Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 28.09.2016, Az.: 3 K 142/16
Anspruch von als unbegleitet minderjährige Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik eingereiste Geschwister auf Pflegekindergeld
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 28.09.2016
- Aktenzeichen
- 3 K 142/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2016, 26578
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2016:0928.3K142.16.0A
Rechtsgrundlagen
- § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG
- § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG
Fundstellen
- NWB 2016, 3507-3508
- NWB direkt 2016, 1254-1255
- SSP 2017, 4
- StX 2017, 73-74
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Ein Pflegekindschaftsverhältnis zwischen Geschwistern kann auch dann bestehen, wenn die minderjährigen (Pflege-)Kinder sich in einem fremden Kulturkreis neu orientieren müssen und sich daher in einer persönlichen Ausnahmesituation befinden und zu den im Ausland aber außerhalb ihres Herkunftslandes lebenden leiblichen Eltern nur unregelmäßigen telefonischen Kontakt haben.
- 2.
Das für ein Pflegekindschaftsverhältnis zu einem älteren Geschwisterteil erforderliche familienähnliche Band ist auch dann auf längere Dauer berechnet, wenn ungewiss ist, ob und wann es zu einer beabsichtigten Familienzusammenführung mit den leiblichen Eltern kommt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger für seine Geschwister A und B Kindergeld ab September 2015 zusteht.
Sowohl der am ... 1986 geborene Kläger als auch sein am ... 2000 geborener Bruder B sowie seine am ... 1999 geborene Schwester A besitzen die syrische Staatsbürgerschaft.
Die beiden Geschwister des Klägers reisten im Jahr 2015 als sog. Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland ein und leben seit dem 16. September 2015 gemeinsam mit dem Kläger in einer 3-Zimmer Wohnung in Y. Seine am ... 1990 geborene Ehefrau C lebt derzeit noch unter der Woche zu Ausbildungszwecken (Lehramtsreferendariat) in X. Der Kläger ist seit April 2016 Masterstudent (Wirtschaftsingenieur) und lebt schon länger in Deutschland. Er besitzt für den Streitzeitraum eine bis zum ... 2018 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, die die Ausübung einer Erwerbstätigkeit gestattet. Die gemeinsamen leiblichen Eltern des Klägers und seiner minderjährigen Geschwister leben seit dem Jahr 2012 im Libanon. Der Vater betreibt dort zur Erwirtschaftung der Lebenshaltungskosten einen Kiosk.
Aufgrund der Empfehlung des Jugendamtes der Stadt Y bestellte das Amtsgerichts Z mit Beschluss vom ... Oktober 2015 den Kläger zum Vormund für seine beiden minderjährigen Geschwister.
Den Antrag auf Gewährung von Kindergeld ab September 2015 lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, dass kein Pflegekindschaftsverhältnis im Sinne des § 63 Abs. 1 in Verbindung mit § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG vorläge.
Im Rahmen des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens erklärte der Kläger:
"Ein Familiennachzug ist derzeit aus aufenthaltsrechtlichen Gründen nicht möglich. Sollte sich der Aufenthaltsstatus meiner Mündel positiv verändern, möchte ich einen Familiennachzug beantragen. Die Beantragung sowie die Gewährung eines Nachzugs durch die Ausländerbehörde ist jedoch zeitlich nicht bestimmbar und im Ausgang ungewiss. Sie ist maßgeblich von der Anerkennung als GFK-Flüchtling abhängig. Das BAMF kann diese Anerkennung aber auch verwehren."
Unter Bezugnahme auf diese Erklärung wies die Beklagte den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 29. April 2016 mit der Begründung zurück, der Aufenthalt der minderjährigen Geschwister in seinem Haushalt sei bis zum Tag des Nachzugs der leiblichen Eltern begrenzt. Daher bestehe zwischen dem Kläger und seinen Geschwistern kein auf längere Dauer angelegtes familienähnliches Band.
Im Klageverfahren verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er behauptet, die familienähnliche Bindung sei von Anfang an auf mehrere Jahre, zumindest bis zum Abitur seiner beiden Geschwister, angelegt gewesen. Für seine Schwester, die derzeit eine integrierte Gesamtschule besuche, seien hierfür noch mindestens vier Jahre erforderlich und für seinen Bruder, der derzeit eine Realschule besuche, wahrscheinlich noch mehr.
