Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 21.04.2020, Az.: 2 A 917/17
Ehrenmord; Flüchtlingsschutz; Irak; Subsidiärer Schutz
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 21.04.2020
- Aktenzeichen
- 2 A 917/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2020, 71491
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs 1 Nr 1 AsylVfG 1992
- § 3b Abs 1 Nr 4 AsylVfG 1992
Tatbestand:
Die Klägerin ist irakische Staatsangehörige schiitischer Religionszugehörigkeit. Sie lebte vor ihrer Ausreise zuletzt mit ihren Eltern, ihrem Bruder und ihrer Schwester in Kerbala. Am 7. September 2015 reiste die Klägerin alleinstehend aus dem Irak aus und am 20. Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte sie förmlich am 2. August 2016 einen Asylantrag. Zu dessen Gründen wurde sie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 20. Juli 2017 angehört. Zur Begründung ihres Antrags gab die Klägerin im Wesentlichen an, ihre Heimat deshalb verlassen zu haben, weil ihr Vater sie verstoßen und mit dem Tod bedroht habe. Sie habe Ende 2012/Anfang 2013 an der Universität einen jungen Mann kennengelernt. Sie hätten sich ineinander verliebt. Der junge Mann sei zu ihnen nach Hause gekommen und habe um ihre Hand angehalten. Dieser Antrag sei abgelehnt worden. Es sei bei ihnen üblich, dass man innerhalb der Familie heiratet. Ihre Mutter habe sie dabei erwischt, als sie mit ihrem Freund telefoniert habe. Deswegen habe sie mit ihrer Mutter und ihrer Familie Probleme bekommen. Ihr Freund habe sie überzeugt, dennoch zu heiraten; man würde es der Familie zur richtigen Zeit mitteilen und ihr Vater hätte dann keine andere Möglichkeit mehr als „ja“ zu sagen. Sie hätten dann bei einem Scheich heimlich religiös geheiratet. Dies sei geschehen, nachdem ihre Mutter ihr gesagt habe, sie müsse ihren Cousin heiraten. Nach ihrer Heirat habe sie mit ihrem Mann auch geschlafen. Nachdem ihre Mutter ihr ihr Handy abgenommen habe, habe ihr Mann ihr ein neues gekauft, um miteinander telefonieren zu können. Ihre Eltern hätten ihr untersagt nach den Semesterferien erneut zur Universität zu gehen. Sie habe daraufhin ihren Freund angerufen und ihn gebeten noch einmal um ihre Hand anzuhalten. Das Verhalten ihres Freundes habe sich danach verändert. Er sei anders geworden. Danach habe sie ihn nicht mehr gesehen. Er sei verschwunden. Er sei nicht auffindbar gewesen. Sie habe dann ihrer Mutter erzählt, dass sie schon verheiratet sei und keinen anderen Mann heiraten könne. Ihre Mutter sei dann bewusstlos geworden. Ihrem Vater habe die Mutter das anschließend alles erzählt. Daraufhin habe ihr Vater sie geschlagen und ihre Mutter sei krank geworden. Ihr Vater habe zu ihr gesagt, dass die Familie sie nicht mehr haben wolle. Er habe sie auch mit dem Tode bedroht. Daraufhin sei sie mit ihrem eigenen und dem Gold ihrer Mutter zu einer Freundin gegangen. Diese habe für sie die Ausreise organisiert.
Mit Bescheid vom 26. Oktober 2017 lehnte es die Beklagte ab, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Auch den Asylantrag lehnte sie ab. Gleichzeitig stellte sie fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen und forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss ihres Asylverfahrens zu verlassen, wobei sie für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung in den Irak androhte. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete sie auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen an, der Vortrag der Klägerin sei unglaubhaft, weil detailarm, vage und oberflächlich.
Hiergegen hat die Klägerin am 2. November 2017 Klage erhoben.
Zu deren Begründung wiederholt und vertieft sie ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 1, 3 bis 6 ihres Bescheides vom 26. Oktober 2017 zu verpflichten,
der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise,
ihr den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
weiter hilfsweise,
festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt, dem klägerischen Vorbringen in der Sache entgegentretend,
die Klage abzuweisen.
Die Klägerin ist in mündlicher Verhandlung informatorisch zu ihren Asylgründen angehört worden. Wegen der Einzelheiten ihrer Aussagen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die Ausländerakten des Landkreises Göttingen Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen, wie die aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Liste ersichtlichen Erkenntnismittel.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Das Gericht hat nach Bewertung des Inhalts der Anhörung der Klägerin beim Bundesamt und nach dem in der mündlichen Verhandlung erhaltenen Eindruck die Überzeugung gewonnen, dass die Klägerin Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne von § 4 AsylG, Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden: QRL) haben. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 26.10.2017 ist rechtswidrig, soweit er dem entgegensteht, und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1 VwGO). Soweit die Klägerin dagegen mit ihrem Hauptantrag die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG, Art. 9, 10 QRL) begehrt, hat ihre Klage keinen Erfolg.
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560; sog. Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG, Art. 6 QRL ausgehen vom Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten.
Die Klägerin war vor ihrer Ausreise zwar von Verfolgung durch ihre Familie, insbesondere ihren Vater und dessen Brüder bedroht und wird dies im Falle einer Rückkehr in den Irak auch wieder sein; aus Rechtsgründen scheidet die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft indes aus.
Die Klägerin hat bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, ihr Vater habe sie wegen einer Eheschließung ohne Einverständnis der Familie und wegen eines nach dieser Eheschließung stattgehabten Geschlechtsverkehrs mit dem der Familie nicht genehmen Ehemann, schwer misshandelt und ihr mit dem Tode gedroht, wobei er sie als Schande für die Familie bezeichnet habe. Anders als die Beklagte, hat das Gericht bei der Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass die Klägerin ein wahres Verfolgungsschicksal beschrieben hat. Sie war bei der Schilderung der Ereignisse ersichtlich emotional sehr angespannt, ohne aber in ihren Emotionen mit dem Ziel der Prozessbeeinflussung zu übertreiben. Der Einzelrichter hatte vielmehr den Eindruck, dass die Klägerin nach wie vor unter dem Eindruck des tatsächlich erlebten Verlustes ihres geliebten Ehemannes einerseits und dem Bruch mit ihrer Familie andererseits gestanden hat. Sie konnte bei ihrer Befragung die von der Beklagten in ihrem Bescheid vom 26. Oktober 2017 aufgezeigten Widersprüche auflösen und ein schlüssiges und kongruentes Verfolgungsgeschehen nachvollziehbar vortragen.
Soweit es um das Handanhalten für die Klägerin geht, kann ein Widerspruch nicht darin gesehen werden, dass die Klägerin bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einerseits angegeben hat, ihr Mann habe um ihre Hand angehalten und andererseits vorgetragen hat, die Mutter ihres Mannes habe dies getan. Hierin ist ein Widerspruch deshalb nicht zu sehen, weil die Mutter, was die Klägerin in mündlicher Verhandlung als im Irak üblich, bekräftigt hat, im Namen ihres Sohnes um die Hand der Klägerin angehalten hat.
Soweit es um die Frage geht, welches Telefon die Klägerin benutzt hat, um ihrem Mann in Kontakt zu bleiben, hat sie in mündlicher Verhandlung nachvollziehbar darlegen können, dass sie zunächst ein Handy benutzt hat, das ihr ihr Mann geschenkt hatte. Dieses habe die Mutter eingezogen, nachdem sie es entdeckt hatte. Anschließend habe sie, die Klägerin, gelegentlich das Handy der Mutter benutzt. Diese Schilderung ist zeitlich und inhaltlich kongruent und gibt keinen Anlass an der Glaubwürdigkeit der Klägerin zu zweifeln. Auch an der Eheschließung der Klägerin zweifelt das Gericht nicht. Die Klägerin hat das genaue Datum (überzeugend trotz Widerspruchs zu dem im Anhörungsprotokoll verzeichneten Datums) und Einzelheiten der Zeremonie ebenso beschrieben, wie den Verbleib der Heiratsurkunde bei ihrem Mann und den Grund hierfür (Angst vor den eigenen Eltern). Dass die Eheschließung unwirksam gewesen ist, wie die Beklagte ausführt, kann das Gericht nach den ihm vorliegenden Erkenntnismitteln nicht nachvollziehen; die Beklagte hat ihre Auffassung auch nicht näher belegt. Doch selbst wenn dem so sein sollte, war doch die Klägerin selbst überzeugt davon, verheiratet zu sein und war sie mit ihrem Ehemann wie Mann und Frau auch zusammen. Diesen Umstand hat sie schließlich als sie mit einem ihrer Cousins verheiratet werden sollte, auch ihrem Vater erzählt, woraufhin er den Bann über sie geworfen hat. Es ist für das Verfolgungsschicksal unerheblich, ob die Klägerin ohne Einverständnis ihrer Familie geheiratet hat und mit ihrem Mann Geschlechtsverkehr hatte oder ob sie, mit ihm zusammen war, ohne verheiratet gewesen zu sein. Auch der Umstand, dass die Klägerin einerseits vorgetragen hat, sie sollte mit ihrem Cousin väterlicherseits verheiratet werden, andererseits dies der Cousin mütterlicherseits gewesen sein sollte, hat sich in der mündlichen Verhandlung aufgeklärt. Denn die Klägerin hat überzeugend darlegen können, dass sie von ihren Eltern vor die Wahl gestellt worden sei, entweder den einen oder den anderen Cousin zu heiraten. Schließlich hat die Klägerin auch sachlich und ohne zu übertreiben darzulegen vermocht, dass sie mit ein wenig Bargeld, wohl aber mit ihrem und dem Schmuck ihrer Mutter die Flucht ergriffen hat, wobei ihr eine gute Freundin behilflich gewesen sei. Anlass, an dieser Darstellung zu zweifeln, hat das Gericht nicht.
Bei ihrer Anhörung in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin zudem detailreich und nachvollziehbar darlegen können, dass nach ihrer Flucht mittlerweile auch der Clan, dem ihre Familie angehöre, die Familie wegen der durch sie, die Klägerin, verursachte Familienschande, ausgeschlossen und die Klägerin zum Zwecke der Wiederherstellung der Familienehre zur Tötung “freigegeben“ habe. Dies rundet das Bild einer drohenden Verfolgung durch Familienmitglieder infolge eines Verstoßes gegen den familiären Ehrenkodex ab. Die glaubhaften Schilderungen der Klägerin stehen in Übereinstimmung mit den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln.
So führt der UNHCR (05.2019, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, S. 107) aus, dass Gewalttaten im Namen der Familien- oder Stammesehre sehr verbreitet seien und die Täter häufig straffrei blieben oder mildere Strafen bekämen. Die meisten Fälle würden jedoch gar nicht geahndet werden, weil sie zu einer Stigmatisierung führten und es die gesellschaftliche Auffassung gebe, dass es sich um eine Familienangelegenheit handele (a.a.O. S. 99 f.). Das Österreichische Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen (Länderinfo der Staatendokumentation Irak Stand: 09. April 2019) schreibt, dass Ehrenmorde ein ernstes Problem im ganzen Land blieben. Sie würden u.a. bei vorehelichen Beziehungen zu einem Mann oder bei der Weigerung einen vorbestimmten Mann zu heiraten, stattfinden. Die Praxis sei in allen Gegenden Iraks und in allen religiösen und ethnischen Gruppen zu finden. Es gebe eine Begrenzung der Strafe für die Täter auf drei Jahre. In der Regel werde aber erst gar keine Anzeige erstattet und eine Verfolgung der Täter finde nicht statt. Komme es doch zu Gerichtsverfahren, endeten diese mit Freispruch oder einer milden Strafe (a.a.O. S. 83 f.). Die Dänische Einwanderungsbehörde (Danish Immigration Service von November 2018, S. 14 f.) schreibt, wer außerehelichen Sex habe oder unerlaubt heirate riskiere Ermordung. Staatliche Gesetze gegen diese Praxis existierten zwar, sein aber in der Realität nicht umgesetzt. Schließlich notiert das Deutsche Orientinstitut in seiner Stellungnahme vom 03. Mai 2017 an das VG Stuttgart, dass im Irak ein ausgeprägtes Ehrverständnis bezüglich der Familie und des eigenen Clans herrsche, von dem besonders weibliche Familienmitglieder betroffen seien. Bei Verstößen komme es oftmals zu körperlichen Bestrafungen bis hin zu Ehrenmorden.
Der der Klägerin drohende Ehrenmord stellt indes keine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe dar.
Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG).
