Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 17.02.1982, Az.: 3 U 152/81

Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld; Verletzungen auf Grund eines Verkehrsunfalls

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
17.02.1982
Aktenzeichen
3 U 152/81
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1982, 15926
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1982:0217.3U152.81.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Verden - 06.05.1981 - AZ: 7 O 43/81

Verfahrensgegenstand

Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall

Der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle hat
auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 1982
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...
den Richter am Oberlandesgericht ... und
den Richter am Landgericht ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das am 6. Mai 1981 verkündete Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Verden wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin darf die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitleistung oder Hinterlegung in Höhe von 8.950 DM abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten. Beide Parteien dürfen die Sicherheit durch eine unbedingte, unbefristete und selbstschuldnerische Bürgschaft einer deutschen Großbank, Volksbank oder öffentlichen Sparkasse erbringen.

Der Wert der Beschwer der Klägerin beträgt 41.322,73 DM.

Tatbestand

1

Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche und Schmerzensgeld geltend. Sie wurde als Mitfahrerin im Pkw Audi 100, amtliches Kennzeichen ..., des Beklagten zu 1), der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, bei einem Verkehrsunfall erheblich verletzt, der sich am 23. August 1978 gegen 23.05 Uhr, auf der Bundesautobahn A 7, Richtung Hannover, in der Gemarkung Fallingbostel ereignet hatte.

2

Der Beklagte, zu 1) segelte in der Zeit vom 26. Juli bis 23. August 1978 auf der Ostsee. Er hatte seinen Pkw während seiner Seereise auf dem Parkplatz einer Werft in T. abgestellt. Das Boot landete am 23. August 1978 nachmittags in T.. Die Ehefrau des Beklagten zu 1) und die Klägerin waren nach dort gefahren, um den Beklagten zu 1) abzuholen. Nachdem dessen Pkw mit dem Gepäck und Gegenständen der Ausrüstung beladen worden war, traten die Beteiligten - der Beklagte zu 1) am Lenkrad - die Heimfahrt nach H. an. Nach einem Aufenthalt in einer Raststätte lenkte der Beklagte zu 1) wiederum das Fahrzeug, seine Ehefrau saß neben ihm, die Klägerin auf der Rückbank. Der Beklagte zu 1) hielt eine Geschwindigkeit von etwa 140 km/h. Unmittelbar vor der Unfallstelle überholte er zwei Fahrzeuge. Als er nach dem Überholvorgang wieder auf die Normalspur zurückgekehren wollte, löste sich vom rechten Hinterreifen seines Pkw die Lauffläche. Der Beklagte zu 1) bremste und versuchte gegenzusteuern. Dabei kam sein Fahrzeug zuerst nach links in die Nähe der Mittelleitplanke und schleuderte anschließend bei dem Versuch des Beklagten zu 1), eine Kollision mit der Leitplanke zu vermeiden, über die Normalspur auf den rechten seitlichen Grünstreifen neben der Fahrbahn, wo sich der Pkw überschlug, um anschließend auf dem Dach liegen zu bleiben.

3

Bei dem Unfall wurde die Klägerin erheblich verletzt. Sie erlitt ein frontobasales Schädel-Hirn-Trauma mit Orbitalpfählungsverletzungen links, eine Fissur der seitlichen Siebbeinwand und eine Kompression der Sehnerven. Diese Verletzungen wurden am 25. August 1978 in der Medizinischen Hochschule in H. operativ behandelt. Da die zentralen Gefäße des linkes Auges der Klägerin aber ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren, ließ sich eine Wiederherstellung der Sehkraft dieses Auges nicht erreichen, die Klägerin ist vielmehr durch den Unfall auf dem linken Auge erblindet. Außerdem wurden bei der Operation einige Hautnerven durchschnitten, was zu bleibenden Gefühlsstörungen in der linken Kopfseite und Beeinträchtigungen des Geruchssinnes führte. Ferner erlitt die Klägerin Thoraxprellungen, ein HWS-Syndrom und eine knöcherne Absprengung des Dornfortsatzes des 4. Halswirbelkörpers; außerdem verlor sie einen Zahn (Bl. 16. 17 d.A.). Wegen dieser Verletzungen wurde die Klägerin vom 23. August bis 8. September 1978 stationär behandelt, sie war bis zum 23. September 1978 arbeitsunfähig. Im übrigen leidet sie noch heute an den Verletzungsfolgen. Der Grad der Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit beträgt 60 % (Bl. 12 d.A.).

4

Die Klägerin hat durch den Unfall einen Sach- und Vermögensschaden von insgesamt 1.322,73 DM erlitten, den sie im einzelnen aufgeschlüsselt hat (Bl. 9 bis 11 d.A.) und den die Beklagten nicht bestreiten. Ferner beansprucht sie ein angemessenes Schmerzensgeld, von dem sie meint, daß es angesichts der schwerwiegenden Verletzungen mit erheblichen Dauerfolgen mindestens 25.000 DM betragen müsse (Bl. 7 d.A.).

5

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, der Beklagte zu 1) habe den Unfall verschuldet. Sie hat dazu behauptet, die Lauffläche des rechten Hinterreifens habe sich nicht infolge eines Material- oder Herstellungsfehlers gelöst, sondern deshalb, weil der Beklagte zu 1) den Reifen über längere Zeit mit zu geringem Luftdruck gefahren habe; auch habe er vor Antritt der Rückfahrt in T. den Reifendruck nicht geprüft, obwohl der Wagen einen Monat unbenutzt auf einem Parkplatz gestanden habe (Bl. 3, 4, 44, 45 d.A.). Ferner habe er in dem Zeitpunkt, in dem der Defekt aufgetreten sei, falsch reagiert, indem er gebremst und den Pkw übersteuert habe. Selbst bei einem geplatzten Reifen sei es einem durchschnittlichen Kraftfahrer dagegen möglich, seinen Pkw zu beherrschen und am Straßenrand zum Stehen zu bringen (Bl. 4 d.A.).

6

Die Klägerin hat beantragt,

7

1. Die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, der Klägerin 1.322,73 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 19, Februar 1981 (Datum der Klagezustellung) zu zahlen,

8

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, der Klägerin ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 25.000 DM,

9

3. festzustellen, daß die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin alle zukünftigen infolge des Verkehrsunfalls vom 23. August 1978 noch auftretenden Schäden zu ersetzen.

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Die Beklagten haben beantragt,

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die Klage abzuweisen.

12

Sie haben behauptet, die Lauffläche des rechten Hinterreifens habe sich infolge eines Materialfehlers gelöst (Bl. 32 d.A.), und haben sich dazu darauf berufen, daß der Beklagte zu 1) unstreitig zuvor einen Reifen desselben Herstellers teilweise erfolgreich bemängelt hatte (Bl. 42, 43 d.A. 6 DS 117/79 AG Walsrode). Ferner haben sie behauptet, der Beklagte zu 1) habe den Reifendruck vor der Abfahrt in T. geprüft (Bl. 33, 37, 38 d.A.). Eine mögliche Vorschädigung sei nicht wahrnehmbar gewesen (Bl. 33 d.A.). Die Lauffläche habe sich im übrigen plötzlich und ohne Vorankündigung abgelöst, wodurch das Fahrzeug sogleich ins Schleudern geraten sei. Der Beklagte zu 1) habe sachgerecht versucht, eine Kollision mit der Leitplanke oder gar deren Überquerung zu vermeiden, was auch gelungen sei, ohne daß er jedoch den Schleudervorgang habe abfangen können (Bl. 31, 34 bis 37 d.A.).

13

Das Landgericht Verden hat die Klage durch das angefochtene Urteil nach Beiziehung der Akten 6 DS 117/79 AG Walsrode zu Beweiszwecken abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, es sei zwar festzustellen, daß sich die Lauffläche vom rechten Hinterradreifen des Pkw des Beklagten zu 1) nicht infolge eines Materialfehlers gelöst habe, sondern deshalb, weil der Reifen zu geringen Luftdruck aufgewiesen habe, es sei aber nicht bewiesen, daß der Schaden deshalb aufgetreten sei, weil der Beklagte zu 1) gerade auf der Fahrt von T. mit Unterdruck gefahren sei. Der Schaden könne vielmehr schon durch eine frühere Fahrt mit zu geringem Luftdruck verursacht worden sein, ohne daß dies bei Antritt der Unglücksfahrt erkennbar gewesen wäre. Daraus könne aber gegen den Beklagten zu 1) ein Schuldvorwurf nicht hergeleitet werden. Schließlich könne dem Beklagten zu 1) ebenfalls nicht vorgeworfen werden, auf das Ereignis, das ihn unvorbereitet getroffen habe, möglicherweise nicht optimal reagiert zu haben. Wegen der Sachdarstellung im einzelnen wird auf das angefochtene Urteil nebst seinen Verweisungen (Bl. 49 bis 53 d.A.) Bezug genommen.

14

Gegen dieses am 6. Mai 1981 verkündete und der Klägerin am 15. Mai 1981 zugestellte Urteil (Bl. 60 d.A.) richtet sich ihre am 15. Juni 1981 bei Gericht eingegangene Berufung (Bl. 70 d.A.), die sie durch den am 20. Juli 1981 eingegangenen Schriftsatz begründet hat (Bl. 73 d.A.).

15

Die Klägerin meint nach wie vor, der Beklagte zu 1) habe den Unfall verschuldet. Dazu behauptet sie erneut, er habe den Reifendruck vor Antritt der Unglücksfahrt nicht überprüft. Sie behauptet in diesem Zusammenhang ergänzend, der Schaden sei auch gerade dadurch verursacht worden, daß der Beklagte zu 1) mit zu geringem Luftdruck mit hoher Geschwindigkeit und starker Belastung des Pkw über die Bundesautobahn gefahren sei. Sollte die Beschädigung des Reifens dadurch hervorgerufen worden sein, daß der Beklagte zu 1) auf früheren Fahrten mit zu geringem Luftdruck gefahren sei, so liege sein Verschulden darin, eine regelmäßige Oberprüfung unterlassen zu haben. Im übrigen meint die Klägerin erneut, der Beklagte zu 1) habe im Unfall Zeitpunkt falsch reagiert. Der Schaden kündige sich durch ein ungewohntes Geräusch an, auch sei der Pkw trotz abgerissener Lauffläche ohne erhebliche Schwierigkeiten beherrschbar geblieben, weil die Luft aus dem Reifen nicht plötzlich entwichen sei. Dar Beklagte zu 1) habe das Fahrzeug vielmehr infolge Übermüdung übersteuert.

16

Die Klägerin beantragt,

17

das angefochtene Urteil zu ändern und

18

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, der Klägerin 1.322,73 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 19. Februar 1981 (Datum der Klagezustellung) zu zahlen,

19

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, der Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, das der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, wenigstens jedoch 25.000 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 19. Februar 1981 zu zahlen,

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3. festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin alle nicht auf öffentliche Versicherungsträger übergegangenen materiellen sowie die bisher nicht übersehbaren immateriellen Schäden aus dem Unfall vom 23. August 1978 zu ersetzen,

21

hilfsweise,

22

für den Fall einer Maßnahme gemäß § 711 ZPO der Klägerin nachzulassen, Sicherheit auch durch Bürgschaft einer deutschen Großbank, Volksbank oder öffentlichen Sparkasse zu erbringen.

23

Die Beklagten beantragen,

24

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen,

25

hilfsweise,

26

für den Fall einer Maßnahme gemäß § 711 ZPO den Beklagten nachzulassen, Sicherheit auch durch Bürgschaft einer deutschen Großbank, Volksbank oder öffentlichen Sparkasse zu erbringen.

27

Sie behaupten erneut, es sei zumindest nicht auszuschließen, daß der Defekt des rechten Hinterradreifens am Pkw des Beklagten zu 1) auf einen Material- oder Herstellungsfehler zurückgehe. Im übrigen habe der Beklagte zu 1) den Reifendruck nicht nur vor Antritt der Fahrt in T. geprüft, er habe dies vielmehr auch in der Vergangenheit regelmäßig getan. Schließlich behaupten die Beklagten wiederum, der Defekt sei überraschend aufgetreten, gleichzeitig sei die Seitenführungskraft derart herabgesetzt worden, daß der Pkw habe ins Schleudern geraten müssen.

28

Wegen des Parteivorbringens im einzelnen wird auf die Berufungsbegründung vom 20. Juli 1981 (Bl. 73 bis 77 d.A.), die Schriftsätze der Klägerin vom 5. Oktober 1981 (Bl. 92 bis 94 d.A.) und 23. Dezember 1981 (Bl. 109, 110 d.A.) sowie auf die Berufungsbeantwortung vom 30. September 1981 (Bl. 85 bis 91 d.A.) und den Schriftsatz der Beklagten vom 11. Januar 1982 (Bl. 115, 116 d.A.) verwiesen. Die Akten 6 DS 117/79 AG Walsrode waren Gegenstand des beiderseitigen Vorbringens. Gemäß Beschluß vom 6. Oktober 1981 (Bl. 95, 96 d.A.) ist Beweis erhoben worden; wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des Sachverständigen Professor Dr. L. vom 10. Dezember 1981 - im hinteren Aktendeckel - und die Niederschrift vom 27. Januar 1982 (Bl. 122, 123 d.A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

29

Die Berufung ist unbegründet.

30

1.

Die Klägerin hat ein Verschulden des. Beklagten zu 1) am Zustandekommen des Verkehrsunfalls vom 23. August 1978 nicht bewiesen, was für sie nachteilig ist, weil sie für das Vorliegen sämtlicher tatsächlicher Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB uneingeschränkt beweisbelastet ist.

31

a)

Allerdings steht aufgrund der übereinstimmenden, überzeugenden Gutachten der Sachverständigen R. (Bl. 52 d.A. 6 Ds 117/79 AG Walsrode) und Professor Dr. L. (Seite 6) zur Überzeugung des Senats fest, daß der Defekt des rechten Hinterradreifens am Pkw des Beklagten zu 1) nicht auf einem Material- oder Herstellungsfehler beruhte. Aus dem von beiden Sachverständigen festgestellten Schäden wie dem breiten Abdruck der Felgenhornoberkanten, der auffallend starken Abnutzung der Laufflächenkanten gegenüber der Laufflächenmitte, der Verfärbung der Inneneinlage und dem verschmierten Gummi an der Gürtelkante des beschädigten Reifens (Gutachten Rudolf Bl. 51 d.A. 6 Ds 117/79 AG Walsrode, Gutachten Professor Dr. L., Seite 10) ergibt sich vielmehr eindeutig, daß der beschädigte Reifen über längere Zeit mit zu geringem Luftdruck betrieben wurde. Es kann jedoch dahingestellt bleiben, ob der Beklagte zu 1) den Reifendruck unmittelbar vor Antritt der Heimfahrt in T. überprüft hat oder nicht. Schadensursache war hier nach den übereinstimmenden Feststellungen der beiden Sachverständigen Lösungen zwischen den Gürtellagen. Dabei ist es nach den überzeugenden Erläuterungen des Sachverständigen Professor Dr. L. unwahrscheinlich, daß sich die hier aufgetretenen Erscheinungen erst auf der Fahrt zwischen T. und der späteren Unfall stelle neu entwickelt haben, die Lösungen müssen vielmehr bereits latent vorhanden gewesen sein (Bl. 122 d.A. und Gutachten Seite 5 a).

32

Der Senat geht daher davon aus, daß der Beklagte zu 1) seinen Pkw schon längere Zeit vor dem Unfall mit zu geringerem Luftdruck gefahren hat, wodurch der durch später ausreichenden Druck nicht mehr behebbare Schaden hervorgerufen wurde. Dafür spricht auch die Feststellung des Sachverständigen Professor Dr. L., daß auch der auf das linke Vorderrad montierte, unbeschädigt gebliebene Reifen Merkmale von Unterdruck aufwies (Gutachten, Seite 6). Allein, dem Beklagten zu 1) kann nicht vorgeworfen werden, schuldhaft mit einem durch mangelnden Reifendruck verkehrsunsicher gewordenen Pkw gefahren zu sein. Fahrlässigkeit im Sinne des § 276 BGB setzt nämlich Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit der drohenden Tatbestandsverwirklichung voraus (vgl. BGH in BGHZ 39, 281/285; Hanau in Münchener Kommentar, § 276 Rdz. 81), wobei darauf abzustellen ist, welche Sorgfaltsmaßstäbe bei einem gewissenhaften und besonnenen Angehörigen eines bestimmten Verkehrskreises tatsächlich üblich und rechtlich geboten sind (vgl. BGH in VersR 68, 395 m.w.N.; Hanau, a.a.O., § 276 Rdz. 85). Es kommt hier also entscheidend darauf an, ob ein besonnener und gewissenhafter Kraftfahrer, der aber nicht Berufskraftfahrer ist, im allgemeinen weiß, welche Gefahren Reifen, die mit um etwa 0,5 bar vermindertem Druck (Bl. 122 d.A.) betrieben werden, gerade auch für die Verkehrssicherheit heraufbeschwören können. Dieses Wissen ist nach Überzeugung des Senats (bedauerlicherweise) nicht genügend verbreitet. Es wird zwar in öffentlichen Stellungnahmen allgemein darauf aufmerksam gemacht, daß ein mit zu geringem Luftdruck gefahrener Reifen schnellerem Verschleiß unterliegt und daß der Kraftstoffverbrauch größer ist, diese Hinweise sind aber allenfalls geeignet, dem durchschnittlichen Kraftfahrer die Erkenntnis zu vermitteln, daß er die Kosten seines Pkw erhöht, wenn er nicht ständig für ausreichenden Reifendruck sorgt, sie verschleiern jedoch auf der anderen Seite ... die Einsicht in die Gefahren für die Verkehrssicherheit. Ausdrückliche Hinweise auf diese fehlen hingegen in den allgemein zugänglichen Quellen. Es ist mithin nicht tatsächlich üblich, daß ein "normaler" Kraftfahrer weiß, daß er den Reifendruck um der Verkehrssicherheit seines Fahrzeugs willen regelmäßig kontrollieren muß. Auch die Bestimmung des § 36 StVZO, die hinsichtlich der Bereifung von Fahrzeugen das rechtlich Gebotene normiert, enthält keinen Hinweis auf die Abhängigkeit der Verkehrssicherheit vom Reifendruck.

33

Abgesehen davon ist ein Unterdruck von 0,5 bar noch nicht so auffällig, daß er einem durchschnittlichen Fahrer - der nicht Berufsfahrer ist - bei den gebotenen Berichtigungen auf fallen muß. Es läßt sich - Gegenteiliges ist nicht vorgetragen - nicht ausschließen, daß der Beklagte zu 1) den für den Defekt entscheidenden Unterdruck nicht bemerkt hat. Es läßt sich ferner nicht ausschließen, daß dieser Unterdruck beim Tanken oder in einer Werkstatt beseitigt worden ist, ohne daß er ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, daß und wieviel Druck gefehlt hatte. Daran müßte selbst dann eine Verschuldensfeststellung scheitern, wenn man annimmt, daß der durchschnittliche Fahrer Kenntnis von den Auswirkungen eines nicht ausreichenden Drucks auf die Betriebssicherheit der Reifen haben müßte.

34

Da der Beklagte zu 1) nach allem nicht vorhersehen konnte und mußte, daß sich bei hoher Reisegeschwindigkeit und starker Belastung seines Pkw möglicherweise die Lauffläche eines Reifens lösen würde, weil er es in der Vergangenheit unterlassen hatte, stets für ausreichenden Luftdruck zu sorgen, scheidet ein Verschulden insoweit aus.

35

b)

Dem Beklagten zu 1) kann ferner nicht vorgeworfen werden, den Ablösungsprozeß nicht so rechtzeitig wahrgenommen zu haben, daß es noch möglich gewesen wäre, den Pkw vor der völligen Zerstörung der Lauffläche des Reifens zum Stehen zu bringen. Der Sachverständige Professor Dr. L. hat zwar in seinem schriftlichen Gutachten (Seite 10) ausgeführt, daß Aufreißen der Reifendecke und die stückweise Ablösung der Lauffläche kündige sich erfahrungsgemäß "geraume Zeit" zuvor durch ein drehzahlabhängiges, klopfendes Geräusch an, das viele Fahrer allerdings nicht richtig und vor allem nicht rechtzeitig zu deuten, geschweige denn zu lokalisieren wüßten, er hat aber in der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens nicht nur anschaulich geschildert, welche anderen, weitaus weniger gefährlichen Defekte und auch welche Mängel des Straßenbelags ähnliche Geräusche verursachen können, sondern er hat sich darüberhinaus ausdrücklich für außerstande erklärt zu quantifizieren, wann das erwähnte drehzahlabhängige Geräusch auftritt. Er war mithin nicht in der Lage, die von ihm angegebene "geraume Zeit" zeitlich oder hinsichtlich der Fahrstrecke genauer zu bestimmen als mit dem Hinweis, daß es sich um einen Zeitraum handelt, in dem man noch in der Lage sei, zumindest einen schweren Unfall zu vermeiden, wenn man nur das Geräusch wahrnehmen und insbesondere lokalisieren und dann richtig deuten könne (Bl. 123 d.A.).

36

Das reicht jedoch für den Beweis eines Verschuldens nicht aus. Hier steht nämlich nur aufgrund der eigenen Aussage der Klägerin im Strafverfahren fest, daß ein metallisches Geräusch auftrat und der Pkw gleichzeitig ins Schleudern geriet (Bl. 149 d.A. 6 Ds 117/79 AG Walsrode). Dieses Geräusch markiert hier nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme das Ende des Ablösungsprozesses, weil es von Teilen der Lauffläche herrührt, die von innen gegen den Radkasten geschleudert werden (Bl. 123 d.A.). Der Senat ist zwar davon überzeugt, daß der Beklagte zu 1) dieses verstärkte Klopfgeräusch wahrnehmen konnte und mußte, es steht aber nicht fest, ob die Zeitspanne, in der jene verstärkten Klopfgeräusche aufgetreten sind, im konkreten Fall ausreichte, das Signal zu lokalisieren und angemessen zu reagieren. Nach der vorstehend mitgeteilten Äußerung des Sachverständigen Professor Dr. L. gibt es für die Dauer des Ablösungsprozesses keine Erfahrungswerte. Da die Polizei die Lage der Teile der Lauffläche auf der Fahrbahn nicht festgehalten hat, war es unmöglich, an Hand dieser Spuren den Beginn des Ablösungsvorgangs festzustellen, so daß es demgemäß auch unmöglich war, danach die noch durchfahrene Strecke abzumessen. Die Klägerin hat nach allem den Vorwurf, der Beklagte zu 1) habe das wahrgenommene Klopfgeräusch fahrlässig unbeachtet gelassen, nicht bewiesen.