Auch könnten seine Eltern auf lange Sicht nicht in die Bundesrepublik einreisen. Jedenfalls sei aufgrund langer Bearbeitungszeiten sowohl für die Asylanträge seiner minderjährigen Geschwister als auch für die daran anschließende Familienzusammenführung von einer Dauer von mehr als zwei Jahren auszugehen. Zudem sei derzeit auch aus politischen Gründen nicht absehbar, ob derartige Familienzusammenführungen zukünftig eingeschränkt oder verzögert werden.
Ein Obhuts- und Betreuungsverhältnis zwischen den leiblichen Eltern und seinen minderjährigen Geschwistern sei auch schon aufgrund der räumlichen Trennung und der fehlenden Möglichkeit der persönlichen Kontaktaufnahme nicht mehr existent. Er sei seit dem Zuzug seiner minderjährigen Geschwister deren einzige Bezugsperson und träfe insoweit auch alle wichtigen Entscheidungen. Auch führe er den gemeinsamen Haushalt im Wesentlichen alleine. Seine minderjährigen Geschwister hätten zwar gelegentlichen telefonischen Kontakt zu ihren leiblichen Eltern, diese seien aber gar nicht in der Lage, die Lebenssituation ihrer Kinder in Deutschland zu beurteilen und könnten sich insoweit auch gar nicht mehr in diese einfühlen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 4. Dezember 2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29. April 2016 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger das beantragte Kindergeld für die beiden Kinder A und B zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung trägt sie in Ergänzung ihrer Einspruchsentscheidung vor, ein Pflegekindschaftsverhältnis läge auch schon wegen dem Fortbestehen des Obhuts- und Betreuungsverhältnis zu den leiblichen Eltern nicht vor, da nicht davon auszugehen sei, dass das Band zwischen dem Kind und den leiblichen Eltern in einem über die räumliche Trennung hinausgehenden Maß zerrissen ist, wenn doch beabsichtigt sei die Eltern im Rahmen des geplanten Familiennachzugs nachzuholen.
Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 28. September 2016 den Kläger eingehend befragt und B als Zeugen vernommen. Hinsichtlich des Beweisthemas und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung sowie die Gerichtsakte verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie der Kindergeldakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
I. Die Klage ist zulässig.
Das Klagebegehren des Klägers ist dahingehend auszulegen, dass er mit seiner Klage die Gewährung von Kindergeld für den Zeitraum von September 2015 bis Mai 2016 begehrt.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes kann das Finanzgericht den Anspruch auf Kindergeld grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand einer Inhaltskontrolle machen, in dem die Beklagte den Kindergeldanspruch geregelt hat. Eine gerichtliche Entscheidung kann demnach längstens einen Zeitraum umfassen, der eine Regelung bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung enthält (BFH-Urteile vom 27. September 2012 III R 70/11, BStBl. II 2013, 544 und vom 22. Dezember 2011 III R 41/07, BStBl. II 2012, 681). Würde ein Kläger mit seiner Klage über diesen Zeitraum hinaus Kindergeld begehren, wäre die Klage insoweit unzulässig. Sofern er aber nicht ausdrücklich etwas Abweichendes beantragt, entspricht es regelmäßig dem recht verstandenen Interesse des Klägers, dass er eine Kindergeldregelung für den Zeitraum ab Antragsstellung zur Kindergeldfestsetzung bis längstens zum Ende des Monats der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung begehrt (BFH-Urteil vom 27. September 2012 III R 70/11, a.a.O.).
Im Streitfall hat die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 29. April 2016 den Einspruch des Klägers als unbegründet zurückgewiesen. Da diese mit einfachem Brief bekannt gegeben wurde, wurde sie am 2. Mai 2016 wirksam (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO). Die Beklagte hat damit längstens bis Mai 2016 eine abschließende Entscheidung getroffen, die im gerichtlichen Verfahren einer Überprüfung unterzogen werden konnte.
II. Die Klage hat auch in der Sache Erfolg.
Der Ablehnungsbescheid vom 4. Dezember 2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29. April 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Klägern in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Bewilligung von Kindergeld für seine Geschwister A und B als Pflegekinder für die Monate September 2015 bis Mai 2016 (§ 101 S. 1 FGO).
1. Nach § 63 Abs. 1 S. 1 EStG sind nur solche Kinder berücksichtigungsfähig, die die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 EStG erfüllen. Nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG gehören dazu auch Pflegekinder. Dabei handelt es sich nach Legaldefinition des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG um Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinem Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht (BFH-Urteil vom 9. Februar 2012 III R 15/09, BStBl. II 2012, 739). Ein Pflegekindschaftsverhältnis kann grundsätzlich auch zwischen Geschwistern bestehen (BFH-Urteil vom 4. August 1977 VI R 187/74, BStBl. II 1977, 832).
Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben.
a) A und B sind seit dem 16. September 2015 in den Haushalt des Klägers in Y aufgenommen worden und werden seit diesem Zeitpunkt von dem Kläger versorgt. Die Haushaltsaufnahme ist auch nicht zu Erwerbszwecken erfolgt. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
b) A und B sind mit dem Kläger auch durch ein familienähnliches Band verbunden.
aa) Ein familienähnliches Band liegt vor, wenn das Kind wie zur Familie angehörig angesehen und behandelt wird. Dies setzt voraus, dass zwischen dem Kläger und seinen minderjährigen Geschwistern ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis wie zwischen Eltern und leiblichen Kindern besteht, das seine Grundlage in einer ideellen Dauerbindung finden muss (BFH-Urteile vom 9. Februar 2012 III R 15/09, BStBl. II 2012, 739 und vom 5. Oktober 2004 VIII R 69/02, BFH/NV 2005, 524). Insoweit ist ein besonders enges Band erforderlich, da das Gesetz Pflegekinder in eine Reihe mit leiblichen Kindern, Adoptivkindern, Stief- und Enkelkindern stellt und das Pflegekindschaftsverhältnis bis zur Vollendung des 25. Lebensjahr (und ggf. sogar noch darüber hinaus) wirkt und weiterhin zur Gewährung von Kindergeld führen kann (BFH-Urteil vom 9. Februar 2012 III R 15/09, a.a.O.). Dabei ist aber nicht allein auf die äußeren Lebensumstände, sondern auch darauf abzustellen, ob das Pflegekind in der Familie eine natürliche Einheit von Versorgung, Erziehung und "Heimat" findet - also nicht nur Kostgänger ist - sondern wie zur Familie gehörig angesehen und behandelt wird. Aus der Parallele zum Eltern-Kind-Verhältnis ergibt sich zudem, dass auch zwischen Pflegeeltern und Pflegekind ein Autoritätsverhältnis bestehen muss, aufgrund dessen sich das Pflegekind der Aufsichts-, Erziehungs- und Betreuungsmacht der Pflegeeltern unterwirft (BFH-Urteil vom 9. Februar 2012 III R 15/09, a.a.O.). Die Pflegeeltern müssen daher sämtliche wesentlichen Entscheidungen für das Kind treffen und für das Kind zu den maßgeblichen Ansprechpartnern und damit zu Ersatzeltern geworden sein (BFH-Urteil vom 7. September 1995 III R 95/93, BStBl. II 1996, 63).
bb) Nach dem Ergebnis der Anhörung des Klägers und der Beweisaufnahme besteht zur Überzeugung des Senats zwischen dem Kläger und seinen minderjährigen Geschwistern eine familienähnliche Beziehung wie zwischen leiblichen Eltern und einem eigenen Kind.
Der Kläger widmet sich umfassend der Beaufsichtigung, Betreuung und Erziehung seiner beiden minderjährigen Geschwister. Er trifft die wesentlichen Entscheidungen und ist deren maßgeblicher Ansprechpartner. Der Zeuge B hat glaubhaft dargelegt, dass der Kläger nicht nur in schulischen Angelegenheiten aufgrund des Vormundschaftsverhältnisses die notwendigen Entscheidungen trifft, sondern darüber hinaus auch die Integration der minderjährigen Geschwister in die deutsche Gesellschaft fördert sowie auch in das täglichen Leben der minderjährigen Geschwister durch "Verbote und Weisungen" eingreift. Daneben holen aber auch die minderjährigen Geschwister die Erlaubnis des Klägers bezüglich außerhäuslicher Aktivitäten ein. Damit hat zur Überzeugung des Senats der Kläger eine Ersatzelternfunktion eingenommen.
Eine solche Beziehung dürfte üblicherweise zwar erst "mit der Zeit" wachsen und nicht vom ersten Tag der Haushaltsaufnahme vorhanden sein. Auch mag ein solches familienähnliches Band bei der Aufnahme eines Kindes im Alter von 16 Jahren (B) wegen dessen Entwicklungsstandes für gewöhnlich nicht mehr entstehen können. Im Streitfall muss aber berücksichtigt werden, dass die minderjährigen Geschwister sich ohne eine andere Bezugsperson als dem Kläger in einem für sie vollkommen fremden Kulturkreis unter der Unsicherheit des Ausgangs des Asylverfahrens völlig neu orientieren müssen. Hinzu kommt, dass die minderjährigen Geschwister bisher in einer durch religiöse Konflikte im Libanon und von kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten geprägten Umgebung aufgewachsen sind. In dieser persönlichen Ausnahmesituation ist die Entwicklung einer dauerhaften familienähnlichen Beziehung zum Kläger nicht nur naheliegend; sondern aufgrund des Verwandtschaftsverhältnis und dem in der mündlichen Verhandlung gewonnen Eindrucks bestehen zur Überzeugung des Senats auch schon keine Zweifel an einer engen persönlichen Bindung zwischen dem Kläger und seinen minderjährigen Geschwistern im Zeitpunkt der Haushaltsaufnahme. Demnach besteht die familienähnliche Beziehung auch bereits vom ersten Tag an.
c) Das familienähnliche Band war auch "auf längere Dauer berechnet".
aa) Das familienähnliche Band ist dann "auf längere Dauer berechnet", wenn es aus Sicht des Steuerpflichtigen für einen längeren Zeitraum bestehen bleiben soll. Erforderlich ist eine zukunftsgerichtete Absicht, das Kind für eine längere Dauer aufzunehmen. Der beabsichtige Zeitraum muss für die Begründung eines Eltern-Kind-Verhältnisses ausreichen. Es ist aber nicht erforderlich, das Verhältnis zeitlich unbegrenzt oder etwa nur bis zur Volljährigkeit der Kinder andauern lassen zu wollen. Im Regelfall ist eine beabsichtigte Dauer von zwei Jahren als ausreichend anzusehen. Es genügt aber auch, wenn nur unter gewissen Voraussetzungen mit einer vorzeitigen Beendigung des Zustandes zu rechnen ist oder die Pflegekindschaft mit einer - möglicherweise auch absehbaren - Veränderung der Lebenslage endet (zu alledem: BFH-Urteile vom 7. September 1995 III R 95/93, BStBl. II 1996, 63 und vom 9. Februar 2012 III R 15/09, BStBl. II 2012, 739).
bb) Aus der Anhörung des Klägers, dem Ergebnis der Beweisaufnahme und dem persönlichen Eindruck während der mündlichen Verhandlung, hat sich zur Überzeugung des Senats ergeben, dass der Kläger beabsichtigte seine beiden Geschwister A und B bis zur Beendigung ihrer Ausbildung in seinen Haushalt bzw. seine Familie aufzunehmen. Dieser Zeitraum dürfte nach zutreffender Einschätzung des Klägers auch bereits aufgrund des Alters seiner beiden minderjährigen Geschwister jeweils einen Zeitraum von zwei Jahren übersteigen. Soweit A bereits eine integrative Gesamtschule und auch B eine Realschule besucht, erscheint das behauptete Ausbildungsziel auch unter Berücksichtigung der für den Senat während der mündlichen Verhandlung sichtbaren Integrationsfortschritte nicht fernliegend. Anhaltspunkte dafür, dass die leiblichen Eltern ebenfalls in absehbarer Zeit nach Deutschland kommen wollen, sind nicht ersichtlich. Auch soweit der Kläger zum Vormund von A und B bestellt worden ist, übt er insoweit die familienähnliche Personensorge aus.
