen mit dem Erlass auch die Berufungskommissionen abgeschafft worden sein, was die Möglichkeiten einer Überprüfung der erstinstanzlichen Behördenentscheidungen weiter einschränken würde.

6

Unter Berücksichtung der vorstehenden Umstände ist sowohl die Frage, ob die vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeiteten Grenzen der normativen Vergewisserung auf Fälle der vorliegenden Art auszudehnen sind, als auch die Erfolgsaussicht der Klage des Antragstellers, die auf eine ermessensreduzierte Entscheidung über das Selbsteintrittsrecht der Bundesrepublik Deutschland zu seinen Gunsten hinausläuft, als offen anzusehen und deshalb eine an den Folgen der vorgesehenen Abschiebung orientierte Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. BVerfG, Beschl. vom 25.01.1995 - 2 BvR 2689/94, 2 BvR 52/95 -, NJW 1995, 950 [BVerfG 25.01.1995 - 2 BvR 2689/94]; BayVGH, Beschl. vom 08.02.1979 - 7 Ce.-36/79 -, BayVBl 1979, 371). Diese geht zugunsten des Antragstellers aus, weil die der Antragsgegnerin im Falle des Obsiegens aus einem vorübergehenden Verbleib des Antragstellers im Inland drohenden Nachteile weniger schwer wiegen, als die dem Antragsteller im Falle seiner Abschiebung nach Griechenland drohenden Nachteile. Denn er läuft Gefahr, trotz des bevorstehenden Winters obdachlos zu werden (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stuttgart vom 14.07.2009 S. 2; Österreichisches Rotes Kreuz & Caritas Österreich, Bericht "The Situation of Persons returned bei Austria to Greece under the Dublin Regulation - Report on a joint Fact-Finding Mission to Greece vom 17.08.2009, S. 9 f.) und damit zugleich für das Hauptsacheverfahren nicht mehr erreichbar zu sein.

7

Da die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 34a Abs. 2 AsylVfG Kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, darf eine aus verfassungsrechtlichen Gründen hiervon abweichende Entscheidung des Gerichts nicht weiter gehen, als dies zum Schutz der betroffenen Grundrechte zwingend notwendig erscheint. Deshalb ist die Antragsgegnerin nicht gehindert, einen Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 VwGO zu stellen, sobald durch eine Abklärung mit den griechischen Behörden im Einzelfall für den Antragstellers gewährleistet ist, dass er nach seiner Abschiebung eine menschenwürdige Unterkunft und alsbaldigen Zugang zum Asylverfahren erhält. Auf die Möglichkeit entsprechender Konsultationen hat bereits das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 14.05.1996 (a.a.O. Abs. 191) hingewiesen.

8

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG.