Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 24.03.1988, Az.: 1 Ws 53/88 (StrVollz)

Ausgestaltung des strafvollzugsgesetzlichen Anspruchs eines kranken Strafgefangenen auf ärztliche Behandlung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
24.03.1988
Aktenzeichen
1 Ws 53/88 (StrVollz)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1988, 20380
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1988:0324.1WS53.88STRVOLLZ.0A

Fundstelle

  • NJW 1988, 2965 (amtl. Leitsatz)

Verfahrensgegenstand

Psychotherapeutische Behandlung

Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle hat
auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers
gegen den Beschluß der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ...
bei dem Amtsgericht ...
vom 18. Januar 1988
nach Anhörung des Präsidenten des Justizvollzugsamts
am 24. März 1988
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... sowie
die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluß, die Verfügung des Leiters der Justizvollzugsanstalt ... vom 2. Juni 1987 und der Widerspruchsbescheid des Präsidenten des Justizvollzugsamtes vom 3. Juli 1987 werden aufgehoben.

Der Leiter der Justizvollzugsanstalt ... ist verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.

Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Antragstellers fallen der Landeskasse zur Last.

Der Streitwert beträgt 300 DM.

Gründe

1

I.

Der Antragsteller verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Er will psychotherapeutisch behandelt werden, ggf. unter Verlegung in eine andere Justizvollzugsanstalt. Die Antragsgegnerin hat seinen Antrag mit Bescheid vom 2.6.1987 zurückgewiesen und zugleich eine Nachbegutachtung des Antragstellers zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelehnt. Nach erfolglosem Widerspruch hat der Antragsteller gerichtliche Entscheidung beantragt (Verpflichtungsantrag). Durch den angefochtenen Beschluß hat die Strafvollstreckungsantrag den Antrag zurückgewiesen. Die Rechtsbeschwerde des Antragstellers rügt Verletzung des sachlichen Rechts. Sie hat Erfolg.

2

II.

1.

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG zulässig, weil es geboten ist, die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung über die Vollständigkeit und Richtigkeit der Tatsachengrundlage von Ermessensentscheidungen zu ermöglichen.

3

2.

Nach §§ 56, 58 Nr. 1 StVollzG erhalten kranke Strafgefangene ärztliche Behandlung. Ihr Anspruch richtet sich allerdings regelmäßig nicht auf bestimmte Behandlungsmaßnahmen. Vielmehr ist die Anstalt ermächtigt, hierin nach ihrem Ermessen zu handeln. Inwieweit sie dieses Ermessen verwaltungsintern durch Ärzte (§ 155 Abs. 2 StVollzG) oder durch andere Bedienstete ausübt, bedarf hier keiner näheren Erörterung. Der Antragsteller, der geltend macht, behandlungsbedürftig krank zu sein, hat jedenfalls Anspruch auf einen ermessensfehlerfreien Bescheid.

4

Die Ablehnung psychotherapeutischer Behandlung des Antragstellers durch die Vollzugsbehörden ist ermessensfehlerhaft, weil sie von unrichtigen und unvollständigen Tatsachen ausgeht. Dies ergibt sich aus den in dem angefochtenen Beschluß vollständig mitgeteilten Gründen der Verfügung der Antragsgegnerin vom 2.6.1987 und des Widerspruchsbescheids. Da die Strafvollstreckungskammer diese Mängel übersehen hat, waren sowohl der angefochtene Beschluß als auch die Bescheide der Vollzugsbehörden aufzuheben (vgl. § 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG). Die Anstalt wird über das Begehren des Antragstellers erneut zu entscheiden haben (§ 115 Abs. 4 Satz 2 StVollzG).

5

Die Antragsgegnerin und der Präsident des Justizvollzugsamts stützen ihre Ablehnung auf die Annahme, der Antragsteller sei nicht krank. Die Indizien, mit denen diese Annahme begründet wird, geben indes das Gewünschte nicht her.

6

2.1

Daß das Schwurgericht mit seinem Urteil vom 16.2.1981 das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB verneint hat, kann die Oberzeugung, der Antragsteller habe bei seiner Tat an keiner psychischen Störung von Krankheitswert gelitten, nicht rechtfertigen. Die in der Hauptverhandlung vernommene Sachverständige Professor Dr. ... hatte in dem Antragsteller nämlich eine "hochabnorme Persönlichkeit" gesehen. Sie hatte eine grundlegende Persönlichkeitsfehlentwicklung festgestellt und seine Steuerungsfähigkeit für so erheblich vermindert gehalten, daß sie dem Gericht die Anwendung des § 21 StGB empfohlen hatte. Der Umstand, daß das Schwurgericht das Ausmaß der Störung für nicht so groß gehalten hat, daß die Annahme verminderter Schuldfähigkeit gerechtfertigt sei, besagt nichts über deren Vorhandensein und nichts darüber, ob sie von Krankheitswert ist und behandelt werden kann.