37

c)

Unstreitig hat der Beklagte zu 1) auf das Ablösen der Lauffläche vom rechten Hinterradreifen reagiert, indem er gebremst hat. Die dadurch ausgelösten Umfangskräfte beider Hinterräder waren jedoch unterschiedlich, weil die Lauffläche des rechten Hinterreifens abgerissen war. Durch die unterschiedlichen Umfangskräfte der Räder drehte sich der Pkw nach links um seine Hochachse und zog deshalb auf die Mittelleitplanke zu. Bei dem Versuch, eine Kollision mit der Leitplanke oder gar deren überqueren zu vermeiden, hat der Beklagte zu 1) unstreitig gegengesteuert, wodurch sein Pkw ins Schleudern geriet. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Professor Dr. L., dem der Senat folgt, war es objektiv falsch, in dieser Situation zu bremsen (Seite 4).

38

Gleichwohl begründet die falsche Reaktion des Beklagten zu 1) nach der Überzeugung des Senats nicht den Vorwurf der Fahrlässigkeit. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, ist das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers dann nicht vorwerfbar, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht vorhersehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um den Unfall zu vermeiden, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (vgl. BGH in NJW 76, 1504 m.w.N.).

39

So war es hier.

40

Da das Gegenteil nicht bewiesen ist, muß davon ausgegangen werden, daß der Beklagte zu 1) von der Gefahrenlage, wie sie durch den Defekt des rechten Hinterradreifens aufgetreten ist, so plötzlich und unvermutet überrascht wurde, daß er angesichts der von ihm gefahrenen Geschwindigkeit von unstreitig etwa 140 km/h zu einer ruhigen Überlegung, was geschah, und Besinnung darauf, wie er nun zu reagieren hatte, nicht mehr fähig war. In einer solchen, während der Fahrt nicht voraussehbaren Gefahrenlage kann dem Kraftfahrer, der keine praktische Schulung in der Bewältigung solcher Situationen hat, nicht mehr vorgeworfen werden, daß er schuldhaft falsch reagiert hat. Es liegt dann nicht anders als in sonstigen Fällen, in denen ein Kraftfahrer von einer gefährlichen Verkehrslage überrascht wird, die zum Schrecken und zur Bestürzung oder gar Panik führen kann. Da er im ersten Augenblick zu ruhiger Überlegung nicht fähig ist, kann von ihm auch nicht erwartet werden, daß er sich darauf besinnt, was ihm für einen solchen Fall möglicherweise theoretisch einmal gesagt worden sein mag. Auch verkehrserfahrene und sorgfältige Kraftfahrer können, ohne daß ihnen dies als Verschulden angelastet werden dürfte, in derartiger Situation instinktiv etwas Falsches tun, um der Gefahr zu begegnen. Das plötzliche Bremsen des Beklagten zu 1) ist eine typische instinktive Reaktion auf das zunächst von ihm nicht deutbare Geschehen aus einer psychischen Lage heraus, die er nicht erwiesenermaßen verschuldet hatte (vgl. BGH, ebendort).

41

Nachdem der Pkw einmal ins Schleudern geraten war, wäre es nach dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Professor Dr. L. (Seite 4) selbst für einen sehr versierten Fahrer kaum möglich gewesen, den Wagen wieder in einen stabilen Fahrzustand zurückzuführen, so daß es insoweit bereits an einem verkehrswidrigen Verhalten des Beklagten zu 1) fehlt.

42

Das Landgericht hat nach allem im Ergebnis zu Recht angenommen, daß der Beklagte zu 1) den Unfall der Klägerin nicht verschuldet hat.

43

2.

Eine Haftung der Beklagten aus dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr gemäß § 7 Abs. 1 StVG scheidet nach § 8 a StVG aus; denn die Klägerin ist im Pkw des Beklagten zu 1) mitgefahren, ohne daß dieser die Beförderung der Klägerin entgeltlich und geschäftsmäßig vorgenommen hätte.

44

3.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97, 546 Abs. 2, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Streitwertbeschluss:

Der Wert der Beschwer der Klägerin beträgt 41.322,73 DM.