Keiner entscheidenden Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Umstand zu, dass eine Familienzusammenführung grundsätzlich weiterhin vom Kläger beabsichtigt ist, denn nach den glaubhaften Ausführungen des Klägers konnte dieser im Zeitpunkt der Aufnahme seiner Geschwister in seinen Haushalt nicht absehen, ob und wann es tatsächlich zu einer Familienzusammenführung würde kommen können. Das auf Dauer berechnete familienähnliche Band kann aber nicht abgelehnt werden, soweit nur unter ungewissen Voraussetzungen mit einer vorzeitigen Beendigung eben dieser zu rechnen ist. Von einer nur vorübergehenden Aufnahme kann insoweit jedenfalls schon nicht ausgegangen werden bzw. ist ausgeschlossen.
d) Im Streitzeitraum bestand zu den leiblichen Eltern auch kein Obhuts- und Pflegeverhältnis mehr.
aa) Ein steuerlich anzuerkennendes Pflegekindschaftsverhältnis liegt nur vor, wenn die Obhut und Pflege seitens der leiblichen Eltern derart zurücktritt, dass die Obhut und Pflege im Wesentlichen nur noch durch die Pflegeltern ausgeübt wird (BFH-Urteile vom 20. Juli 2006 III R 44/05, BFH/NV 2007, 17; vom 7. September 1995 III R 95/93, BStBl. II 1996, 63 und vom 20. Januar 1995 III R 14/94, BStBl. II 1995, 582).
Wann die Pflegeeltern gegenüber dem Kind gleichsam an die Stelle der leiblichen Eltern treten, weil das Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu den leiblichen Eltern abgerissen ist, lässt sich nicht einheitlich für alle Fälle, sondern nur für jeden Einzelfall beurteilen (BFH-Urteile vom 7. September 1995 III R 95/93, a.a.O. und vom 20. Januar 1995 III R 14/94, a.a.O.). Entscheidende Kriterien sind das Alter des Kindes, die Anzahl und Dauer der Besuche der leiblichen Eltern bei dem Kind und ob und inwieweit vor der Trennung bereits ein Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu den leiblichen Eltern bestanden hat. Die Gewichtung der Kriterien kann je nach Lage des Falls unterschiedlich sein. Es können auch andere Umstände eine Rolle spielen (BFH-Urteile vom 7. September 1995 III R 95/93, a.a.O. und vom 20. Januar 1995 III R 14/94, a.a.O.).
Das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern wird aber nicht schon durch die vorübergehende Abwesenheit der Eltern unterbrochen. Wenn sich die Eltern zum Beispiel wegen einer schweren Erkrankung oder wegen beruflicher Abwesenheit vorübergehend nicht um das Kind kümmern können, kann noch nicht davon ausgegangen werden, dass das Obhuts- und Pflegeverhältnis nicht mehr besteht. Deshalb wohnt dem Tatbestandsmerkmal des "Nichtbestehens eines Obhuts- und Pflegeverhältnisses zwischen den leiblichen Eltern und dem Kind" ein Zeitmoment inne (BFH-Urteile vom 31. August 2006 III B 46/06, BFH/NV 2007, 25 und vom 20. Januar 1995 III R 14/94, BStBl. II 1995, 582). In diesen Fällen geht der Bundesfinanzhof deshalb bei noch nicht schulpflichtigen Kindern im Regelfall davon aus, dass kein bestehendes Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu den leiblichen Eltern mehr anzunehmen ist, wenn zwischen den leiblichen Eltern und dem Kind mindestens ein Jahr lang keine für die Wahrung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses ausreichende Kontakte bestehen (BFH-Urteile vom 20. Januar 1995 III R 14/94, a.a.O.; vom 7. September 1995 III R 95/93, BStBl. II 1996, 63; vom 31. August 2006 III B 46/06, BFH/NV 2007, 25 und BFH-Beschluss vom 25. April 2012 III B 176/11, BFH/NV 2012, 1304). Bei schulpflichtigen Kindern wird ein größerer Zeitraum von etwa zwei Jahren erforderlich sein, um einen Abbruch des Obhuts- und Pflegeverhältnisses anzunehmen (BFH-Urteile vom 20. Januar 1995 III R 14/94, a.a.O.; vom 7. September 1995 III R 95/93, a.a.O.; vom 31. August 2006 III B 46/06, a.a.O. und BFH-Beschluss vom 25. April 2012 III B 176/11, a.a.O.). Bei noch älteren Kindern hat die Rechtsprechung keinen festen Zeitraum genannt (BFH-Urteil vom 20. Januar 1995 III R 14/94, a.a.O.).
bb) Nach Würdigung der Gesamtumstände ist der Senat der Auffassung, dass A und B zu ihren leiblichen Eltern seit der Haushaltsaufnahme beim Kläger keinen derartigen Kontakt mehr hatten, der es rechtfertigen könnte, noch von einem Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern auszugehen.