7

2.2

Die Vollzugsbehörden stützen ihre Ablehnung anscheinend auch darauf, daß der Antragsteller "die Gelegenheit, mit Anstaltsbediensteten und besonderen Fachkräften über seine Problematik zu sprechen", nicht wahrgenommen hat und insbesondere nicht mit dem Anstaltspsychologen gesprochen hat. Dies läßt keinen Schluß auf das Fehlen einer psychischen Störung von Krankheitswert zu. Mangelnde Bereitschaft zur Mitarbeit an der Behandlung kann erst dann als Ablehnungsgrund in Betracht kommen, wenn dem Antragsteller auf der Grundlage der Annahme, eine behandlungsbedürftige Krankheit liege vor, ein Behandlungsangebot gemacht worden wäre. Hierüber ergibt die angefochtene Entscheidung nichts.

8

Sollten die Vollzugsbehörden den hier erörterten Umstand zur Begründung der Auffassung herangezogen haben, daß der Antragsteller schuldhaft an der Erforschung seines psychischen Zustands nicht mitwirke, ist dies nicht nachvollziehbar, solange nicht auch feststeht, daß dem Antragsteller ein entsprechendes erkennbares Angebot gemacht worden ist.

9

2.3

Die Strafvollstreckungskammer setzt sich in den Gründen ihres Beschlusses weiter mit dem Vorbringen der Antragsgegnerin auseinander, "der Gesamteindruck, den die Anstalt von dem Antragsteller über mehrere Jahre gewonnen" habe, spreche gegen die geforderte Behandlung. Von einer Persönlichkeitsfehlentwicklung depressiver Grundstruktur, massiver Selbstunsicherheit u.a. Verhaltensauffälligkeiten, die auf eine Behandlungsbedürftigkeit hindeuten können, sei nichts bemerkt worden. Auch der Anstaltsarzt, ein Psychiater, und der Anstaltspsychologe hätten eine therapeutische Behandlungsbedürftigkeit verneint.

10

Hierzu läßt der angefochtene Beschluß nicht erkennen, ob diese Umstände der Ausübung des Ermessens in der Verfügung vom 2.7.1987 und im Widerspruchsbescheid zugrunde gelegen haben oder nicht, zumal die Vollzugsentscheidungen erwähnen, daß der Antragsteller nicht mit dem Anstaltspsychologen spreche. Nachträglich herangezogene Tatsachen können eine Ermessensentscheidung, die bei ihrem Erlaß fehlerhaft war, nicht rechtfertigen (vgl. AK StVollzG - Volckart/Schmidt, § 115 Rdnr. 32).

11

Aber auch abgesehen hiervon erlauben diese Gründe keinen zulässigen Schluß darauf, der Antragsteller sei nicht krank und nicht behandlungsbedürftig. Auf nachprüfbaren Tatsachen beruhende sachkundige Erwägungen, inwieweit die Persönlichkeit des Antragstellers sich während des Vollzuges günstig verändert hat, sind nicht vorgebracht worden. Bloße Beobachtungen des Antragstellers im Vollzugsalltag durch nicht genügend sachverständige Anstaltsbedienstete reichen nicht aus. Für die Einschätzung des Antragstellers durch den Anstaltspsychiater und den Anstaltspsychologen als nicht therapiebedürftig fehlt es an der Mitteilung der erforderlichen Anknüpfungstatsachen. Dafür, daß beide etwa den Antragsteller sachverständig mit einem Aufwand begutachtet hätten, der mit dem von der Sachverständigen im Erkenntnisverfahren entfalteten vergleichbar ist, geben die Feststellungen ebensowenig her wie dafür, daß etwa der Antragsteller eine vorgesehene Begutachtung durch Verweigerung der Mitarbeit verhindert hat.

12

3.

Angesichts der besonders gründlichen Erforschung des psychischen Hintergrundes der Tat im Erkenntnisverfahren wird die Antragsgegnerin über die gewünschte psychotherapeutische Behandlung nicht befinden können, ehe ein neues diagnostisches Gutachten vorliegt. Da sie ohnehin ein kriminalprognostisches Gutachten einzuholen beabsichtigt (wenn auch nach dem derzeitigen Stand der Planung erst zu einem späteren Zeitpunkt) wird zu erwägen sein, ob beide Begutachtungen unter Vorverlegung der Kriminalprognose miteinander verbunden werden können.

13

4.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 124 StVollzG i.V.m. § 467 StPO. Der Streitwert ist nach §§ 48 a, 13 GKG festgesetzt worden.