Die inhaltliche Begriffsbestimmung der bestimmten sozialen Gruppe, also des geschützten Status, erfolgt danach anhand von drei geschützten – internen – Merkmalen, den angeborenen, unveränderbaren sowie den Merkmalen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Verzicht hierauf nicht verlangt werden kann.
Das externe Merkmal nach § 3 b Abs. 1 Nr. 4 b) AsylG verlangt, dass die betreffende Gruppe als solche innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft bestimmbar sein und eine fest umrissene Identität aufweisen muss. Es ist zu ermitteln, ob die Gruppe aufgrund ihres internen Merkmals von der sie umgebenden Gesellschaft deutlich abgegrenzt ist (vgl. Marx, AsylG, 10. Aufl. § 3 b Rn. 19 und 21).
Die Eigenschaft als Frau führt nach Auffassung des Gerichts nicht dazu, dass eine Person von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet wird und insoweit einer Gruppe mit abgrenzbarer Identität angehört. Frauen, die auch im Irak einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausmachen, werden dort nicht als „gesellschaftlicher Fremdkörper“ (vgl. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 3b AsylG Rn. 2) eingestuft. Dass Frauen, die Opfer von familiärer Gewalt wurden, als abgrenzbare Gruppe anzusehen sind, kann das Gericht ebenfalls nicht feststellen (ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 19.07.2019 -A 10 K 15283/17-, juris, Rn. 27). Dagegen sprechen insbesondere gesetzessystematische Gründe, weil ansonsten die Verfolgungshandlung und der Verfolgungsgrund in unzulässiger Weise miteinander vermischt würden (so bereits Urteile der Kammer vom 10.12.2018 - 2 A 846/17 -, juris Rn. 25; vom 13.02.2020 -919/17-). Zwar wird die unmittelbare Familie, von der die Bedrohung ausgeht, die betroffenen Frauen regelmäßig als andersartig betrachten. Ob dies auch für die die Frauen umgebende Gesellschaft gilt, lässt sich aber allenfalls im Einzelfall feststellen und ist nicht verallgemeinerungsfähig. In aller Regel wird der Umstand, dass vorehelicher Sex stattgefunden hat oder sich jemand dem elterlichen Heiratswunsch widersetzt hat, Thema im engeren Familienkreis bleiben. Das Gericht vermag deshalb nicht der Ansicht von Marx zu folgen, der bei Ehrenmorden die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für gegeben erachtet (a.a.O. Rn. 53). Diese Auffassung vernachlässigt das externe Tatbestandsmerkmal des § 3 b Abs. 4 b).
Selbst wenn man das Vorliegen der Anforderungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 b) AsylG für eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG nicht für erforderlich halten sollte (so Marx, a.a.O. Rn. 33), ist für die Annahme einer an das Geschlecht anknüpfenden Verfolgung in den Fällen häuslicher Gewalt oder, wie hier, in Fällen von Ehrenmorden, dennoch erforderlich, dass die Art und Weise der Gewaltausübung spezifisch auf den „Genderstatus“ der Frau gerichtet ist und der staatliche Schutz systematisch wegen dieser „Genderfaktoren“ versagt wird. Der entscheidende Umstand, der von häuslicher Gewalt betroffene Frauen von den Frauen innerhalb einer Gesellschaft insgesamt abgrenzt, ist die evidente Tatsache institutionalisierter Diskriminierung von Frauen durch Polizei, Gerichte und das gesamte Rechtssystem eines Staates (Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 3b Rn. 33 und 27 m.w.N.; s. a. VG Köln, Urteil vom 12.07.2018 - 8 K 15907/17.A -, juris, Rn. 39 ff. m.w.N.: politische Dimension der Verfolgung erforderlich). Obwohl Ehrenmorde in der irakischen Gesellschaft verbreitet und ein ernstzunehmendes Problem sind (vgl. die o.a. Stellungnahmen), bestehen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen keine Anhaltspunkte für eine institutionalisierte Steuerung oder auch nur Tolerierung solcher Gewalt durch staatliche Stellen gerade deshalb, weil die Betroffenen Frauen sind. Gesetze gegen Ehrenmorde sind vorhanden, sie kommen mangels Anklagen jedoch nur selten zum Tragen und führen, wenn doch, zu nur geringen Strafen für die Täter.
Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG, sodass ihr erster Hilfsantrag Erfolg hat. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Gemäß § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend.
Bei der Prüfung des subsidiären Schutzes ist - wie auch bei derjenigen des Flüchtlingsschutzes - der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Die Furcht vor dem Eintritt eines ernsthaften Schadens ist begründet, wenn dem Ausländer ein solcher Schaden aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, juris Rn. 19, 32). Für die Prognose gilt ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vor seiner Ausreise bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder nicht. Allerdings ist nach Art. 4 Abs. 4 QRL die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung begünstigt den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorschädigung durch eine Beweiserleichterung und begründet eine tatsächliche - widerlegliche - Vermutung, dass sich ein früherer Schadenseintritt bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Der für die Gefahrenprognose maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für den Schadenseintritt sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinn einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung geboten. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor dem Eintritt eines ernsthaften Schadens hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, juris Rn. 32 m.w.N.).
Der Klägerin droht nach dem oben Gesagten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut Gewalt durch ihren Vater oder andere männliche Familienmitglieder als nichtstaatliche Akteure i. S. v. § 4 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG und sie hat deshalb eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG) und damit einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG zu befürchten. Eine Behandlung ist unmenschlich im vorgenannten Sinn, wenn sie absichtlich und über eine gewisse Dauer hinweg erfolgt und entweder eine Körperverletzung oder intensives psychisches oder physisches Leid verursacht. Als erniedrigend ist eine Behandlung anzusehen, wenn sie eine Person erniedrigt oder entwürdigt, indem sie es an Achtung für die Menschenwürde fehlen lässt oder diese angreift oder Gefühle der Angst, des Schmerzes oder der Unterlegenheit erweckt, die geeignet sind, den moralischen oder körperlichen Widerstand der Person zu brechen (vgl. Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Aufl. 2015, Art. 3 Rn. 8).
Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre die Klägerin gezwungen, im Irak zu ihrer Familie zurückzukehren, denn sie wäre als alleinstehende Frau ohne Ausbildung und familiäre Unterstützung im Irak nicht in der Lage, den Lebensunterhalt für sich zu gewährleisten (vgl. Urteil der Kammer vom 13.01.2020 -2 A 330/17-). Im Hinblick auf die von ihr glaubhaft geschilderten Vorfälle ist davon auszugehen, dass sie dadurch erneut in familiären Verhältnissen leben müsste, die von andauernder häuslicher Gewalt geprägt wäre oder sie sogar in Todesgefahr brächte. Diese Gewalt und die damit einhergehenden Verletzungen und Demütigungen würden eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung i. S. v. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG darstellen.
Nach Auswertung der o.a. Quellen ist auch nicht davon auszugehen, dass der irakische Staat der Klägerin Fall einer Strafanzeige effektiven Schutz vor einer solchen Behandlung bieten würde (vgl. §§ 3c Nr. 3, 3d AsylG). Es ist daher anzunehmen, dass die Klägerin den zu befürchtenden Übergriffen schutzlos gegenüberstehen würde.
Der Klägerin steht im Irak auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG, der nach § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG im Rahmen der Prüfung subsidiären Schutzes entsprechend gilt, wird dem Ausländer der Schutzstatus nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Aus den vorgenannten Gründen ist es der Klägerin jedoch nicht zuzumuten, sich in einem anderen Teil Iraks niederzulassen, da sie dort der Verelendung anheimfallen würden.
Weil der Klägerin somit subsidiärer Schutz i.S.v. § 4 AsylG zuzuerkennen ist, war der angefochtene Bescheid des Bundesamts aufzuheben, soweit er dem entgegensteht. Dementsprechend war neben der Ziffer 3 auch die Ziffer 4 des Bescheids aufzuheben, da die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen, regelmäßig gegenstandslos wird, wenn die Klage auf Zuerkennung subsidiären Schutzes Erfolg hat. Entsprechendes gilt für die Ausreiseaufforderung und Androhung der Abschiebung in den Irak (Ziffer 5 des Bescheids) sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG (Ziffer 6 des Bescheids). Über den hilfsweise gestellten (Verpflichtungs-)Antrag auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG war nicht mehr zu entscheiden, da die Klage bereits mit dem vorrangig gestellten Hilfsantrag erfolgreich ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 S. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.