Nach den übereinstimmenden Ausführungen des Klägers als auch des Zeugen B in der mündlichen Verhandlung ist der Kontakt zu den leiblichen Eltern auf gelegentliche telefonische Kontakte im Umfang von bis zu 3x/Monat beschränkt. Solche Kontakte können aber schon nicht mehr Ausfluss eines von Obhut und Pflege geprägten Verhältnisses sein. Das Obhuts- und Pflegeverhältnis im Sinne des § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG ist ein Mehr gegenüber bloßen Kontakten; die Begriffe Pflege und Obhut verlangen von Eltern ein aktives Tun zugunsten des Kindes, welches über das bloße Kontakthalten hinausgeht (so auch Urteil des Niedersächsischen Finanzgericht vom 11. Juni 2013 13 K 30/13, EFG 2013, 1859 und dem folgend FG Münster vom 8. Januar 2015 14 K 1703/13 Kg, ). Die sporadischen telefonischen Kontakt der Eltern zu A und B sind insoweit nicht geeignet ihnen die Geborgenheit eines Zuhause zu gewähren (keine Obhut) und ohne sich in irgendeiner Form um die Kindesentwicklung zu bemühen (keine Pflege).
Auch aufgrund des derzeitigen Aufenthalts der leiblichen Eltern im Libanon ist eine irgendwie geartete Obhut oder Pflege der leiblichen Eltern schon nicht ersichtlich. Die leiblichen Eltern sind rein faktisch nicht in der Lage, wesentliche fürsorgende Aktivitäten zu entwickeln, um auf eine positive Entwicklung von A und B in der Zukunft hinzuwirken. Dies obliegt seit ihrem Zuzug in die Bundesrepublik dem Kläger.
cc) Auch das vom BFH angesprochene Zeitmoment steht dem nicht entgegen, da besondere Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, bereits bei einem kürzeren Zeitraum als zwei Jahre von einem Abbruch des Obhuts- und Pflegeverhältnisses zu den leiblichen Eltern zu sprechen (so auch im Ergebnis die Entscheidungen des FG Münster vom 8. Januar 2014 14 K 1703/13 Kg, ; FG Münster vom 25. Oktober 2011 7 K 2736/09, EFG 2012, 851; FG Köln vom 19. September 2002 10 K 4861/01, EFG 2003, 171 und FG Münster vom 26. Oktober 2001 11 K 6850/00 Kg, EFG 2002, 150).
A und B lebten bis zur Aufnahme in den Haushalt des Klägers in einem Obhuts- und Pflegeverhältnis zu ihren leiblichen Eltern. Dieses Obhuts- und Pflegeverhältnis wurde im Streitfall aber mit Aufnahme in den Haushalt des Klägers im September 2015 beendet. Wie die Beweisaufnahme ergeben hat, war/ist auch eine langfristige bzw. eine länger als zwei Jahre dauernde Aufnahme beim Kläger geplant. Es bestanden seit der Haushaltsaufnahme und zumindest auch bis zur mündlichen Verhandlung keine für die Wahrung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses ausreichende Kontakte mehr zu den leiblichen Eltern. Der Senat hält daher bereits diesen Zeitraum unter Berücksichtigung der persönlichen Ausnahmesituation der minderjährigen Geschwister für ausreichend, um einerseits einen Abbruch des Obhuts- und Pflegeverhältnisses zwischen den beiden minderjährigen Geschwistern und ihren leiblichen Eltern anzunehmen und andererseits ein familienähnliches Band zum Kläger zu begründen bzw. aufgrund des Verwandtschaftsverhältnisses sowie der damit einhergehenden emotionalen und ideellen Bindung zu vertiefen.
2. Die übrigen für die Gewährung von Kindergeld erforderlichen Voraussetzungen liegen ebenfalls vor, insbesondere ist der Kläger wegen seiner zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigenden Aufenthaltserlaubnis im Streitzeitraum auch Kindergeld-Anspruchsberechtigter nach § 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2 EStG.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 3 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
IV. Die Revision wird wegen der nicht unerheblichen Anzahl von ähnlich gelagerten Fällen bei den Familienkassen im Zusammenhang mit sog. unbegleitet minderjährigen (Kontingent-)Flüchtlingen zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).